Jüdisches Familienleben in Feindesland.

Schloss Bathelmont, 24. 9. 1914.

Meine lieben Eltern!
Die gesandten Zigarren erhielt ich gestern mit dem Brief vom lieben Vater. Wir haben hier an der Grenze starke Feldstellungen bezogen, um die Entscheidung und die Armee von Norden abzuwarten. Inzwischen habe ich recht langweiligen Dienst, der jedoch durch das gestern eingetretene Wetter verschönt wird. Rauschhaschonoh war ich am ersten Abend in Chateau Salins zum Essen bei F. L. mit J., den ich mitnahm. Die Leute meinten es mit uns recht gut, gaben uns ein Bett und waren recht nett. Wir waren wieder am jüdischen Tisch, machten Kiddusch, sangen Schir Hamalaus, konnten Mesummon benschen und waren im Geist zu Haus. Am Mittag des ersten Tages waren wir mit dem Kameraden von G. und noch einem Jehudi bei A. L., einer überaus bekoweten Familie, die noch jüdisches Familienleben kennt. Gott hatte es an diesem Tag ganz besonders gut mit uns gemeint, ich habe gebenscht und sah im Geist Euch alle meine Lieben um mich sitzen. Und den tiefen Sinn der Tefilloh verstand ich so recht. Es kam mir zu Bewusstsein, daß, wo auch Jehudim sich treffen und zusammen beten, sie gleich eine Familie bilden, auch wenn der eine die Spradie des anderen nicht versteht. Wenn sie zusammen oren, so geben sie einander Antwort und verstehen einander, eine Familie sind sie auf einmal geworden. Am zweiten Tag war ich in Marsal, ungefähr 3 km von hier. Wir horten nämlich, dass dort ein einziger Jehudi mit seiner Frau wohnt, der die Schul mit zwei Sesorim und Schofar der früheren Gemeinde als treuer Hüter eines verlassenen Postens bewacht. Da sagten wir uns, wir könnten dem B. — so heißt der 80 Jahre alte, noch rüstige Mann — eine große Freude machen und um 8 Uhr morgens hatten wir Minjan von lauter Soldaten in der kleinen Schul beisammen, da ein ganzes Regiment dort liegt, J. hat mit so viel „Lew“ geort und nachher Schofar geblasen. Mussaf betete ein gewisser G. vor. Nach der Synagoge hatte die Frau B. Kaffee gekocht und Butter und Brot zurechtgemacht. Wir konnten dann mit Minjan benschen, und die guten alten Leute weinten, hörten sie doch seit langen Jahren wieder das erste Mal benschen! Wir waren alle so glücklich. J. hatte sich vorgenommen, Jaumtauw koscher zu leben, koscher Fleisch gab es nicht, da verabredeten wir, jeder soll geben was er hat, um auch koscher zu leben. Ich gab die zuletzt gesandte Wurst, J. auch, G. gab Rauchfleisch, die übrigen Shokolade. Ich kochte, lekowet Jaumtauw, meine Spezialität, die ich im Feldzug lernte: Kartoffeln und Äpfel. Es schmeckte ausgezeichnet, und wir hatten ein Diner wie selten eines, dann Wasserschokolade und dazu Simchoh, Menuchoh, Erzählungen von zu Hause. Der alte B. brachte uns noch alten Rotwein, von welchem er 20 Flaschen gut versteckt hatte. Ich wiederhole, so schön hatte ich mir den Jaumtauw im Krieg nicht vorgestellt. Auch ein Leutnant der Reserve Dr. K. war mit uns zusammen. Die Franzosen sind wenig unternehmungslustig und bleiben in ihren Verschanzungen und treiben die Patrouillen vor. Die Post muss fort; seid herzlich geküßt.


Euer K.