Gesetzestreue im Feld.

Monthoise, 28. Sept.

[Zwischen Rauschhaschonoh und Jaum Kippur.]


Sehr geehrter Herr S.!


Es kommt im allgemeinen im Kriege nicht oft vor, daß man ein paar Stündchen Zeit und einen solch großen Briefbogen zur Hand hat. Da sich mir nun heute beides bietet, will ich mein bereits gestern geplantes Vorhaben ausführen und Ihnen kurz berichten, wie ich die Rauschhaschonoh-Tage hier im Felde verlebt und wie ich sie mir so feierlich wie möglich eingerichtet habe. Wenn man Glück hat und sich öfter mal etwas Zeit wegzustehlen vermag, so kann man auch im Felde wenigstens einigermaßen als Jehudi leben. Ich habe boruch haschem dieses Massel, etwas Scharfsinn gehört allerdings auch dazu, und so konnte ich es bis jetzt ermöglichen, jeden Tag Tefillin zu legen und meine sämtlichen Gebete, wenn auch zuweilen abgekürzt, zu verrichten. Ich behaupte natürlich nicht, daß dies jeder jüdische Soldat im Felde kann; der Infanterist oder Artillerist, der zuweilen zehn bis vierzehn Tage lang im Schützengraben im oder vor dem Gefecht steht, wie dies jetzt in der großen Entscheidungsschlacht zwischen Paris und Verdun der Fall ist, wird dies wohl kaum ermöglichen können. Aber viele andere jüdische Soldaten, die dem Train, der Bagage, den Munitionskolonnen, Sanitätskolonnen usw. angehören, könnten sich in dieser Beziehung, wenn auch der Dienst oft sehr schwierig und die Strapazen hart sind, auch im Felde ihre Jüdischkeit bewahren.

Das Nachsenden von koscher Ware aus der Heimat wäre recht schön, wenn unsere Feldpost besser funktionieren würde. Ich bin jetzt acht Wochen von Frankfurt weg und habe nur dreimal Post erhalten. Die ersten vier Wochen meines Fortseins habe ich überhaupt keinerlei Nachricht von zu Hause bekommen. Das war es auch, was mich um meinen Rauschhaschonoh hier im Felde seit Wochen beunruhigte. Diese heiligen Tage, die ich leider in solcher Verfassung und so fern von allen, die mir lieb und wert sind, verbringen mußte, sie wollte ich wenigstens koscher verleben. Keine Synagoge, kein Gottesdienst, kein Schofar, kein Heim, keine Familie, nicht einen Gesinnungsgenossen, der mir kesswo wechiassimo tauwo wünschte, oder dem ich es wünschen konnte, und dann nicht einmal Post, das waren bittere Tage für mich. Ich hatte mir Machsaurim, Wurst, Butter, Honig, Fleischextrakt, Suppen- und Gemüsewürfel von zu Haufe zu Jaumtauw erbeten, ich bin überzeugt, daß mir alles, um mir den Jaumtauw zu verschönern, geschickt wurde, ich erhielt es aber nicht und habe es heute am Tag vor Erew Jaum Kippur auch noch nicht. Sehen Sie, das sind Dinge, die einem im Felde, wo man ohnedies genug aussteht, wo man sich so nach Berichten von Frau, Kindern, Mutter, Geschwistern, Freunden und Verwandten sehnt, und deren kleine Liebesgaben man so gern empfängt, zur Verzweiflung bringen können. Also kurz und gut, wollte ich Rauschhaschonoh nicht trefo essen, so musste ich äußerst sparsam sein. Ungefähr zwölf bis vierzehn Tage vor Jaumtauw hatte ich die letzte Post erhalten. Sie brachte mir außer guten Berichten auch gar manches Genießbare. Davon wurden vorsorglich einmal zwei etwa ½ Pfund schwere Stücke geräucherte Wurst, zwei kleine Bouillonwürfel und zwei Tafeln Schokolade als „eiserner Bestand“ Rauschhaschonoh gut im Tornister verpackt. In Remily „requirierten“ meine Kameraden in einer einem reichen Abgeordneten gehörigen Villa so allerhand Genießbares, auch Honig und Eingemachtes. Hiervon tauschte ich mir gegen Tabak und Zigarren, die ich für teures Geld von den mit Autos kommenden Chauffeuren erstand, etwas Honig und Apfelgelee für Jaumtauw ein. Diese Kleinodien schleppte ich fast drei Wochen in meinem Brotbeutel mit herum. Am Donnerstag vor Rauschhaschonoh kamen wir von Sechault nach Lafontaine en Dormois, woselbst wir bei grässlichem Wetter drei Tage auf einer sumpfigen Wiese in Biwak lagen. Am Erew Rauschhaschonoh früh wurden wir um halb vier Uhr nicht durch Schofar Ton, aber durch Trompetensignal zu Selichaus geweckt, unsere Munition wurde abgeholt, so daß wir also Aussicht hatten, zu Jaumtauw aus diesem elenden Dreck herauszukommen, und richtig, ich hatte wieder Glück: um sieben Uhr Abmarsch nach Savigny. In S. kamen wir gegen drei Uhr bei strömendem Regen an. Die kleine Stadt war mit Militär überfüllt, und so mußten wir wieder auf freiem Felde kampieren. Als ich meine Pferde ausgespannt und abgeschirrt hatte, sah ich erst mal in meinem Luach nach, wann Jaumtauw sei. Es waren, wenn wir hier zum Munitionsempfang blieben, noch ungefähr drei Stunden Zeit. Nie hatte ich meine Pferde so schnell gefüttert, getränkt und besorgt wie an diesem Erew Jaumtauw. Auf dem Weg zur Tränke sah ich einen Soldaten, der Äpfel und Pflaumen in einem Eimer trug. Nach kurzem Handeln waren wir einig: für fünfzig Pfennig und fünf Zigarren kaufte ich ihm den Eimer voll Obst, den er im benachbarten Felde gesammelt hatte, ab und hatte so Jaumtauw Obst. Den größten Teil der Pflaumen kochte ich mir beim Abkochen, allerdings ohne Zucker, — den gibt's hier nicht mehr — zu Pflaumenmus. Es war mittlerweile halb fünf geworden, ich lief in den Ort, suchte mir einen Bäcker, um mir etwas Weißbrot zu Jaumtauw zu besorgen. „Le boulanger est parti,“ ist die Antwort, doch lasse ich nicht locker. Und wie ich richtig vermutete, hatten deutsche Soldaten die Bäckerei längst okkupiert und backten dort das schönste Weißbrot mit des Bäckers Mehl. Für sechzig Pfennig war auch bald ein Brot erstanden. Wieder eine Sorge weniger. Nun zum Friseur, mein Bart war in den fast sieben Wochen sehr verwildert — wieder „parti“. Diesmal ist nichts zu machen, ich muß mich also auf eine gründliche Reinigungskur und Wäschewechseln beschränken und sah danach, das muss ich gestehen, wahrhaftig auch noch nicht jaumtauwmäßig aus. Aber ich war doch ziemlich feierlich gestimmt, als ich gegen halb sieben, trotz des Verbots, den Biwakplatz zu verlassen, mich seitwärts in die Büsche schlug, um in Ruhe mein Maariw-Gebet zu verrichten. Es gelang mir dies unbemerkt. Ich ließ dann im Geist alle meine Lieben an mir vorüberziehen, wünschte jedem kefiwo wechassimo tauwo und gut Jaumtauw, beschenkte in Gedanken meine lieben Kinderchen und kehrte feierlich gestimmt zum Wagenplatz zurück, wo man mich mit der Nachricht empfing, daß ich für die Nacht auf Stallwache kommandiert sei. Ein extra Jaumtauwvergnügen, dachte ich, doch für einige Zigarren und Tabak war ich bald mit einem Kameraden handelseinig, daß ich nur von acht bis elf Uhr Posten flehen musste. Ich kochte mir schnell Wasser, bereitete mir mit einem Suppenwürfel eine schmackhafte Suppe, machte, da mein Brot noch ganz war, obgleich ich nur eines hatte, Kiddusch umauzi, holte Äpfel und Honig hervor und verzehrte meine Jaumtauwmahlzeit, die aus Bouillon, Wurst, Brot, Pflaumenkompott, Obst und Kaffee bestand, in tatsächlicher, wenn auch mit Heimweh gewürzter Jaumtauw- Stimmung. Allmählich waren die Kameraden zur Ruhe in die kleinen Feldzelte gekrochen. Ich blieb allein zurück auf Stallwache; das Wetter hatte sich aufgeklärt, der Himmel war sternenbesät, und ich hatte in der Einsamkeit nochmals zwei Stunden Zeit, mich in Gedanken mit allen meinen lieben Angehörigen und mit meinen lieben Freunden zu beschäftigen. Diese Momente, die ich so im Geist in der Heimat und bei meiner Familie verbrachte, waren die feierlichsten des diesmaligen Rauschhaschonoh für mich.

Am Rauschhaschonoh früh wartete ich das Wecken nicht ab, um vor dem „Kaffeetrinken“ in Ruhe beten zu können, jeden Augenblick darauf gefaßt, frühzeitig abbrechen zu müssen. Doch wieder war mir Glück: beschieden, wir konnten erst mittags neue Munition empfangen, und ich hatte später nach dem Stall- und Reinigungsdienst Zeit und Muße genug, Muffaf-Gebet zu verrichten. Mittags zwei Uhr, ich hatte mir eben mein Mittagsmahl hergerichtet und konnte noch mit knapper Not Tefillas Minchah verrichten, rückten wir ab nach dem 5 km entfernten Vouziers, einem kleinen Städtchen, wo es sogar zwei bis drei jüdische Familien, die aber vor dem Krieg geflohen sind gab. Ich betrat bei einem Rundgang durch die Stadt das mir bezeichnete Haus eines jüdischen Metzgers Scheuer-Cain, das vollständig ausgeplündert war, und fand oben auf all dem Plunder zwei Tefillaus liegen, die ich zum Andenken an mich nahm, die ich, wenn ich borudi Haschem aus dem Krieg heimkehre, dem Mann zurücksenden werde. In Vouziers standen unsere Pferde zwar in Scheunen, doch wir kochten im Freien ab, und ich konnte bei eintretender Nacht, beim Schein der Lagerfeuer mein Maariw-Gebet verrichten. Diese Nacht schlief ich auf einem Heuboden über meinen Pferden — auch ein Stück Jaumtauw, denn im Freien unter den Wagen oder in den kleinen Lagerzelten ist es eben schon sehr feucht und kalt. (Nebenbei sei bemerkt, daß wir in unserer Kolonne schon seit über sieben Wochen nicht mehr in einem Bett geschlafen haben.) Am nächsten Morgen war ich gerade mit dem Schacharis fertig, als wir um neun Uhr mit Munition abrückten, konnte aber, während die leeren Wagen beladen wurden, ungestört Mussaf beten und später in Sechault, als die Pferde besorgt waren, noch bequem Minchah-Gebet verrichten. Zum Essen blieb mir allerdings keine Zeit mehr. Ich hatte mir gerade ein Honigbrot geschmiert und etwas Obst hervorgeholt, als es „Kolonne aufgesessen, marsch“ hieß und wir weiter nach Lafontaine abrückten. Dort kamen wir kurz nach fünf Uhr an. Unsere Kanoniere, die keine Pferde zu besorgen haben, hatten inzwischen Feuer gemacht und abgekocht, ich setzte mir wieder mein Töpfchen mit Wasser auf, löste mir einen großen Suppenwürfel auf (diesmal vorzügliche Grünerbsen), und verzehrte meine Mahlzeit mit Behagen, allerdings diesmal etwas spät, es war fast sechs Uhr geworden. Dafür gab` s aber zum Menü vom ersten Tag Kartoffeln und nachträglich Tee, welch beides die Kameraden zu ihrer Mahlzeit bereitet hatten. Erwähnt sei noch, daß ich am ersten Tag an einem kleinen Bach in Vouziers nachmittags zu Taschlich war, den mi komaucho fand ich in der bei dem jüdischen Metzger dort mitgenommenen Rödelheimer Tefilloh.

Noch eine unangenehme Überraschung wurde unserer Kolonne am zweiten Tag Jaumtauw zuteil. Ein feindlicher Flieger überflog uns während der Mahlzeit zwischen 6 und 7 Uhr und warf zwei Bomben herab, die eine explodierte in einer Nachbarkolonne, die zweite ganz dicht bei unserer Kolonne, etwa 40 m vom Lagerplatz entfernt. Durch den aufgeweichten nassen Boden bohrte die Bombe ein tiefes Loch in die Erde, explodierte wohl mit furchtbarem Krach, doch blieben die Sprengstücke meist im Lehm stecken und verletzten niemanden. Nachdem der erste Schreck vorüber war, sprach ich das scheosoh li nes. So feierte ich das Rauschhaschonoh-Fest. Ich hatte nur noch den einen Wunsch, daß Haschem jisborach mir am kommenden Jaum Kippur dasselbe Massel gebe wie am Rauschaschonoh und dass er mir außer der Kraft zum Fasten auch die Zeit gebe, dass ich alle Tefilaus und die Vidui mit Andacht verrichten kann.