Sohnesliebe.

Die Witwe Levi aus Zwesten, Bezirk Kassel, die sechs Söhne im Feld stehen hat, stellt uns mit folgenden Zeilen den nachstehenden Brief zur Verfügung : „Anbei empfangen Sie von mir zwei Briefe von meinem Sohn, bitte Sie aber um Gotteswillen, mir dieselben wieder zurückzusenden, denn ich bin eine ganz arme Witwe, wo nur die Briefe meiner Söhne mein Reichtum sind.“

Russisch-Polen, 31. Oktober 1914.


Mein liebes, gutes Mutterchen!

Mit tausend Freuden empfing ich heute Deine beiden Briefe vom 20. und 26. Oktober. Wie ich aus denselben entnommen habe, geht es Euch allen noch recht gut, und kann ich auch von mir G. s D. das Beste berichten. Aber, liebe Mutter, Deinen ganzen Briefen nach zu urteilen, kannst Du Dich gar nicht darüber naussetzen, daß Du 6 Söhne im Felde hast. Gewiß ist es keine Kleinigkeit für eine Mutter von 70 Jahren, noch sehen zu müssen, wie ihre ganzen Jungen, ihre einzige Hoffnung und ihre einzige Stütze, im Felde stehen. Aber, liebe, gute Mutter! Lasse Dir das Herz in dieser schweren Stunde nicht so schwer sein. Denke doch, wie oft Dir der liebe Gott in den heißesten Stunden beigestanden hat. Und soll er Dich gerade jetzt in dieser schweren Stunde verlassen? Nein, ich glaube es nicht. Denke Dir mal die Freude, wenn wir alle siegreich zurückkehren. Ach, was können wir Dir da so viel Neuigkeiten erzählen. Ja, ganze Bücher könnte man schreiben. Eine Freude und Ehre muß es Dir sein, daß wir alle fürs Vaterland kämpfen können. Und wer das gesehen hat wie ich, wie das Vaterland in Ostpreußen vom Feinde, von den niederträchtigen Russen, zugerichtet ist, der kämpft gern, und soll man den Tod vor Augen sehen, so sieht man ihm gern entgegen. Die kleinen Paketchen von Selma habe ich erhalten, das große noch nicht. Wird aber auch in den nächsten Tagen ankommen. Von Klara aus Wolfhagen habe heute zwei Pakete empfangen und von meiner Berta erhalte ich sehr viel. Dir, liebes Hannachen, danke vielmals für Deine Zigaretten.

Liebe Rosa! Über Moritz brauchst Du Dich nicht aufzuregen. Wie mir Jeannette schrieb, ist er bei leichter Munitionskolonne. Dann kommt er überhaupt nicht ins Gefecht. Er ist immer viele, viele Kilometer vom Gefecht entfernt, fährt täglich auf dem Wagen. Ja, fast bis in die Stube im Quartier. Dann ist er in Frankreich und ist es da tausendmal besser als hier in Polen. Lebensmittel sind dort im Überfluß, Wie es uns hier geht, will ich Euch mal mitteilen. 1. Der Weg!

Die besten Straßen sind schmutziger und schlechter als bei uns in Deutschland die schlechtesten Waldwege. Die Stiefel muß man festschnallen, damit selbige nicht im Dreck stecken bleiben. 2. Lebensmittel sind sehr rar und teuer. Das Pfund Zucker kostet Mk. 1.-, das Pfund Kaffee Mk. 3.-. Brot ist Seltenheit. Gern würde man aber den Preis bezahlen, wenn man nur was bekommen könnte. Mit der Kälte ist es gerade nicht so schlimm, wie Ihr es Euch vorstellt. Jedoch schlimmer als in Frankreich. Bei Namur ist es großartig gewesen, denn ich war auch da. Ja ich war sogar bei der Einnahme von Namur dabei. Lasset recht bald etwas von Euch hören und seid alle recht herzlich gegrüßt

von Eurem Emil.