Stammesgenossen.

G., 23. September 1914.

Meine Lieben!


Infolge der Feiertage, die Ihr hoffentlich angenehm verlebt habt, komme ich erst heute dazu. Euch wieder zu schreiben. Ich bin in der Zwischenzeit wieder einmal ausgewandert, und zwar 40 km südllich nach G. Der Ort ist natürlich wie alle Orte, wo wir hinkommen, vollkommen durch Landsturm und andere durchziehende Truppen geschützt. Das Glück wollte es, daß ich gerade am Erew Rauschhaschonoh zum ersten Mal an einen großen Truppenort komme, in dem sich natürlich auch Juden befinden müssen. Aber ich sollte es sogar noch bequemer haben; abends um ½ 9 Uhr kam ich mit unserer Bagage und einem Teil unseres Personals im Dunkeln an, und meine schon vorher eingetroffenen Kollegen suchten vergeblich nach einem anständigen Quartier, alles sollte schon belegt sein. Schon das erste Haus, das ich betrat, schien mir das passendste zu sein. Es war eines der wenigen, die noch bewohnt waren und von den anderen ganz übersehen worden sind. Drei Landsturmleute hatten bereits ein Zimmer belegt, und für mich und zwei meiner Kollegen blieb noch je ein nettes Zimmer. Nach kurzer Begrüßung des Landsturms stellte es sich heraus, dass zwei Juden sind. Ihr könnt Euch denken, wie groß meine Freude war, so schnell Stammesgenossen zu finden, die noch dazu religiös waren. Es wurde nun gleich Bekanntschaft geschlossen, die beiden sind einfache, sehr ordentliche Kaufleute aus Schlüchtern. Selbstverständlich musste nun an die Bildung eines Minjan geschritten werden, was der vorgerückten Stunde wegen erst am nächsten Tage gefchehen konnte. Also wurde am ersten Rauschhaschonohtag mittags um zwei Uhr unter Teilnahme von zwölf Juden (Landsturm, Mannschaft, ein Feldwebel, zwei Bez.-Insp., zwei Jäger, zwei Dragoner usw.) zum ersten Mal Minchah gebetet, in meinem Quartier, und die Aufgabe des Chasan fiel mir zu. Ein Mann war dabei, der nicht einmal mehr richtig lesen konnte und 6 km zu Fuß zu diesem Zweck hergekommen war. Zwei Awelim konnten Kaddisch sagen, und das Schönste war, das einer von den zwölf sich bereits das Eiserne Kreuz verdient hatte für hervorragende Leistungen ... Im übrigen ist der Betreffende Gefreiter und schon zweimal dekoriert gewesen. Das Eiserne Kreuz erster Klasse ist bereits beantragt. Gestern morgen und nachmittag wurde natürlich wieder gebetet, soweit es nach den vorhandenen Sidurim (Machsorim fehlten leider) möglich war. Gestern nachmittag haben wir im Anschluss an das Beten einen Kaffee an weiß gedeckten Tischen gegeben, im Wohnzimmer meiner Wirtin. So gut wie es geht, feiert man also auch hier.

Sehr gefreut habe ich mich, Soldaten zu sprechen, die soeben aus dem Osten hierher gekommen sind. Auf diese Weise erlangte ich auch Gewissheit über das, was bei Euch los ist und beruhigte mich bei der Nachricht, daß das ganze Gebiet bis nach Russland hinein vom Landsturm besetzt ist. Die französischen Kleinstädte sind ganz anders als die deutschen; entweder sieht man Unsauberkeit, Unordnung und Armseligkeit oder Luxus und Pomp. Unser Kasino ist in einem wunderbaren Schloss am Ende der Ortschaft unter gebracht. Wenn man den Park betritt, so glaubt man sich in eine ganz andere Welt versetzt, so groß ist der Unterschied zwischen dem Kot auf den Straßen und der Sauberkeit des Parkes. Sogar ein Teich mit einem Kahn fehlt nicht, und von dem Schloss genießt man einen wunderbaren Blick auf die umliegenden abwechselungsreichen Berge und Täler und den Flusslauf der Aire.

Hoffentlich wird es mir auch möglich fein, den Jaum Kippur einigermaßen würdig zu begehen. Fasten werde ich selbstverständlich. Ich wünsche, daß Euch allen das Fasten gut bekommen möge, und verbleibe mit den innigsten Jaum-Kippur-Wünschen an Euch alle und die lieben Verwandten.

Euer Euch treuer Fritz.