Florenz seit dem XIV. Jahrhundert: Objektivität des politischen Bewusstseins — Dante als Politiker — Florenz, als Heimat der Statistik; die Villani — Die Statistik der höheren Interessen — Geldwerte im XV. Jahrhundert — Die Verfassungsformen und die Geschichtsschreiber — Das Grundübel des toskanischen Staates — Die Staatskünstler — Macchiavelli und sein Verfassungsprojekt — Siena und Genua
Die höchste politische Bewusstheit, den größten Reichtum an Entwicklungsformen findet man vereinigt in der Geschichte von Florenz, welches in diesem Sinne wohl den Namen des ersten modernen Staates der Welt verdient. Hier treibt ein ganzes Volk das, was in den Fürstenstaaten die Sache einer Familie ist. Der wunderbare florentinische Geist, scharf räsonierend und künstlerisch schaffend zugleich, gestaltet den politischen und sozialen Zustand unaufhörlich um und beschreibt und richtet ihn ebenso unaufhörlich. So wurde Florenz die Heimat der politischen Doktrinen und Theorien, der Experimente und Sprünge, aber auch mit Venedig die Heimat der Statistik und allein und vor allen Staaten der Welt die Heimat der geschichtlichen Darstellung im neueren Sinne. Der Anblick des alten Roms und die Kenntnis seiner Geschichtsschreiber kam hinzu, und Giovanni Villani gesteht, dass er beim Jubiläum des Jahres 1300 die Anregung zu seiner großen Arbeit empfangen und gleich nach der Heimkehr dieselbe begonnen habe; allein wie manche unter den 200.000 Rompilgern jenes Jahres mögen ihm an Begabung und Richtung ähnlich gewesen sein und haben doch die Geschichte ihrer Städte nicht geschrieben! Denn nicht jeder kann so trostvoll beifügen: „Rom ist im Sinken, meine Vaterstadt aber im Aufsteigen und zur Ausführung großer Dinge bereit, und darum habe ich ihre ganze Vergangenheit aufzeichnen wollen und gedenke damit fortzufahren bis auf die Gegenwart und soweit ich noch die Ereignisse erleben werde.“ Und außer dem Zeugnis von seinem Lebensgange erreichte Florenz durch seine Geschichtsschreiber noch etwas Weiteres: einen größeren Ruhm als irgendein anderer Staat von Italien.
Nicht die Geschichte dieses denkwürdigen Staates, nur einige Andeutungen über die geistige Freiheit und Objektivität, welche durch diese Geschichte in den Florentinern wach, geworden, sind hier unsere Aufgabe.
Um das Jahr 1300 beschrieb Dino Compagni die städtischen Kämpfe seiner Tage. Die politische Lage der Stadt, die: inneren Triebfedern der Parteien, die Charaktere der Führer, genug das ganze Gewebe von näheren und entfernteren Ursachen und Wirkungen sind hier so geschildert, dass man die allgemeine Superiorität des florentinischen Urteilens und Schilderns mit Händen greift. Und das größte Opfer dieser Krisen, Dante Alighieri, welch ein Politiker, gereift durch Heimat und Exil! Er hat den Hohn über das beständige Ändern und Experimentieren an der Verfassung in eherne Terzinen gegossen, welche sprichwörtlich bleiben werden, wo irgend ähnliches vorkommen will; er hat seine Heimat: mit Trotz und mit Sehnsucht angeredet, dass den Florentinern das Herz beben musste. Aber seine Gedanken dehnen sich aus über Italien und die Welt, und wenn seine Agitation für das Imperium, wie er es auffasste, nichts als ein Irrtum war, so muss man bekennen, dass das jugendliche Traumwandeln der kaum geborenen politischen Spekulation bei ihm eine poetische Größe hat. Er ist stolz, der erste zu sein, der diesen Pfad betritt, allerdings an der Hand des Aristoteles, aber in seiner Weise sehr selbständig. Sein Idealkaiser ist ein gerechter, menschenliebender, nur von Gott abhängender Oberrichter, der Erbe der römischen Weltherrschaft, welche eine vom Recht, von der Natur und von Gottes Ratschluss gebilligte war. Die Eroberung des Erdkreises sei nämlich eine rechtmäßige, ein Gottesurteil zwischen Rom und den übrigen Völkern gewesen, und Gott habe dieses Reich anerkannt, indem er unter demselben Mensch wurde und sich bei seiner Geburt der Schätzung des Kaisers Augustus, bei seinem Tode dem Gericht des Pontius Pilatus unterzog usw. Wenn wir diesen und anderen Argumenten nur schwer folgen können, so ergreift Dantes Leidenschaft immer. In seinen Briefen ist er einer der frühesten aller Publizisten, vielleicht der früheste Laie, der Tendenzschriften in Briefform auf eigene Hand ausgehen ließ. Er fing damit beizeiten an; schon nach dem Tode Beatrices erließ er ein Pamphlet über den Zustand von Florenz, „An die Großen des Erdkreises“, und auch die späteren offenen Schreiben aus der Zeit seiner Verbannung sind an lauter Kaiser, Fürsten und Kardinäle gerichtet. In diesen Briefen und in dem Buche „Von der Vulgär spräche“ kehrt unter verschiedenen Formen das mit so vielen Schmerzen bezahlte Gefühl wieder, dass der Verbannte auch außerhalb der Vaterstadt eine neue geistige Heimat finden dürfe in der Sprache und Bildung, die ihm nicht mehr genommen werden könne, und auf diesen Punkt werden wir noch einmal zurückkommen.
Den Villani, Giovanni sowohl als Matteo, verdanken wir nicht sowohl tiefe politische Betrachtungen, als vielmehr frische, praktische Urteile und die Grundlage zur Statistik von Florenz, nebst wichtigen Angaben über andere Staaten. Handel und Industrie hatten auch hier neben dem politischen Denken das staatsökonomische geweckt. Über die Geldverhältnisse im großen wusste man nirgends in der Welt so genauen Bescheid, angefangen von der päpstlichen Kurie zu Avignon, deren enormer Kassenbestand (25 Millionen Goldgulden beim Tode Johanns XXII.) nur aus so guten Quellen glaublich wird. Nur hier erhalten wir Bescheid über kolossale Anleihen, z. B. des Königs von England bei den florentinischen Häusern Bardi und Peruzzi, welche ein Guthaben von 1.365.000 Goldgulden — eigenes und Kompagniegeld — einbüßten (1338) und sich dennoch wieder erholten. Das Wichtigste aber sind die auf den Staat bezüglichen Angaben aus jener nämlichen Zeit: die Staatseinnahmen (über 300.000 Goldgulden) und Ausgaben; die Bevölkerung der Stadt (hier noch sehr unvollkommen nach dem Brotkonsum in bocche, d. h. Mäulern, berechnet auf 90.000) und die des Staates; der Überschuss von 300 — 500 männlichen Geburten unter den 5.800 — 6.000 alljährlichen Täuflingen des Battistero; die Schulkinder, von welchen 8 — 10.000 lesen, 1.000 — 1.200 in sechs Schulen rechnen lernten; dazu gegen 600 Schüler, welche in vier Schulen in (lateinischer) Grammatik und Logik unterrichtet wurden. Es folgt die Statistik der Kirchen und Klöster, der Spitäler (mit mehr als 1000 Betten im ganzen); die Wollenindustrie, mit äußerst wertvollen Einzelangaben; die Münze, die Verproviantierung der Stadt, die Beamtenschaft u. a. m. Anderes erfährt man beiläufig, wie z. B. bei der Einrichtung der neuen Staatsrenten (monte) im Jahre 1353 u. f. auf den Kanzeln gepredigt wurde, von den Franziskanern dafür, von den Dominikanern und Augustinern dagegen; vollends haben in ganz Europa die ökonomischen Folgen des schwarzen Todes nirgends eine solche Beachtung und Darstellung gefunden, noch finden können wie hier. Nur ein Florentiner konnte uns überliefern: wie man erwartete, dass bei der Wenigkeit der Menschen alles wohlfeil worden sollte, und wie statt dessen Lebensbedürfnisse und Arbeitslohn auf das Doppelte stiegen; wie das gemeine Volk anfangs gar nicht mehr arbeiten, sondern nur gut leben wollte; wie zumal die Knechte und Mägde in der Stadt nur noch um sehr hohen Lohn zu haben waren; wie die Bauern nur noch das allerbeste Land bebauen mochten und das geringere liegen ließen usw.; wie dann die enormen Vermächtnisse für die Armen, die während der Pest gemacht wurden, nachher zwecklos erschienen, weil die Armen teils gestorben, teils nicht mehr arm waren. Endlich wird einmal bei Gelegenheit eines großen Vermächtnisses, da ein kinderloser Wohltäter allen Stadtbettlern je sechs Denare hinterließ, eine umfassende Bettelstatistik von Florenz versucht.
Diese statistische Betrachtung der Dinge hat sich in der Folge bei den Florentinern auf das reichste ausgebildet; das Schöne dabei ist, dass sie den Zusammenhang mit dem Geschichtlichen im höheren Sinne, mit der allgemeinen Kultur und mit der Kunst in der Regel durchblicken lassen. Eine Aufzeichnung vom Jahre 1422 berührt mit einem und demselben Federzug die 72 Wechselbuden rings um den Mercato nuovo, die Summe des Barverkehrs (2 Millionen Goldgulden), die damals neue Industrie des gesponnenen Goldes, die Seidenstoffe, den Filippo Brunellesco, der die alte Architektur wieder aus der Erde hervorgräbt, und den Lionardo Aretino, Sekretär der Republik, welcher die antike Literatur und Beredsamkeit wieder erweckt; endlich das allgemeine Wohlergehen der damals politisch ruhigen Stadt und das Glück Italiens, das sich der fremden Soldtruppen entledigt hatte. Jene oben angeführte Statistik von Venedig, die fast aus demselben Jahr stammt, offenbart freilich einen viel größeren Besitz, Erwerb und Schauplatz; Venedig beherrscht schon lange die Meere mit seinen Schiffen, während Florenz (1422) seine erste eigene Galeere (nach Alessandria) aussendet. Allein, wer erkennt nicht in der florentinischen Aufzeichnung den höheren Geist? Solche und ähnliche Notizen finden sich hier von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, und zwar schon in Übersichten geordnet, während anderwärts im besten Falle einzelne Aussagen vorhanden sind. Wir lernen das Vermögen und die Geschäfte der ersten Medici approximativ kennen; sie gaben an Almosen, öffentlichen Bauten und Steuern von 1434 bis 1471 nicht weniger als 663.755 Goldgulden aus, wovon auf Cosimo allein über 400.000 kamen, und Lorenzo magnifico freut sich, dass das Geld so gut ausgegeben sei. Nach 1478 folgt dann wieder eine höchst wichtige und in ihrer Art vollständige Übersicht des Handels und der Gewerbe der Stadt, darunter mehrere, welche halb oder ganz zur Kunst gehören; die Gold- und Silberstoffe und Damaste; die Holzschnitzerei und Marketterie (Intarsia); die Arabeskenskulptur in Marmor und Sandstein; die Porträtfiguren in Wachs; die Goldschmiede- und Juwelierkunst. Ja, das angeborene Talent der Florentiner für die Berechnung des ganzen äußeren Daseins zeigt sich auch in ihren Haus-, Geschäfts- und Landwirtschaftsbüchern, die sich wohl vor denen der übrigen Europäer des XV. Jahrhunderts um ein namhaftes auszeichnen mögen. Mit Recht hat man angefangen, ausgewählte Probleme zu publizieren; nur wird es noch vieler Studien bedürfen, um klare allgemeine Resultate daraus zu ziehen. Jedenfalls gibt sich auch hier derjenige Staat zu erkennen, wo sterbende Väter testamentarisch den Staat ersuchten, ihre Söhne um 1.000 Goldgulden zu büßen, wenn sie kein regelmäßiges Gewerbe treiben würden.
Für die erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts besitzt dann vielleicht keine Stadt der Welt eine solche Urkunde, wie die herrliche Schilderung von Florenz bei Varchi ist. Auch in der beschreibenden Statistik wie in so manchen anderen Beziehungen wird hier noch einmal ein Muster hingestellt, ehe die Freiheit und Größe dieser Stadt zu Grabe geht.
Neben dieser Berechnung des äußeren Daseins geht aber jene fortlaufende Schilderung des politischen Lebens einher, von welcher oben die Rede war. Florenz durchlebt nicht nur mehr politische Formen und Schattierungen, sondern es gibt auch unverhältnismäßig mehr Rechenschaft davon als andere freie Staaten Italiens und des Abendlandes überhaupt. Es ist der vollständigste Spiegel des Verhältnisses von Menschenklassen und einzelnen Menschen zu einem wandelbaren Allgemeinen. Die Bilder der großen bürgerlichen Demagogien in Frankreich und Flandern, wie sie Froissart entwirft, die Erzählungen unserer deutschen Chroniken des XIV. Jahrhunderts sind wahrlich bedeutungsvoll genug, allein an geistiger Vollständigkeit, an vielseitiger Begründung des Herganges sind die Florentiner allen unendlich überlegen. Adelsherrschaft, Tyrannis, Kämpfe des Mittelstandes mit dem Proletariat, volle, halbe und Scheindemokratie, Primat eines Hauses, Theokratie (mit Savonarola), bis auf jene Mischformen, welche das mediceische Gewaltfürstentum vorbereiteten, alles wird so beschrieben, dass die innersten Beweggründe der Beteiligten dem Lichte bloßliegen. Endlich fasst Macchiavelli in seinen florentinischen Geschichten (bis 1492) seine Vaterstadt vollkommen als ein lebendiges Wesen und ihren Entwicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der erste unter den Modernen, der dieses so vermocht hat. Es liegt außer unserem Bereich, zu untersuchen, ob und in welchen Punkten Macchiavelli willkürlich verfahren sein mag, wie er im Leben des Castruccio Castracane — einen von ihm eigenmächtig kolorierten Tyrannentypus — notorischerweise getan hat. Es könnte in den Storie fiorentine gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden sein und ihr hoher, ja einziger Wert im ganzen bliebe dennoch bestehen. Und seine Zeitgenossen und Fortsetzer: Jacopo Pitti, Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von erlauchten Namen! Und welche Geschichte ist es, die diese Meister schildern! Die letzten Jahrzehnte der florentinischen Republik, ein unvergesslich großes Schauspiel, sind uns hier vollständig überliefert. In dieser massenhaften Tradition über den Untergang des höchsten eigentümlichsten Lebens der damaligen Welt mag der eine nichts erkennen als eine Sammlung von Kuriositäten ersten Ranges, der andere mit teuflischer Freude den Bankrott des Edlen und Erhabenen konstatieren, ein dritter die Sache als einen großen gerichtlichen Prozess auseinanderlegen — jedenfalls wird sie ein Gegenstand nachdenklicher Betrachtung bleiben bis ans Ende der Tage. Das Grundunglück, welches die Sachlage stets von neuem trübte, war die Herrschaft von Florenz über unterworfene, ehemals mächtige Feinde, wie die Pisaner, was einen beständigen Gewaltzustand zur notwendigen Folge hatte. Das einzige, freilich sehr heroische Mittel, das nur Savonarola hätte durchführen können und auch nur mit Hilfe besonders glücklicher Umstände, wäre die rechtzeitige Auflösung Toscanas in eine Föderation freier Städte gewesen; ein Gedanke, der erst als weit verspäteter Fiebertraum einen patriotischen Lucchesen (1548) auf das Schafott bringt. Von diesem Unheil und von der unglücklichen Guelfensympathie der Florentiner für einen fremden Fürsten und der daherigen Gewöhnung an fremde Interventionen hängt alles weitere ab. Aber wer muss nicht dieses Volk bewundern, das unter der Leitung seines heiligen Mönches in einer dauernd erhöhten Stimmung das erste italienische Beispiel von Schonung der besiegten Gegner gibt, während die ganze Vorzeit ihm nichts als Rache und Vertilgung predigt! Die Glut, welche hier Patriotismus und sittlichreligiöse Umkehr in ein Ganzes schmilzt, sieht von weitem wohl bald wieder wie erloschen aus, aber ihre besten Resultate leuchten dann in jener denkwürdigen Belagerung von 1529 — 1530 wieder neu auf. Wohl waren es „Narren“, welche diesen Sturm über Florenz heraufbeschworen, wie Guicciardini damals schrieb, aber schon er gesteht zu, dass sie das unmöglich Geglaubte ausrichteten; und wenn er meint, die Weisen wären dem Unheil ausgewichen, so hat dies keinen andern Sinn, als dass sich Florenz völlig ruhmlos und lautlos in die Hände seiner Feinde hätte liefern sollen. Es hätte dann seine prächtigen Vorstädte und Gärten und das Leben und die Wohlfahrt unzähliger Bürger bewahrt und wäre dafür um eine der größten sittlichen Erinnerungen ärmer.
Die Florentiner sind in manchen großen Dingen Vorbild und frühester Ausdruck der Italiener und der modernen Europäer überhaupt, und so sind sie es auch mannigfach für die Schattenseiten. Wenn schon Dante das stets an seiner Verfassung bessernde Florenz mit einer Kranken verglich, der beständig seine Lage wechselt, um seinen Schmerzen zu entrinnen, so zeichnete er damit einen bleibenden Grundzug dieses Staatslebens. Der große moderne Irrtum, dass man eine Verfassung machen, durch Berechnung der vorhandenen Kräfte und Richtungen neu produzieren könne, taucht zu Florenz in bewegten Zeiten immer wieder auf, und auch Macchiavelli ist davon nicht frei gewesen. Es bilden sich Staatskünstler, welche durch künstliche Verlegung und Verteilung der Macht, durch höchst filtrierte Wahlarten, durch Scheinbehörden u. dgl. einen dauerhaften Zustand begründen, groß und klein gleichmäßig zufriedenstellen oder auch täuschen wollen. Sie exemplifizieren dabei auf das naivste mit dem Altertum und entlehnen zuletzt auch ganz offiziell von dort die Parteinamen, z. B. ottimati, aristocrazia usw. Seitdem erst hat sich die Welt an diese Ausdrücke gewöhnt und ihnen einen konventionellen, europäischen Sinn verliehen, während alle früheren Parteinamen nur dem betreffenden Lande gehörten und entweder unmittelbar die Sache bezeichneten oder dem Spiel des Zufalls entstammten. Wie sehr färbt und entfärbt aber der Name die Sache!
Von allen jedoch, die einen Staat meinten konstruieren zu können, ist Macchiavelli ohne Vergleich der größte. Er fasst die vorhandenen Kräfte immer als lebendige, aktive, stellt die Alternativen richtig und großartig und sucht weder sich noch andere zu täuschen. Es ist in ihm keine Spur von Eitelkeit noch Plusmacherei, auch schreibt er ja nicht für das Publikum, sondern entweder für Behörden und Fürsten oder für Freunde. Seine Gefahr liegt nie in falscher Genialität, auch nicht in falschem Ausspinnen von Begriffen, sondern in einer starken Phantasie, die er offenbar mit Mühe bändigt. Seine politische Objektivität ist allerdings bisweilen entsetzlich in ihrer Aufrichtigkeit, aber sie ist entstanden in einer Zeit der äußersten Not und Gefahr, da die Menschen ohnehin nicht mehr leicht an das Recht glauben, noch die Billigkeit voraussetzen konnten. Tugendhafte Empörung gegen dieselbe macht auf uns, die wir die Mächte von rechts und links in unserem Jahrhundert an der Arbeit gesehen haben, keinen besonderen Eindruck. Macchiavelli war wenigstens imstande, seine eigene Person über den Sachen zu vergessen. Überhaupt ist er ein Patriot im strengsten Sinne des Wortes, obwohl seine Schriften (wenige Worte ausgenommen) alles direkten Enthusiasmus’ bar und ledig sind und obwohl ihn die Florentiner selber zuletzt als einen Verbrecher ansahen. Wie sehr er sich auch, nach der Art der meisten, in Sitte und Rede gehen ließ, — das Heil des Staates war doch sein erster und letzter Gedanke. Sein vollständigstes Programm über die Einrichtung eines neuen florentinischen Staatswesens ist niedergelegt in der Denkschrift an Leo X., verfasst nach dem Tode des jüngeren Lorenzo Medici, Herzogs von Urbino († 1519), dem er sein Buch vom Fürsten gewidmet hatte. Die Lage der Dinge ist eine späte und schon total verdorbene, und die vorgeschlagenen Mittel und Wege sind nicht alle moralisch; aber es ist höchst interessant zu sehen, wie er als Erbin der Medici die Republik, und zwar eine mittlere Demokratie, einzuschieben hofft. Ein kunstreicheres Gebäude von Konzessionen an den Papst, die speziellen Anhänger desselben und die verschiedenen florentinischen Interessen ist gar nicht denkbar; man glaubt, in ein Uhrwerk hineinzusehen. Zahlreiche andere Prinzipien, Einzelbemerkungen, Parallelen, politische Perspektiven usw. für Florenz finden sich in den Discorsi, darunter Lichtblicke von erster Schönheit; er erkennt zum Beispiel das Gesetz einer fortschreitenden, und zwar stoßweise sich äußernden Entwicklung der Republiken an und verlangt, dass das Staatswesen beweglich und der Veränderung fähig sei, indem nur so die plötzlichen Bluturteile und Verbannungen vermieden würden. Aus einem ähnlichen Grunde, nämlich um Privatgewalttaten und fremde Intervention („den Tod aller Freiheit“) abzuschneiden, wünscht er gegen verhasste Bürger eine gerichtliche Anklage (accusa) eingeführt zu sehen, an deren Stelle Florenz von jeher nur die Übelreden gehabt habe. Meisterhaft charakterisiert er die unfreiwilligen verspäteten Entschlüsse, welche in Republiken bei kritischen Zeiten eine so große Rolle spielen. Dazwischen einmal verführt ihn die Phantasie und der Druck der Zeiten zu einem unbedingten Lob des Volkes, welches seine Leute besser wähle als irgendein Fürst und sich „mit Zureden“ von Irrtümern abbringen lasse. In betreff der Herrschaft über Toscana zweifelt er nicht, dass dieselbe seiner Stadt gehöre, und hält (in einem besonderen Discorso) die Wiederbezwingung Pisas für eine Lebensfrage; er bedauert, dass man Arezzo nach der Rebellion von 1502 überhaupt habe stehen lassen; er gibt sogar im allgemeinen zu, italienische Republiken müßten sich lebhaft nach außen bewegen und vergrößern dürfen, um nicht selber angegriffen zu werden und um Ruhe im Innern zu haben; allein Florenz habe die Sache immer verkehrt angefangen und sich mit Pisa, Siena und Lucca von jeher tödlich verfeindet, während das „brüderlich behandelte“ Pistoja sich freiwillig untergeordnet habe.
Es wäre unbillig, die wenigen übrigen Republiken, die im XV. Jahrhundert noch existierten, mit diesem einzigen Florenz auch nur in Parallele setzen zu wollen, welches bei weitem die wichtigste Werkstätte des italienischen, ja des modernen europäischen Geistes überhaupt war. Siena litt an den schwersten organischen Übeln, und sein relatives Gedeihen in Gewerben und Künsten darf hierüber nicht täuschen. Aeneas Sylvius schaut von seiner Vaterstadt aus wahrhaft sehnsüchtig nach den „fröhlichen“ deutschen Reichsstädten hinüber, wo keine Konfiskationen von Habe und Erbe, keine gewalttätigen Behörden, keine Faktionen das Dasein verderben. Genua gehört kaum in den Kreis unserer Betrachtung, da es sich an der ganzen Renaissance vor den Zeiten des Andrea Doria kaum beteiligte, weshalb der Rivierese in Italien als Verächter aller höheren Bildung galt. Die Parteikämpfe zeigen hier einen so wilden Charakter und waren von so heftigen Schwankungen der ganzen Existenz begleitet, dass man kaum begreift, wie die Genuesen es anfingen, um nach allen Revolutionen und Okkupationen immer wieder in einen erträglichen Zustand einzulenken. Vielleicht gelang es, weil alle, die sich beim Staatswesen beteiligten, fast ohne Ausnahme zugleich als Kaufleute tätig waren. Welchen Grad von Unsicherheit der Erwerb im großen und der Reichtum aushalten können, mit welchem Zustand im Innern der Besitz ferner Kolonien verträglich ist, lehrt Genua in überraschender Weise.
Lucca bedeutet im XV. Jahrhundert nicht viel.
Nicht die Geschichte dieses denkwürdigen Staates, nur einige Andeutungen über die geistige Freiheit und Objektivität, welche durch diese Geschichte in den Florentinern wach, geworden, sind hier unsere Aufgabe.
Um das Jahr 1300 beschrieb Dino Compagni die städtischen Kämpfe seiner Tage. Die politische Lage der Stadt, die: inneren Triebfedern der Parteien, die Charaktere der Führer, genug das ganze Gewebe von näheren und entfernteren Ursachen und Wirkungen sind hier so geschildert, dass man die allgemeine Superiorität des florentinischen Urteilens und Schilderns mit Händen greift. Und das größte Opfer dieser Krisen, Dante Alighieri, welch ein Politiker, gereift durch Heimat und Exil! Er hat den Hohn über das beständige Ändern und Experimentieren an der Verfassung in eherne Terzinen gegossen, welche sprichwörtlich bleiben werden, wo irgend ähnliches vorkommen will; er hat seine Heimat: mit Trotz und mit Sehnsucht angeredet, dass den Florentinern das Herz beben musste. Aber seine Gedanken dehnen sich aus über Italien und die Welt, und wenn seine Agitation für das Imperium, wie er es auffasste, nichts als ein Irrtum war, so muss man bekennen, dass das jugendliche Traumwandeln der kaum geborenen politischen Spekulation bei ihm eine poetische Größe hat. Er ist stolz, der erste zu sein, der diesen Pfad betritt, allerdings an der Hand des Aristoteles, aber in seiner Weise sehr selbständig. Sein Idealkaiser ist ein gerechter, menschenliebender, nur von Gott abhängender Oberrichter, der Erbe der römischen Weltherrschaft, welche eine vom Recht, von der Natur und von Gottes Ratschluss gebilligte war. Die Eroberung des Erdkreises sei nämlich eine rechtmäßige, ein Gottesurteil zwischen Rom und den übrigen Völkern gewesen, und Gott habe dieses Reich anerkannt, indem er unter demselben Mensch wurde und sich bei seiner Geburt der Schätzung des Kaisers Augustus, bei seinem Tode dem Gericht des Pontius Pilatus unterzog usw. Wenn wir diesen und anderen Argumenten nur schwer folgen können, so ergreift Dantes Leidenschaft immer. In seinen Briefen ist er einer der frühesten aller Publizisten, vielleicht der früheste Laie, der Tendenzschriften in Briefform auf eigene Hand ausgehen ließ. Er fing damit beizeiten an; schon nach dem Tode Beatrices erließ er ein Pamphlet über den Zustand von Florenz, „An die Großen des Erdkreises“, und auch die späteren offenen Schreiben aus der Zeit seiner Verbannung sind an lauter Kaiser, Fürsten und Kardinäle gerichtet. In diesen Briefen und in dem Buche „Von der Vulgär spräche“ kehrt unter verschiedenen Formen das mit so vielen Schmerzen bezahlte Gefühl wieder, dass der Verbannte auch außerhalb der Vaterstadt eine neue geistige Heimat finden dürfe in der Sprache und Bildung, die ihm nicht mehr genommen werden könne, und auf diesen Punkt werden wir noch einmal zurückkommen.
Den Villani, Giovanni sowohl als Matteo, verdanken wir nicht sowohl tiefe politische Betrachtungen, als vielmehr frische, praktische Urteile und die Grundlage zur Statistik von Florenz, nebst wichtigen Angaben über andere Staaten. Handel und Industrie hatten auch hier neben dem politischen Denken das staatsökonomische geweckt. Über die Geldverhältnisse im großen wusste man nirgends in der Welt so genauen Bescheid, angefangen von der päpstlichen Kurie zu Avignon, deren enormer Kassenbestand (25 Millionen Goldgulden beim Tode Johanns XXII.) nur aus so guten Quellen glaublich wird. Nur hier erhalten wir Bescheid über kolossale Anleihen, z. B. des Königs von England bei den florentinischen Häusern Bardi und Peruzzi, welche ein Guthaben von 1.365.000 Goldgulden — eigenes und Kompagniegeld — einbüßten (1338) und sich dennoch wieder erholten. Das Wichtigste aber sind die auf den Staat bezüglichen Angaben aus jener nämlichen Zeit: die Staatseinnahmen (über 300.000 Goldgulden) und Ausgaben; die Bevölkerung der Stadt (hier noch sehr unvollkommen nach dem Brotkonsum in bocche, d. h. Mäulern, berechnet auf 90.000) und die des Staates; der Überschuss von 300 — 500 männlichen Geburten unter den 5.800 — 6.000 alljährlichen Täuflingen des Battistero; die Schulkinder, von welchen 8 — 10.000 lesen, 1.000 — 1.200 in sechs Schulen rechnen lernten; dazu gegen 600 Schüler, welche in vier Schulen in (lateinischer) Grammatik und Logik unterrichtet wurden. Es folgt die Statistik der Kirchen und Klöster, der Spitäler (mit mehr als 1000 Betten im ganzen); die Wollenindustrie, mit äußerst wertvollen Einzelangaben; die Münze, die Verproviantierung der Stadt, die Beamtenschaft u. a. m. Anderes erfährt man beiläufig, wie z. B. bei der Einrichtung der neuen Staatsrenten (monte) im Jahre 1353 u. f. auf den Kanzeln gepredigt wurde, von den Franziskanern dafür, von den Dominikanern und Augustinern dagegen; vollends haben in ganz Europa die ökonomischen Folgen des schwarzen Todes nirgends eine solche Beachtung und Darstellung gefunden, noch finden können wie hier. Nur ein Florentiner konnte uns überliefern: wie man erwartete, dass bei der Wenigkeit der Menschen alles wohlfeil worden sollte, und wie statt dessen Lebensbedürfnisse und Arbeitslohn auf das Doppelte stiegen; wie das gemeine Volk anfangs gar nicht mehr arbeiten, sondern nur gut leben wollte; wie zumal die Knechte und Mägde in der Stadt nur noch um sehr hohen Lohn zu haben waren; wie die Bauern nur noch das allerbeste Land bebauen mochten und das geringere liegen ließen usw.; wie dann die enormen Vermächtnisse für die Armen, die während der Pest gemacht wurden, nachher zwecklos erschienen, weil die Armen teils gestorben, teils nicht mehr arm waren. Endlich wird einmal bei Gelegenheit eines großen Vermächtnisses, da ein kinderloser Wohltäter allen Stadtbettlern je sechs Denare hinterließ, eine umfassende Bettelstatistik von Florenz versucht.
Diese statistische Betrachtung der Dinge hat sich in der Folge bei den Florentinern auf das reichste ausgebildet; das Schöne dabei ist, dass sie den Zusammenhang mit dem Geschichtlichen im höheren Sinne, mit der allgemeinen Kultur und mit der Kunst in der Regel durchblicken lassen. Eine Aufzeichnung vom Jahre 1422 berührt mit einem und demselben Federzug die 72 Wechselbuden rings um den Mercato nuovo, die Summe des Barverkehrs (2 Millionen Goldgulden), die damals neue Industrie des gesponnenen Goldes, die Seidenstoffe, den Filippo Brunellesco, der die alte Architektur wieder aus der Erde hervorgräbt, und den Lionardo Aretino, Sekretär der Republik, welcher die antike Literatur und Beredsamkeit wieder erweckt; endlich das allgemeine Wohlergehen der damals politisch ruhigen Stadt und das Glück Italiens, das sich der fremden Soldtruppen entledigt hatte. Jene oben angeführte Statistik von Venedig, die fast aus demselben Jahr stammt, offenbart freilich einen viel größeren Besitz, Erwerb und Schauplatz; Venedig beherrscht schon lange die Meere mit seinen Schiffen, während Florenz (1422) seine erste eigene Galeere (nach Alessandria) aussendet. Allein, wer erkennt nicht in der florentinischen Aufzeichnung den höheren Geist? Solche und ähnliche Notizen finden sich hier von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, und zwar schon in Übersichten geordnet, während anderwärts im besten Falle einzelne Aussagen vorhanden sind. Wir lernen das Vermögen und die Geschäfte der ersten Medici approximativ kennen; sie gaben an Almosen, öffentlichen Bauten und Steuern von 1434 bis 1471 nicht weniger als 663.755 Goldgulden aus, wovon auf Cosimo allein über 400.000 kamen, und Lorenzo magnifico freut sich, dass das Geld so gut ausgegeben sei. Nach 1478 folgt dann wieder eine höchst wichtige und in ihrer Art vollständige Übersicht des Handels und der Gewerbe der Stadt, darunter mehrere, welche halb oder ganz zur Kunst gehören; die Gold- und Silberstoffe und Damaste; die Holzschnitzerei und Marketterie (Intarsia); die Arabeskenskulptur in Marmor und Sandstein; die Porträtfiguren in Wachs; die Goldschmiede- und Juwelierkunst. Ja, das angeborene Talent der Florentiner für die Berechnung des ganzen äußeren Daseins zeigt sich auch in ihren Haus-, Geschäfts- und Landwirtschaftsbüchern, die sich wohl vor denen der übrigen Europäer des XV. Jahrhunderts um ein namhaftes auszeichnen mögen. Mit Recht hat man angefangen, ausgewählte Probleme zu publizieren; nur wird es noch vieler Studien bedürfen, um klare allgemeine Resultate daraus zu ziehen. Jedenfalls gibt sich auch hier derjenige Staat zu erkennen, wo sterbende Väter testamentarisch den Staat ersuchten, ihre Söhne um 1.000 Goldgulden zu büßen, wenn sie kein regelmäßiges Gewerbe treiben würden.
Für die erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts besitzt dann vielleicht keine Stadt der Welt eine solche Urkunde, wie die herrliche Schilderung von Florenz bei Varchi ist. Auch in der beschreibenden Statistik wie in so manchen anderen Beziehungen wird hier noch einmal ein Muster hingestellt, ehe die Freiheit und Größe dieser Stadt zu Grabe geht.
Neben dieser Berechnung des äußeren Daseins geht aber jene fortlaufende Schilderung des politischen Lebens einher, von welcher oben die Rede war. Florenz durchlebt nicht nur mehr politische Formen und Schattierungen, sondern es gibt auch unverhältnismäßig mehr Rechenschaft davon als andere freie Staaten Italiens und des Abendlandes überhaupt. Es ist der vollständigste Spiegel des Verhältnisses von Menschenklassen und einzelnen Menschen zu einem wandelbaren Allgemeinen. Die Bilder der großen bürgerlichen Demagogien in Frankreich und Flandern, wie sie Froissart entwirft, die Erzählungen unserer deutschen Chroniken des XIV. Jahrhunderts sind wahrlich bedeutungsvoll genug, allein an geistiger Vollständigkeit, an vielseitiger Begründung des Herganges sind die Florentiner allen unendlich überlegen. Adelsherrschaft, Tyrannis, Kämpfe des Mittelstandes mit dem Proletariat, volle, halbe und Scheindemokratie, Primat eines Hauses, Theokratie (mit Savonarola), bis auf jene Mischformen, welche das mediceische Gewaltfürstentum vorbereiteten, alles wird so beschrieben, dass die innersten Beweggründe der Beteiligten dem Lichte bloßliegen. Endlich fasst Macchiavelli in seinen florentinischen Geschichten (bis 1492) seine Vaterstadt vollkommen als ein lebendiges Wesen und ihren Entwicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der erste unter den Modernen, der dieses so vermocht hat. Es liegt außer unserem Bereich, zu untersuchen, ob und in welchen Punkten Macchiavelli willkürlich verfahren sein mag, wie er im Leben des Castruccio Castracane — einen von ihm eigenmächtig kolorierten Tyrannentypus — notorischerweise getan hat. Es könnte in den Storie fiorentine gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden sein und ihr hoher, ja einziger Wert im ganzen bliebe dennoch bestehen. Und seine Zeitgenossen und Fortsetzer: Jacopo Pitti, Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von erlauchten Namen! Und welche Geschichte ist es, die diese Meister schildern! Die letzten Jahrzehnte der florentinischen Republik, ein unvergesslich großes Schauspiel, sind uns hier vollständig überliefert. In dieser massenhaften Tradition über den Untergang des höchsten eigentümlichsten Lebens der damaligen Welt mag der eine nichts erkennen als eine Sammlung von Kuriositäten ersten Ranges, der andere mit teuflischer Freude den Bankrott des Edlen und Erhabenen konstatieren, ein dritter die Sache als einen großen gerichtlichen Prozess auseinanderlegen — jedenfalls wird sie ein Gegenstand nachdenklicher Betrachtung bleiben bis ans Ende der Tage. Das Grundunglück, welches die Sachlage stets von neuem trübte, war die Herrschaft von Florenz über unterworfene, ehemals mächtige Feinde, wie die Pisaner, was einen beständigen Gewaltzustand zur notwendigen Folge hatte. Das einzige, freilich sehr heroische Mittel, das nur Savonarola hätte durchführen können und auch nur mit Hilfe besonders glücklicher Umstände, wäre die rechtzeitige Auflösung Toscanas in eine Föderation freier Städte gewesen; ein Gedanke, der erst als weit verspäteter Fiebertraum einen patriotischen Lucchesen (1548) auf das Schafott bringt. Von diesem Unheil und von der unglücklichen Guelfensympathie der Florentiner für einen fremden Fürsten und der daherigen Gewöhnung an fremde Interventionen hängt alles weitere ab. Aber wer muss nicht dieses Volk bewundern, das unter der Leitung seines heiligen Mönches in einer dauernd erhöhten Stimmung das erste italienische Beispiel von Schonung der besiegten Gegner gibt, während die ganze Vorzeit ihm nichts als Rache und Vertilgung predigt! Die Glut, welche hier Patriotismus und sittlichreligiöse Umkehr in ein Ganzes schmilzt, sieht von weitem wohl bald wieder wie erloschen aus, aber ihre besten Resultate leuchten dann in jener denkwürdigen Belagerung von 1529 — 1530 wieder neu auf. Wohl waren es „Narren“, welche diesen Sturm über Florenz heraufbeschworen, wie Guicciardini damals schrieb, aber schon er gesteht zu, dass sie das unmöglich Geglaubte ausrichteten; und wenn er meint, die Weisen wären dem Unheil ausgewichen, so hat dies keinen andern Sinn, als dass sich Florenz völlig ruhmlos und lautlos in die Hände seiner Feinde hätte liefern sollen. Es hätte dann seine prächtigen Vorstädte und Gärten und das Leben und die Wohlfahrt unzähliger Bürger bewahrt und wäre dafür um eine der größten sittlichen Erinnerungen ärmer.
Die Florentiner sind in manchen großen Dingen Vorbild und frühester Ausdruck der Italiener und der modernen Europäer überhaupt, und so sind sie es auch mannigfach für die Schattenseiten. Wenn schon Dante das stets an seiner Verfassung bessernde Florenz mit einer Kranken verglich, der beständig seine Lage wechselt, um seinen Schmerzen zu entrinnen, so zeichnete er damit einen bleibenden Grundzug dieses Staatslebens. Der große moderne Irrtum, dass man eine Verfassung machen, durch Berechnung der vorhandenen Kräfte und Richtungen neu produzieren könne, taucht zu Florenz in bewegten Zeiten immer wieder auf, und auch Macchiavelli ist davon nicht frei gewesen. Es bilden sich Staatskünstler, welche durch künstliche Verlegung und Verteilung der Macht, durch höchst filtrierte Wahlarten, durch Scheinbehörden u. dgl. einen dauerhaften Zustand begründen, groß und klein gleichmäßig zufriedenstellen oder auch täuschen wollen. Sie exemplifizieren dabei auf das naivste mit dem Altertum und entlehnen zuletzt auch ganz offiziell von dort die Parteinamen, z. B. ottimati, aristocrazia usw. Seitdem erst hat sich die Welt an diese Ausdrücke gewöhnt und ihnen einen konventionellen, europäischen Sinn verliehen, während alle früheren Parteinamen nur dem betreffenden Lande gehörten und entweder unmittelbar die Sache bezeichneten oder dem Spiel des Zufalls entstammten. Wie sehr färbt und entfärbt aber der Name die Sache!
Von allen jedoch, die einen Staat meinten konstruieren zu können, ist Macchiavelli ohne Vergleich der größte. Er fasst die vorhandenen Kräfte immer als lebendige, aktive, stellt die Alternativen richtig und großartig und sucht weder sich noch andere zu täuschen. Es ist in ihm keine Spur von Eitelkeit noch Plusmacherei, auch schreibt er ja nicht für das Publikum, sondern entweder für Behörden und Fürsten oder für Freunde. Seine Gefahr liegt nie in falscher Genialität, auch nicht in falschem Ausspinnen von Begriffen, sondern in einer starken Phantasie, die er offenbar mit Mühe bändigt. Seine politische Objektivität ist allerdings bisweilen entsetzlich in ihrer Aufrichtigkeit, aber sie ist entstanden in einer Zeit der äußersten Not und Gefahr, da die Menschen ohnehin nicht mehr leicht an das Recht glauben, noch die Billigkeit voraussetzen konnten. Tugendhafte Empörung gegen dieselbe macht auf uns, die wir die Mächte von rechts und links in unserem Jahrhundert an der Arbeit gesehen haben, keinen besonderen Eindruck. Macchiavelli war wenigstens imstande, seine eigene Person über den Sachen zu vergessen. Überhaupt ist er ein Patriot im strengsten Sinne des Wortes, obwohl seine Schriften (wenige Worte ausgenommen) alles direkten Enthusiasmus’ bar und ledig sind und obwohl ihn die Florentiner selber zuletzt als einen Verbrecher ansahen. Wie sehr er sich auch, nach der Art der meisten, in Sitte und Rede gehen ließ, — das Heil des Staates war doch sein erster und letzter Gedanke. Sein vollständigstes Programm über die Einrichtung eines neuen florentinischen Staatswesens ist niedergelegt in der Denkschrift an Leo X., verfasst nach dem Tode des jüngeren Lorenzo Medici, Herzogs von Urbino († 1519), dem er sein Buch vom Fürsten gewidmet hatte. Die Lage der Dinge ist eine späte und schon total verdorbene, und die vorgeschlagenen Mittel und Wege sind nicht alle moralisch; aber es ist höchst interessant zu sehen, wie er als Erbin der Medici die Republik, und zwar eine mittlere Demokratie, einzuschieben hofft. Ein kunstreicheres Gebäude von Konzessionen an den Papst, die speziellen Anhänger desselben und die verschiedenen florentinischen Interessen ist gar nicht denkbar; man glaubt, in ein Uhrwerk hineinzusehen. Zahlreiche andere Prinzipien, Einzelbemerkungen, Parallelen, politische Perspektiven usw. für Florenz finden sich in den Discorsi, darunter Lichtblicke von erster Schönheit; er erkennt zum Beispiel das Gesetz einer fortschreitenden, und zwar stoßweise sich äußernden Entwicklung der Republiken an und verlangt, dass das Staatswesen beweglich und der Veränderung fähig sei, indem nur so die plötzlichen Bluturteile und Verbannungen vermieden würden. Aus einem ähnlichen Grunde, nämlich um Privatgewalttaten und fremde Intervention („den Tod aller Freiheit“) abzuschneiden, wünscht er gegen verhasste Bürger eine gerichtliche Anklage (accusa) eingeführt zu sehen, an deren Stelle Florenz von jeher nur die Übelreden gehabt habe. Meisterhaft charakterisiert er die unfreiwilligen verspäteten Entschlüsse, welche in Republiken bei kritischen Zeiten eine so große Rolle spielen. Dazwischen einmal verführt ihn die Phantasie und der Druck der Zeiten zu einem unbedingten Lob des Volkes, welches seine Leute besser wähle als irgendein Fürst und sich „mit Zureden“ von Irrtümern abbringen lasse. In betreff der Herrschaft über Toscana zweifelt er nicht, dass dieselbe seiner Stadt gehöre, und hält (in einem besonderen Discorso) die Wiederbezwingung Pisas für eine Lebensfrage; er bedauert, dass man Arezzo nach der Rebellion von 1502 überhaupt habe stehen lassen; er gibt sogar im allgemeinen zu, italienische Republiken müßten sich lebhaft nach außen bewegen und vergrößern dürfen, um nicht selber angegriffen zu werden und um Ruhe im Innern zu haben; allein Florenz habe die Sache immer verkehrt angefangen und sich mit Pisa, Siena und Lucca von jeher tödlich verfeindet, während das „brüderlich behandelte“ Pistoja sich freiwillig untergeordnet habe.
Es wäre unbillig, die wenigen übrigen Republiken, die im XV. Jahrhundert noch existierten, mit diesem einzigen Florenz auch nur in Parallele setzen zu wollen, welches bei weitem die wichtigste Werkstätte des italienischen, ja des modernen europäischen Geistes überhaupt war. Siena litt an den schwersten organischen Übeln, und sein relatives Gedeihen in Gewerben und Künsten darf hierüber nicht täuschen. Aeneas Sylvius schaut von seiner Vaterstadt aus wahrhaft sehnsüchtig nach den „fröhlichen“ deutschen Reichsstädten hinüber, wo keine Konfiskationen von Habe und Erbe, keine gewalttätigen Behörden, keine Faktionen das Dasein verderben. Genua gehört kaum in den Kreis unserer Betrachtung, da es sich an der ganzen Renaissance vor den Zeiten des Andrea Doria kaum beteiligte, weshalb der Rivierese in Italien als Verächter aller höheren Bildung galt. Die Parteikämpfe zeigen hier einen so wilden Charakter und waren von so heftigen Schwankungen der ganzen Existenz begleitet, dass man kaum begreift, wie die Genuesen es anfingen, um nach allen Revolutionen und Okkupationen immer wieder in einen erträglichen Zustand einzulenken. Vielleicht gelang es, weil alle, die sich beim Staatswesen beteiligten, fast ohne Ausnahme zugleich als Kaufleute tätig waren. Welchen Grad von Unsicherheit der Erwerb im großen und der Reichtum aushalten können, mit welchem Zustand im Innern der Besitz ferner Kolonien verträglich ist, lehrt Genua in überraschender Weise.
Lucca bedeutet im XV. Jahrhundert nicht viel.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 1. Buch