Aufgaben des jüdischen Feldgeistlichen.

Aus einem der Berichte des Feldrabbiners Dr. Baeck an den Vorstand der jüdischen Gemeinde, Berlin.

Noyon, 15. Oktober 1914.


Über meine Tätigkeit in der Zeit vom 28. September bis zum 13. Oktober berichte ich ergebenst: Am 28. September siedelte ich von Allemant nach Chauny über, um dort die Feier des Versöhnungstages abzuhalten. Durch die Kommandantur wurde hierfür ein abgegrenzter Teil der Kirche „Notre Dame“ bestimmt, da alle sonstigen größeren Räume der Stadt durch Lazarette und Einquartierungen belegt und alle freien Plätze von den Lastwagen besetzt sind. Ich setzte einen zweimaligen Predigtgottesdienst an, Dienstag, den 29. September 5½ Uhr abends und Mittwoch 9 Uhr vormittags. Auf die Bitte der versammelten Mannschaften hielt ich dann noch um 4½ Uhr einen Nëilagottesdienst mit Predigt ab.

Alle drei Gottesdienste waren in gleicher Weise von den in Chauny Stehenden, etwa 35 bis 40 Mann, Mannschaften verschiedener Dienstgrade und Ärzten besucht. Der zur Verfügung gestellte mittlere Teil der Kirche, abseits vom Altar und den anderen sakramentalen Stellen, mit Kerzen beleuchtet, bot einen stimmungsvollen Raum. Die Gebete und die Predigten — an die Mussafpredigt schloß ich die Seelenfeier an — sprach ich von der niedrigen Kanzel aus; vor ihr waren Stühle für die Versammelten aufgestellt. Zu meiner Freude waren in der kleinen Schar auch mehrere Angehörige unserer Gemeinde. Ich hatte die Empfindung, daß der Tag allen nahetrat; mich, und wohl auch alle anderen hat es besonders ergriffen, wie in jedem der Gottesdienste die Sätze des „Owinu Malkenu“ laut nachgesprochen wurden, wie am Schluß der Seelenfeier das Kaddisch von einigen wiederholt wurde und wie am Schluß des Nëilagebetes die Sätze des Glaubensbekenntnisses den Ausklang bildeten. Erwähnen möchte ich auch, daß vor dem Schlußgottesdienst der Curé der Kirche, der des Deutschen etwas kundig ist, an mich die Bitte richtete, dem Gottesdienst beiwohnen zu dürfen, und sich als Andenken dann ein Feldgebetbuch ausbat.

Ich blieb in Chauny eine Woche, um die zahlreichen, dort befindlichen Lazarette, wie auch die der Umgegend zu besuchen. Chauny, ebenso Noyon, wo ich mich jetzt befinde, sind Hauptsammelstellen für die Verwundeten. Die Wege nach der Umgegend waren mir dort bisweilen erleichtert, da mir an einigen Tagen ein Wagen zur Verfügung gestellt wurde. Dieser Besuch der Lazarette erweist sich als ein sehr wesentlicher Teil meiner Tätigkeit. Den Verwundeten wird ein Stück Heimat gebracht und ihre Zuversicht gehoben; sie fühlen sich, wie ich oft bemerken konnte, schon dadurch aufgerichtet, daß auch zu ihnen, wie zu den Andersgläubigen, ein Seelsorger kommt. Daneben steht, daß den Angehörigen der Verwundeten regelmäßig Nachricht gegeben werden kann; ich habe an manchem Tag eine ziemlich umfangreiche Korrespondenz auszuführen.

In mehreren Fällen habe ich leider auch Trauernachrichten an Angehörige schicken müssen. Bei den Beerdigungen, bei denen die Toten zumeist in einem Massengrab bestattet werden, habe ich in Gemeinschaft mit dem evangelischen bzw. katholischen Geistlichen am Grabe gesprochen, nachdem ich neben ihnen dem Trauerzug gefolgt war. Ich habe stets den Hinterbliebenen hiervon, wie von dem Ort und der Zeit der Beerdigung, und vorher von den Einzelheiten des Hinscheidens Nachricht gegeben.

Von Chauny begann ich dann eine für längere Zeit berechnete Weiterfahrt, die mich zu den einzelnen Divisionen führen soll. Um näher an die Truppen heranzukommen, hat es sich mir als erforderlich herausgestellt, mich zu den einzelnen Divisionen und Brigaden, soweit möglich, zu begeben. Ich habe die gesamte vergangene Woche dem Beginn dieser Aufgabe gewidmet und je drei Tage bei zwei Divisionen zugebracht. Ich habe zwei kleine Feldgottesdienste im Freien abgehalten und dort, wo die jüdischen Soldaten sich ganz vereinzelt bei einem Truppenteil befinden, diese seelsorgerisch aufgesucht. Daneben habe ich in den Feldlazaretten und Verbandplanen nach jüdischen Verwundeten Nachfrage gehalten. Diese Kreuz- und Querwege waren mit mancherlei Schwierigkeiten und Strapazen verbunden; manches Dorf, in dem ich Nachtquartier nahm, war durch Granaten fast völlig zerstört, und die wenigen Häuser, die noch ein Dach und einige Fenster hatten, waren selbstverständlich durch die, welche ständig zum Truppenteil gehören, bereits vorher besetzt worden. Aber alle diese Mühen wurden durch das liebenswürdige Entgegenkommen der Truppenführer, ganz besonders der Generäle und der sonstigen höheren Offiziere, erleichtert.

Da den Pferden eine bei dem ungünstigen Wetter besonders erforderliche Ruhezeit gewährt werden muß, habe ich mich für einige Tage hierher, nach Noyon, begeben. Ich benutzte diese Zeit, um die hiesigen fünf Lazarette zu besuchen; außerdem habe ich für Sonnabend vier Uhr einen Gottesdienst ansetzen lassen. An einem der nächsten Tage will ich dann meinen Weg zu den weiteren Divisionen fortsetzen.

Ich habe noch nicht feststellen können, in welcher Weise meine Kollegen, die als Feldprediger einberufen worden sind, ihre Tätigkeit einrichten. Nur mit einem ist es mir bisher gelungen, in Verbindung zu treten: dieser hat, auf Anraten des betr. Oberkommandos, seinen dauernden Standplatz in dem Hauptetappenort genommen. Nach den Erfahrungen, die ich bisher gewonnen habe, beschränkt dies das Gebiet der Tätigkeit völlig. Es ist, trotz aller Beschwerlichkeiten, durchaus erforderlich, alle Teile der Armee aufzusuchen. Nur dadurch ist es möglich, daß, wenn auch vielleicht nicht alle, so doch viele den persönlichen Eindruck und die persönliche Gewißheit davon gewinnen, daß ein Rabbiner unter ihnen ist. Es ist sehr wesentlich, daß die jüdischen Soldaten dies erfahren, aber ebenso auch, daß die Andersgläubigen es wissen. Für die Anerkennung des Judentums ist dies unstreitig von Bedeutung, und es braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, daß jede Anerkennung der Juden doch zuerst und zulegt von der Anerkennung des Judentums abhängt. Es ist auch für die Stellung des jüdischen Soldaten wichtig, daß seine Religion sichtbar neben den anderen steht.

Es ist selbstverständlich, daß nicht alles geschehen kann, was der Wunsch und der Gedanke des Notwendigen tun möchten. Die jüdischen Mannschaften sind weithin verstreut, manches Regiment zählt nur zwei jüdische Soldaten; die verhältnismäßig größte Zahl, 17, scheint in der Armee, der ich zugeteilt bin, das . . . Regiment zu haben, das ich demnächst aufsuchen will. Für das Gebiet, das der jüdische Feldgeistliche zu verwalten hat, stehen z. B., nachdem ihre Zahl vor einigen Wochen erheblich vermehrt worden ist, 40—50 evangelische Geistliche und eine nicht viel geringere Anzahl katholischer im Dienst. Durch eine geeignetere Organisation hätte manches besser gestaltet werden können. Aber es ist ja zu hoffen, daß kein späterer Krieg mehr es gebieten wird, die Erfahrungen dieses Krieges nutzbar zu machen. Allein auch unter den obwaltenden Verhältnissen kann hier so manche Aufgabe ihren Platz finden.

Ich behalte es mir vor, in meinem nächsten Bericht über den sehr günstigen Eindruck, den ich von den jüdischen Soldaten gewonnen habe, Mitteilungen zu machen.

Darf ich auch von mir persönlich mitteilen, daß mein Befinden, auch an ungünstigen Tagen, stets gut war.