Venedig im XV. Jahrhundert: Die Einwohner — Der Staat und die Gefahr durch den armen Adel — Ursachen der Unerschütterlichkeit — Der Rat der Zehn und die politischen Prozesse — Verhältnis zu den Kondottieren — Optimismus der auswärtigen Politik — Venedig als Heimat der Statistik — Verzögerung der Renaissance — Verspätete Reliquienandacht

Einst hatten die italienischen Städte in höchstem Grade jene Kraft entwickelt, welche die Stadt zum Staate macht. Es bedurfte nichts weiter, als dass sich diese Städte zu einer großen Föderation verbündeten; ein Gedanke, der in Italien immer wiederkehrt, mag er im einzelnen bald mit diesen, bald mit jenen Formen bekleidet sein. In den Kämpfen des XII. und XIII. Jahrhunderts kam es wirklich zu großen, kriegerisch gewaltigen Städtebünden, und Sismondi glaubt, die Zeit der letzten Rüstungen des Lombardenbundes gegen Barbarossa (seit 1168) wäre wohl der Moment gewesen, da eine allgemeine italienische Föderation sich hätte bilden können. Aber die mächtigeren Städte hatten bereits Charakterzüge entwickelt, welche dies unmöglich machten: sie erlaubten sich als Handelskonkurrenten die äußersten Mittel gegeneinander und drückten schwächere Nachbarstädte in rechtlose Abhängigkeit nieder; das heißt, sie glaubten am Ende doch einzeln durchzukommen und des Ganzen nicht zu bedürfen, und bereiteten den Boden vor für jede andere Gewaltherrschaft. Diese kam, als innere Kämpfe zwischen den Adelsparteien unter sich und mit den Bürgern die Sehnsucht nach einer festen Regierung weckten und die schon vorhandenen Soldtruppen jede Sache um Geld unterstützten, nachdem die einseitige Parteiregierung schon längst das allgemeine Bürgeraufgebot unbrauchbar zu finden gewohnt war. Die Tyrannis verschlang die Freiheit der meisten Städte; hie und da vertrieb man sie, aber nur halb, oder nur auf kurze Zeit; sie kam immer wieder, weil die inneren Bedingungen für sie vorhanden und die entgegenstrebenden Kräfte aufgebraucht waren.

Unter den Städten, welche ihre Unabhängigkeit bewahrten, sind zwei für die ganze Geschichte der Menschheit von höchster Bedeutung: Florenz, die Stadt der beständigen Bewegung, welche uns auch Kunde hinterlassen hat von allen Gedanken und Absichten der einzelnen und der Gesamtheit, die drei Jahrhunderte hindurch an dieser Bewegung teilnahmen; dann Venedig, die Stadt des scheinbaren Stillstandes und des politischen Schweigens. Es sind die stärksten Gegensätze, die sich denken lassen, und beide sind wiederum mit nichts auf der Welt zu vergleichen.


Venedig erkannte sich selbst als eine wunderbare, geheimnisvolle Schöpfung, in welcher noch etwas anderes als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen. Es gab einen Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am 25. März 413 um Mittag hätten die Übersiedler aus Padua den Grundstein gelegt am Rialto, damit eine unangreifbare, heilige Freistätte sei in dem von den Barbaren zerrissenen Italien. Spätere haben in die Seele dieser Gründer alle Ahnungen der künftigen Größe hineingelegt; M. Antonio Sabellico, der das Ereignis in prächtig strömenden Hexametern gefeiert hat, lässt den Priester, der die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: „Wenn wir einst Großes wagen, dann gib Gedeihen! Jetzt knien wir nur vor einem armen Altar, aber wenn unsere Gelübde nicht umsonst sind, so steigen dir, o Gott, hier einst hundert Tempel von Marmor und Gold empor!“ Die Inselstadt selbst erschien zu Ende des XV. Jahrhunderts wie das Schmuckkästchen der damaligen Welt. Derselbe Sabellico schildert sie als solches mit ihren uralten Kuppelkirchen, schiefen Türmen, inkrustierten Marmorfassaden, mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken und die Vermietung jedes Winkels sich miteinander vertrugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor S. Giacometto am Rialto, wo die Geschäfte einer Welt sich nicht durch lautes Reden oder Schreien, sondern nur durch ein vielstimmiges Summen verraten, wo in den Portiken ringsum und in denen der anstoßenden Gassen die Wechsler und die Hunderte von Goldschmieden sitzen, über ihren Häuptern Läden und Magazine ohne Ende; jenseits von der Brücke beschreibt er den großen Fondaco der Deutschen, in dessen Hallen ihre Waren und ihre Leute wohnen, und vor welchem stets Schiff an Schiff im Kanal liegt; von da weiter aufwärts die Wein- und Ölflotte, und parallel damit am Strande, wo es von Facchinen wimmelt, die Gewölbe der Händler; dann vom Rialto bis auf den Markusplatz die Parfümeriebuden und Wirtshäuser. So geleitet er den Leser von Quartier zu Quartier bis hinaus zu den beiden Lazaretten, welche mit zu den Instituten hoher Zweckmäßigkeit gehörten, die man nur hier so ausgebildet vorfand. Fürsorge für die Leute war überhaupt ein Kennzeichen der Venezianer, im Frieden wie im Kriege, wo ihre Verpflegung der Verwundeten, selbst der feindlichen, für andere ein Gegenstand des Erstaunens war. Was irgend öffentliche Anstalt hieß, konnte in Venedig sein Muster finden; auch das Pensionswesen wurde systematisch gehandhabt, sogar in betreff der Hinterlassenen. Reichtum, politische Sicherheit und Weltkenntnis hatten hier das Nachdenken über solche Dinge gereift. Diese schlanken, blonden Leute mit dem leisen, bedächtigen Schritt und der besonnenen Rede unterschieden sich in Tracht und Auftreten nur wenig voneinander; den Putz, besonders Perlen, hingen sie ihren Frauen und Mädchen an. Damals war das allgemeine Gedeihen, trotz großer Verluste durch die Türken, noch wahrhaft glänzend; aber die aufgesammelte Energie und das allgemeine Vorurteil Europas genügten auch später noch, um Venedig selbst die schwersten Schläge lange überdauern zu lassen: die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, den Sturz der Mameluckenherrschaft von Ägypten und den Krieg der Liga von Cambray.

Sabellico, der aus der Gegend von Tivoli gebürtig und an das ungenierte Redewerk der damaligen Philologen gewöhnt war, bemerkt an einem anderen Orte mit einigem Erstaunen, dass die jungen Nobili, welche seine Morgenvorlesungen hörten, sich gar nicht auf das Politisieren mit ihm einlassen wollten: „Wenn ich sie frage, was die Leute von dieser oder jener Bewegung in Italien dächten, sprächen und erwarteten, antworteten sie mir alle mit einer Stimme, sie wüssten nichts.“ Man konnte aber von dem demoralisierten Teil des Adels trotz aller Staatsinquisition mancherlei erfahren, nur nicht so wohlfeilen Kaufes. Im letzten «Viertel des XV. Jahrhunderts gab es Verräter in den höchsten Behörden; die Päpste, die italienischen Fürsten, ja ganz mittelmäßige Kondottieren im Dienste der Republik hatten ihre Zuträger, zum Teil mit regelmäßiger Besoldung; es war so weit gekommen, dass der Rat der Zehn für gut fand, dem Rat der Pregadi wichtigere politische Nachrichten zu verbergen, ja man nahm an, dass Lodovico Moro in den Pregadi über eine ganz bestimmte Stimmenzahl verfüge. Ob das nächtliche Aufhängen einzelner Schuldigen und die hohe Belohnung der Angeber (z.B. sechzig Dukaten lebenslängliche Pension) viel fruchtete, ist schwer zu sagen; eine Hauptursache, die Armut vieler Nobili, ließ sich nicht plötzlich beseitigen. Im Jahre 1492 betrieben zwei Nobili einen Vorschlag, der Staat solle jährlich 70.000 Dukaten zur Vertröstung derjenigen armen Adeligen auswerfen, welche kein Amt hätten; die Sache war nahe daran, vor den großen Rat zu kommen, wo sie eine Majorität hätte erhalten können, — als der Rat der Zehn noch zur rechten Zeit eingriff und die beiden auf Lebenszeit nach Nicosia auf Cypern verbannte. Um diese Zeit wurde ein Soranzo auswärts als Kirchenräuber gehenkt und ein Contarini wegen Einbruchs in Ketten gelegt; ein anderer von derselben Familie trat 1499 vor die Signorie und jammerte, er sei seit vielen Jahren ohne Amt, habe nur 16 Dukaten Einkünfte und neun Kinder, dazu 60 Dukaten Schulden, verstehe kein Geschäft und sei neulich auf die Gasse gesetzt worden. Man begreift, dass einzelne reiche Nobili Häuser bauen, um die Armen darin gratis wohnen zu lassen. Der Häuserbau um Gottes willen, selbst in ganzen Reihen, kommt in Testamenten als gutes Werk vor.

Wenn die Feinde Venedigs auf Übelstände dieser Art jemals ernstliche Hoffnungen gründeten, so irrten sie sich gleichwohl. Man könnte glauben, dass schon der Schwung des Handels, der auch dem Geringsten einen reichlichen Gewinn der Arbeit sicherte, dass die Kolonien im östlichen Mittelmeer die gefährlichen Kräfte von der Politik abgelenkt haben möchten. Hat aber nicht Genua, trotz ähnlicher Vorteile, die sturmvollste politische Geschichte gehabt? Der Grund von Venedigs Unerschütterlichkeit liegt eher in einem Zusammenwirken von Umständen, die sich sonst nirgends vereinigten. Unangreifbar als Stadt, hatte es sich von jeher der auswärtigen Verhältnisse nur mit der kühlsten Überlegung angenommen, das Parteiwesen des übrigen Italien fast ignoriert, seine Allianzen nur für vorübergehende Zwecke und um möglichst hohen Preis geschlossen. Der Grundton des venezianischen Gemüts war daher der einer stolzen, ja verachtungsvollen Isolierung und folgerichtig einer stärkeren Solidarität im Innern, wozu der Hass des ganzen übrigen Italien noch das Seine tat. In der Stadt selbst hatten dann alle Einwohner die stärksten gemeinschaftlichen Interessen gegenüber den Kolonien sowohl als den Besitzungen der Terraferma, indem die Bevölkerung der letzteren (das heißt der Städte bis Bergamo )nur in Venedig kaufen und verkaufen durfte. Ein so künstlicher Vorteil konnte nur durch Ruhe und Eintracht im Innern aufrechterhalten werden — das fühlte gewiss die übergroße Mehrzahl, und für Verschwörer war schon deshalb hier ein schlechter Boden. Und wenn es Unzufriedene gab, so wurden sie durch die Trennung in Adelige und Bürger auf eine Weise auseinandergehalten, die jede Annäherung sehr erschwerte. Innerhalb des Adels aber war den möglicherweise Gefährlichen, nämlich den Reichen, eine Hauptquelle aller Verschwörungen, der Müßiggang, abgeschnitten durch ihre großen Handelsgeschäfte und Reisen und durch die Teilnahme an den stets wiederkehrenden Türkenkriegen. Die Kommandanten schonten sich dabei, ja bisweilen in strafbarer Weise, und ein venezianischer Cato weissagte den Untergang der Macht, wenn diese Scheu der Nobili, einander irgend wehe zu tun, auf Unkosten der Gerechtigkeit fortdauern würde. Immerhin aber gab dieser große Verkehr in der freien Luft dem Adel von Venedig eine gesunde Richtung im ganzen. Und wenn Neid und Ehrgeiz durchaus einmal Genugtuung begehrten, so gab es ein offizielles Opfer, eine Behörde und legale Mittel. Die viel jährige moralische Marter, welcher der Doge Francesco Foscari († 1457) vor den Augen von ganz Venedig unterlag, ist vielleicht das schrecklichste Beispiel dieser nur in Aristokratien möglichen Rache. Der Rat der Zehn, welcher in alles eingriff, ein unbedingtes Recht über Leben und Tod, über Kassen und Armeebefehl besaß, die Inquisitoren in sich enthielt und den Foscari wie so manchen Mächtigen stürzte, dieser Rat der Zehn wurde alljährlich von der ganzen regierenden Kaste, dem Gran-Consiglio, neu gewählt und war somit der unmittelbarste Ausdruck derselben. Große Intrigen mögen bei diesen Wahlen kaum vorgekommen sein, da die kurze Dauer und die spätere Verantwortlichkeit das Amt nicht sehr begehrenswert machten. Allein vor diesen und anderen venezianischen Behörden, mochte ihr Tun noch so unterirdisch und gewaltsam sein, flüchtete sich doch der echte Venezianer nicht, sondern er stellte sich; nicht nur, weil die Republik lange Arme hatte und statt seiner die Familie plagen konnte, sondern weil in den meisten Fällen wenigstens nach Gründen und nicht aus Blutdurst verfahren wurde. Überhaupt hat wohl kein Staat jemals eine größere moralische Macht über seine Angehörigen in der Ferne ausgeübt. Wenn es z. B. Verräter in den Pregadi gab, so wurde dies reichlich dadurch aufgewogen, dass jeder Venezianer in der Fremde ein geborener Kundschafter für seine Regierung war. Von den venezianischen Kardinälen in . Rom verstand es sich von selbst, dass sie die Verhandlungen der geheimen päpstlichen Konsistorien nach Hause meldeten. Kardinal Domenico Grimani ließ in der Nähe von Rom (1500) die Depeschen wegfangen, welche Ascanio Sforza an seinen Bruder Lodovico Moro absandte, und schickte sie nach Venedig; sein eben damals schwer angeklagter Vater machte dies Verdienst des Sohnes öffentlich vor dem Gran-Consiglio, das heißt vor der ganzen Welt geltend.

Wie Venedig seine Kondottieren hielt, ist oben angedeutet worden. Wenn es noch irgendeine besondere Garantie ihrer Treue suchen wollte, so fand es sie etwa in ihrer großen Anzahl, welche den Verrat ebensosehr erschweren, als dessen Entdeckung erleichtern musste. Beim Anblick venezianischer Armeerollen fragt man sich nur, wie bei so bunt zusammengesetzten Scharen eine gemeinsame Aktion möglich gewesen? In derjenigen des Krieges von 1495 figurieren 15.526 Pferde in lauter kleinen Posten; nur der Gonzaga von Mantua hatte davon 1200, Gioffredo Borgia 740; dann folgen sechs Anführer mit 700 — 600, zehn mit 400, zwölf mit 400—200, etwa vierzehn mit 200— 100, neun mit 80, sechs mit 60 — 50 usw. Es sind teils alte venezianische Truppenkörper, teils solche unter venezianischen Stadtadeligen und Landadeligen; die meisten Anführer aber sind Fürsten und Stadthäupter oder Verwandte von solchen. Dazu kommen 24.000 Mann Infanterie, über deren Beischaffung und Führung nichts bemerkt wird, nebst weiteren 3.300 Mann wahrscheinlich besonderer Waffengattungen. Im Frieden waren die Städte der Terraferma gar nicht oder mit unglaublich geringen Garnisonen besetzt. Venedig verließ sich nicht gerade auf die Pietät, wohl aber auf die Einsicht seiner Untertanen; beim Kriege der Liga von Cambray (1509) sprach es sie bekanntlich vom Treueid los und ließ es darauf ankommen, dass sie die Annehmlichkeiten einer feindlichen Okkupation mit seiner milden Herrschaft vergleichen würden; da sie nicht mit Verrat von S. Marcus abzufallen nötig gehabt hatten und also keine Strafe zu fürchten brauchten, kehrten sie mit dem größten Eifer wieder unter die gewohnte Herrschaft zurück. Dieser Krieg war, beiläufig gesagt, das Resultat eines hundertjährigen Geschreis über die Vergrößerungssucht Venedigs. Letzteres beging bisweilen die Fehler allzu kluger Leute, welche auch ihren Gegnern keine nach ihrer Ansicht törichten, rechnungswidrigen Streiche zutrauen wollen. In diesem Optimismus, der vielleicht den Aristokratien am ehesten eigen ist, hatte man einst die Rüstungen Mohammeds II. zur Einnahme von Konstantinopel, ja die Vorbereitungen zum Zuge Karls VIII. völlig ignoriert, bis das Unerwartete doch geschah. Ein solches Ereignis war nun auch die Liga von Cambray, insofern sie dem klaren Interesse der Hauptanstifter, Ludwigs XII. und Julius’ II., entgegenlief. Im Papst war aber der alte Hass von ganz Italien gegen die erobernden Venezianer aufgesammelt, so dass er über den Einmarsch der Fremden die Augen schloss, und was die Politik des Kardinals Amboise und seines Königs betraf, so hätte Venedig deren bösartigen Blödsinn schon lange als solchen erkennen und fürchten sollen. Die meisten übrigen nahmen an der Liga teil aus jenem Neid, der dem Reichtum und der Macht als nützliche Zuchtrute gesetzt, an sich aber ein ganz jämmerliches Ding ist. Venedig zog sich mit Ehren, aber doch nicht ohne bleibenden Schaden aus dem Kampfe.

Eine Macht, deren Grundlagen so kompliziert, deren Tätigkeit und Interessen auf einen so weiten Schauplatz ausgedehnt waren, ließe sich gar nicht denken ohne eine großartige Übersicht des Ganzen, ohne eine beständige Bilanz der Kräfte und Lasten, der Zunahme und Abnahme. Venedig möchte sich wohl als den Geburtsort der modernen Statistik geltend machen dürfen, mit ihm vielleicht Florenz und in zweiter Linie die entwickelteren italienischen Fürstentümer. Der Lehnsstaat des Mittelalters bringt höchstens Gesamtverzeichnisse der fürstlichen Rechte und Nutzbarkeiten (Urbarien) hervor; er fasst die Produktion als eine stehende auf, was sie annäherungsweise auch ist, solange es sich wesentlich um Grund und Boden handelt. Diesem gegenüber haben die Städte im ganzen Abendlande wahrscheinlich von frühe an ihre Produktion, die sich auf Industrie und Handel bezog, als eine höchst bewegliche erkannt und danach behandelt, allein es blieb — selbst in den Blütezeiten der Hansa — bei einer einseitig kommerziellen Bilanz. Flotten, Heere, politischer Druck und Einfluss kamen einfach unter das Soll und Haben eines kaufmännischen Hauptbuches zu stehen. Erst in den italienischen Staaten vereinigen sich die Konsequenzen einer völligen politischen Bewusstheit, das Vorbild mohammedanischer Administration und ein uralter starker Betrieb der Produktion und des Handels selbst, um eine wahre Statistik zu begründen. Der unteritalische Zwangsstaat Kaiser Friedrichs II. war einseitig auf Konzentration der Macht zum Zwecke eines Kampfes um Sein oder Nichtsein organisiert gewesen. In Venedig dagegen sind die letzten Zwecke Genuss der Macht und des Lebens, Weiterbildung des von den Vorfahren Ererbten, Ansammlung der gewinnreichsten Industrien und Eröffnung stets neuer Absatzwege.

Die Autoren sprechen sich über diese Dinge mit größter Unbefangenheit aus. Wir erfahren, dass die Bevölkerung der Stadt im Jahre 1422 190.000 Seelen betrug; vielleicht hat man in Italien am frühesten angefangen, nicht mehr nach Feuerherden, nach Waffenfähigen, nach solchen, die auf eigenen Beinen gehen konnten u. dgl., sondern nach anime zu zählen und darin die neutralste Basis aller weiteren Berechnungen anzuerkennen. Als die Florentiner um dieselbe Zeit ein Bündnis mit Venedig gegen Filippo Maria Visconti wünschten, wies man sie einstweilen ab, in der klaren, hier durch genaue Handelsbilanz belegten Überzeugung, dass jeder Krieg zwischen Mailand und Venedig, das heißt zwischen Abnehmer und Verkäufer, eine Torheit sei. Schon wenn der Herzog nur sein Heer vermehre, so werde das Herzogtum wegen sofortiger Erhöhung der Steuern ein schlechterer Konsument. „Besser man lasse die Florentiner unterliegen, dann siedeln sie, des freistädtischen Lebens gewohnt, zu uns über und bringen ihre Seiden- und Wollweberei mit, wie die bedrängten Lucchesen getan haben.“ Das Merkwürdigste aber ist die Rede des sterbenden Dogen Mocenigo (1423) an einige Senatoren, die er vor sein Bett kommen ließ. Sie enthält die wichtigsten Elemente einer Statistik der gesamten Kraft und Habe Venedigs. Ich weiß nicht, ob und wo eine gründliche Erläuterung dieses schwierigen Aktenstückes existiert; nur als Kuriosität mag folgendes angeführt werden. Nach geschehener Abbezahlung von 4 Millionen Dukaten eines Kriegsanlehens betrug die Staatsschuld (il monte) damals noch 6 Millionen Dukaten. Der Gesamtumlauf des Handels (wie es scheint) betrug 10 Millionen, welche 4 Millionen abwarfen. (So heißt es im Text.) Auf 3.000 Navigli, 300 Nävi und 45 Galeren fuhren 17.000, bzw. 8.000 und 11.000 Seeleute. (Über 200 Mann pro Galera.) Dazu kamen 16.000 Schiffszimmerleute. Die Häuser von Venedig hatten 7 Millionen Schätzungswert und trugen an Miete eine halbe Million ein. Es gab 1.000 Adelige von 70 — 4.000 Dukaten Einkommen. — An einer anderen Stelle wird die ordentliche Staatseinnahme in jenem selben Jahre auf 1.100.000 Dukaten geschätzt; durch die Handelsstörungen infolge der Kriege war sie um die Mitte des Jahrhunderts auf 800.000 Dukaten gesunken.

Wenn Venedig durch derartige Berechnungen und deren praktische Anwendung eine große Seite des modernen Staatswesens am frühesten vollkommen darstellte, so stand es dafür in derjenigen Kultur, welche man damals in Italien als das Höchste schätzte, einigermaßen zurück. Es fehlt hier der literarische Trieb im allgemeinen und insbesondere jener Taumel zugunsten des klassischen Altertums. Die Begabung zu Philosophie und Beredsamkeit, meint Sabellico, sei hier an sich so groß als die zum Handel und Staatswesen; schon 1459 legte Georg der Trapezuntier die lateinische Übersetzung von Piatos Buch über die Gesetze dem Dogen zu Füßen und wurde mit 150 Dukaten jährlich als Lehrer der Philologie angestellt, dedizierte auch der Signorie seine Rhetorik. Durchgeht man aber die venezianische Literaturgeschichte, welche Francesco Sansovino seinem bekannten Buche angehängt hat, so ergeben sich für das XIV. Jahrhundert fast noch lauter theologische, juridische und medizinische Fach werke nebst Historien, und auch im XV. Jahrhundert ist der Humanismus im Verhältnis zur Bedeutung der Stadt bis auf Ermolao Barbaro und Aldo Manucci nur äußerst spärlich vertreten. Die Bibliothek, welche der Kardinal Bessarion dem Staat vermachte, wurde kaum eben vor Zerstreuung und Zerstörung geschützt. Für gelehrte Sachen hatte man ja Padua, wo freilich die Mediziner und die Juristen als Verfasser staatsrechtlicher Gutachten weit die höchsten Besoldungen hatten. Auch die Teilnahme an der italienischen Kunstdichtung ist lange Zeit eine geringe, bis dann das beginnende XVI. Jahrhundert alles Versäumte nachholt. Selbst den Kunstgeist der Renaissance hat sich Venedig von außen her zubringen lassen und erst gegen Ende des XV. Jahrhunderts sich mit voller eigener Machtfülle darin bewegt. Ja, es gibt hier noch bezeichnendere geistige Zögerungen. Derselbe Staat, welcher seinen Klerus so vollkommen in der Gewalt hatte, die Besetzung aller wichtigen Stellen sich vorbehielt und der Kurie einmal über das andere Trotz bot, zeigte eine offizielle Andacht von ganzbesonderer Färbung. Heilige Leichen und andere Reliquien aus dem von den Türken eroberten Griechenland werden mit den größten Opfern erworben und vom Dogen in großer Prozession empfangen. Für den ungenähten Rock beschloss man (1455) bis 10.000 Dukaten aufzuwenden, konnte ihn aber nicht erhalten. Es handelte sich hier nicht um eine populäre Begeisterung, sondern um einen stillen Beschluss der höheren Staatsbehörde, welcher ohne alles Aufsehen hätte unterbleiben können und in Florenz unter gleichen Umständen gewiss unterblieben wäre. Die Andacht der Massen und ihren festen Glauben an den Ablass eines Alexander VI. lassen wir ganz außer Betrachtung. Der Staat selber aber, nachdem er die Kirche mehr als anderswo absorbiert, hatte wirklich hier eine Art von geistlichem Element in sich, und das Staatssymbol, der Doge, trat bei zwölf großen Prozessionen (andate) in halbgeistlicher Funktion auf. Es waren fast lauter Feste zu Ehren politischer Erinnerungen, welche mit den großen Kirchenfesten konkurrierten, das glänzendste derselben, die berühmte Vermählung mit dem Meere, jedesmal am Himmelfahrtstage.

Bronzino: Cosimo I. dei Medici. Florenz, Galerie Pitti

Tizian: Tod der Lukretia. Wien, Galerie der Akademie der bildenden Künste

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 1. Buch