„DO IS ER, DER JID . . .“

. . ., 26. September 1914.

Am Vorabend des Neujahrsfestes rückte das Detachement, welches zur Besetzung des kleinen polnischen Städtchens . . . bestimmt war, ein. Die Einwohner bestehen zu zwei Dritteln aus Juden, von denen viele geflohen waren, in der Furcht, daß wir Deutschen die entsetzlichen Greuel, die von den Kosakenhorden in den nahen ostpreußischen Grenzorten begangen waren, vergelten würden. Das Städtchen war glücklich vor einer Beschießung und nahen Gefechten verschont geblieben und sah bei unserem Einzug so friedlich aus, als ob es gar keine Kanonen gäbe. Die Landwehrschwadron, der ich angehöre, hatte harte Tage hinter sich. Die Schlacht bei Tannenberg und die in ihrem Gefolge nötigen Geplänkel mit abgesprengten Kosakenabteilungen, später die Gefechte bei Lyck hatten uns alle Strapazen des Krieges auferlegt, und obwohl es in Strömen vom Himmel heruntergoss, waren wir herzlich froh. Tage der Ruhe für Mann und Roß vor uns zu haben.


Persönlich war ich in trüber Stimmung. Rauschhaschonoh fern von Haus und Hof in Feindesland! Vor mir lag der Marktplatz; schwer und schnell brach die Dunkelheit herein, und immer tiefer und größer wurden die typisch polnischen Schlammpfützen der Straße durch den erbarmungslos herabströmenden Regen.

Ich war durstig und bat in einem Haus um in Glas Wasser. Eine jüdische Witwe gab mir das Verlangte; wir kamen ins Gespräch, und als sie hörte, daß ich auch Jude sei, führte sie mich ins Zimmer, wo der jüdische Feiertagstisch mit den beiden Kerzen, mit Äpfeln und Brot gedeckt war. „Sie müssen hier mit uns essen,“ und da nützte kein Sträuben. Ich sprach das Kidduschgebet, teilte mit der guten Frau und ihren beiden Kindern das wohlschmeckende Abendessen, und wenn auch die Unterhaltung, halb jiddisch, halb deutsch, einige Schwierigkeiten bereitete, so wandelte sich meine Rührung bald in Behaglichkeit. Die Nachbarn kamen dazu, und gern gab ich auf alle nur möglichen Fragen Antwort. Alle sind des Lobes voll über die deutschen Soldaten; es sind mit wenigen Ausnahmen Hamburger Landwehrleute.

An beiden Feiertagen besuchte ich den Gottesdienst, der uns Westjuden eigenartig erscheint. Aber noch nie hat mich der Gottesdienst so ergriffen, wie das Flehen der Männer und Frauen an diesem schweren Rauschhaschonoh zum lieben Gott. Stecken doch die jungen Ehemänner, die Söhne, Schwiegersöhne und Enkel zahlreich in russischer Uniform. In Russland funktioniert keine Feldpost, niemand weiß, wo die Lieben sich aufhalten. Auch mir sind beim Unssane taukef-Gebet die hellen Tränen über die Wangen gelaufen, und ich glaube mich ihrer nicht schämen zu brauchen. Nachdem man mich beim „Dawnen“ gesehen hat, bin ich hier in . . . ein verhätscheltes Kind. „Alle Juden sind Brüder.“ Die arme Marktfrau, die mit Äpfeln handelt, ruft: „Do is er, der Jid, Gott laß ihn gefund,“ und täglich muß ich Einladungen zum Tee, zum Mittag- und Abendessen Folge leisten.

Es sind schwer bedrückte, aber herzensgute Menschen, unsere polnischen Glaubensbrüder, und mit mir wird wohl mancher Jude von feinem Vorurteil gegen die Gesinnung der polnischen Juden geheilt worden fein. Der Schnorrer, der nach Deutschland kommt, gilt als Prototyp des polnischen Juden, und das ist ein schweres Unrecht.

M. v. d. W.