Das jüdische Elend und der Antisemitismus

Denn was gelten alle Vorzüge des Menschen,
wenn er keine Gerechtigkeit besitzt?

                                                        Josef Popper-Lynkeus.

Man wird es dieser Schrift vorwerfen, dass sie nicht eine Zeile positiven Gehalts enthalte, Sie verlege sich nur auf das Einreißen, Zerstören, Vernichten, Sie biete kein Auskunftsmittel, kein Programm, keinen Vorschlag zur Abhilfe. Sie kritisiere und nörgle und weise Schäden auf, ohne eigentlichen Nutzen, denn sie beschränke sich auf die Kritik, ohne jegliche aufbauende, schaffende Tat.


Es sei von allem Anfang an festgestellt: diese Schrift hat eine andere Aufgabe, als aufbauende, schöpferische Arbeit. Sie will keine Vergleichsausflüchte bieten, sie setzt ihren Ehrgeiz nicht darein, die unendliche Reihe reformatorischer Wunderkurrezepte um ein den anderen an Wertlosigkeit ebenbürtiges Stück zu vermehren. Sie will einreißen, zerstören und vernichten Sie will aufklären und d. h. Vorurteile einreißen, Wahnideen zerstören und Unwissenheit vernichten.

Diese Schrift wendet sich gegen zwei gleich gefährliche Feinde. Nicht um sie zu bekämpfen, sondern um ihnen zu besserer Erkenntnis zu verhelfen Gegen die Antisemiten modernster Richtung, die Geldjudenfresser und gegen diese Geldjuden selbst, sofern sie sich in jüdischer Wohltätigkeit betätigen.

Die wirtschaftliche Ausbeutung der nichtjüdischen Bevölkerung seitens der Juden ist eines der wirksamsten Waffenstücke der antisemitischen Rüstkammer. „Arme Christen und Hungerleider, jüdische Kapitalisten und Geldvergeuder“ betitelt sich eine 1870 in Wien erschienene „Weckstimme für das katholische Volk“. Heute will man an Blutmärchen nicht mehr recht glauben und die Pogroms als Freude Gottes, erwecken, wenigstens in den westlichen Ländern, auch bei der ungebildeten Masse nur ein bedauernswertes Lächeln, Aber dass „die Juden“ am Kriege schuld seien, oder am Frieden, an der Revolution und an ihrer Unterdrückung, am Kommunismus und am Kapitalismus, am Hunger und an der Prasserei, dass sie es waren, die aus Gewinnsucht Verbrechen auf Verbrechen häuften und gierig das Mark der armen einheimischen Bevölkerung aussaugten, um ihren Reichtum zu mästen - das alles sind Absurditäten, die auch in den “zivilisierten“ Ländern Europas Verbreitung finden.

Da hier weder eine Apologie des Judentums versucht, noch eine Widerlegung sinnloser Beschuldigungen ausführlich dargetan werden soll, vielmehr die Frage des Antisemitismus nur im Zusammenhange mit dem Problem des Elends gestreift wird, möge es genügen, wenn die folgenden kurzen, mehr angedeuteten als ausgeführten Gedanken an die Stelle langatmiger Erörterungen treten:

Die Vorstellung, dass die Juden eine einheitliche Wirtschaftsgruppe bilden, ist absurd. Sie wird entweder bewusst, um ein gewünschtes Kampfziel künstlich zu gewinnen, dadurch erzeugt, dass die an einem Teil wahrgenommenen Merkmale auf die Gesamtheit aller Juden ausgedehnt werden oder sie entsteht einfach aus Unkenntnis der wahren Verhältnisse. „Die Juden“, als Wirtschaftsgruppe, gibt es heute nicht. Sie mögen noch so sehr in jeder anderen Beziehung eine sichere Einheit darstellen, in ihren ökonomischen Verhältnissen sind sie eben sosehr untereinander geschichtet, wie die übrige Bevölkerung. Wenn Werner Sombart (Die Juden und das Wirtschaftsleben) von den Juden als Lieferanten, als Finanzmänner von „ihrer Befähigung zum Kapitalismus, von den Juden als Begründer und Förderer des modernen Welthandels, der modernen Finanzwirtschaft, der Börse, wie überhaupt aller Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens“ spricht, so ist dies eine von ihm selbst hervorgehobene absichtliche Einseitigkeit. Er muss um den Zweck seiner Arbeit zu erreichen von dem Juden, als Ausgebeuteten, eben dieser von anderen Juden miterzeugten kapitalistischen Wirtschaftsform absehen, er muss absehen von dem typischen Batlenjuden, von dem Provisionsagenten, von dem jüdischen Protestler, von dem Wanderschnorrer und von dem Heer der die kapitalistische Produktion nicht in hervorragender Weise fördernden jüdischen Luftproletarier. Von all dem abzusehen ist natürlich sein unbestreitbares Recht. Aber gleich Recht wäre es, — Seiten und noch mehr über das soziale Elend der Juden in der Welt zu schreiben. Es hat eben alles mindestens zwei Seiten und eine allein genügt nicht.

Die wesentlichste und wichtigste Einteilung der Bevölkerung ist die nach ihrer wirtschaftlichen Klassenlage. Nun sind aber die Juden keine wirtschaftliche Klasse oder Klassengruppe. Die Umgrenzung des Begriffes „die Juden“ ist aus einem ganz anderen — nationalen oder konfessionellen, aber gewiss nicht wirtschaftlichen — Einteilungsgrund erfolgt. Innerhalb dieses Begriffsumfangs sind also der Möglichkeit nach alle Unterteilungen, die sich bei Anwendung eines wirtschaftlichen Einteilungsgrundes ergeben, denkbar. Und in der Tat sind die allermeisten auch in der Wirklichkeit vorhanden. Innerhalb der Juden finden wir also vom reichsten Schmarotzer über den ewig um sein Dasein zitternden Mittelständler bis zu dem ganz- und halbverhungerten Elendshöhlenbewohner, fast die ganze reichhaltige Lagerung der auch sonst vorhandenen Berufs- und Standesschichten.

Es gibt den jüdischen Bankier und Großindustriellen, den jüdischen Millionär, den jüdischen Grundbesitzer, den jüdischen Groß- und Kleinkaufmann, den jüdischen Gewerbetreibenden, den jüdischen Angestellten, den jüdischen Arbeiter, den jüdischen Nichtstuer, den jüdischen Arzt, den Advokaten, Beamten, Künstler, Literaten, Studenten, Soldaten, Invaliden, Arbeitslosen, die arbeitende jüdische Frau und es gibt das jüdische Elend. All dies genau so mannigfaltig und reichhaltig wie bei den Nichtjuden. Allerdings drängt sich der jüdische Klein- und Großbürger, obwohl er der Vertreter einer verhältnismäßig kleinen Klasse ist, so laut und so lärmend in den Vordergrund, dass es einen nicht einmal Wunder nehmen darf, wenn man des jüdischen Proletariers und Lumpenproletariers vergisst. Obwohl diese in mächtigen Scharen vorhanden sind und jene an Zahl weit übertreffen! Da sind die in ihrer abhängigen Stellung im Laufe der letzten Zeit Proletarisierten und die es von jeher nie „auf einen grünen Zweig“ brachten. Unter ihnen wütet ebenso grässliches Elend, wie unter den anderen. Und der ungestillte Hunger des jüdischen Kindes tut genau so weh, wie der des christlichen. Besonders hervorgehoben muss die unglaubliche Verbreitung der Berufslosigkeit bei den Juden werden. Zehn von Hundert der im Jahre 1911 in Wien verstorbenen Juden waren berufslose Luftmenschen. Die Privatiers, Renten- und Hausbesitzer sind selbstverständlich nicht mitgezählt. Zu erwähnen ist ferner die typische Erscheinung des stets passiv wirtschaftenden in ewiger Sorge sich quälenden jüdischen Provisionsagenten und Hausierers. Die Lehrbuben, die statt ein Handwerk zu erlernen, mit oder ohne wertlose Handelsschulbildung die kaufmännischen und Bureaubetriebe überschwemmen, verzehren sich in ewiger Sehnsucht nach einem Menschenwürdigeren Leben und nach dem Licht eines höheren Zieles. Die Berufsumschichtung der besitzlosen Klassen des Judentums ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der Gesundung.

In manchen Bezirken des Elends ist jüdische und nichtjüdische Not so durcheinander gemengt, dass man sie nicht auseinanderhalten kann. Man tritt in eine Elendswohnung und weiß nicht, ob sie eine jüdische oder nichtjüdische Inhaberin hat, denn die eine sieht so elend aus, wie die andere. Dies muss trotz seiner Selbstverständlichkeit einmal ausgesprochen werden, weil es nie beachtet wird, weil der mangelhafte Gerechtigkeitssinn der Menschen, diese Selbstverständlichkeit unterdrückt.

Das jüdische Elend ist nicht anders als das nichtjüdische. Seine Darstellung erfolgt nicht, weil es ärger ist oder verbreiteter als jedes andere, sondern einfach, weil es da ist und dennoch absichtlich nicht zur Kenntnis genommen wird. So widersinnig es klingt, die vorliegende Schilderung jüdischen Elends wird lediglich zu dem Zwecke unternommen, um sein Vorhandensein denen, die es nicht sehen wollen, aufzudrängen. Es wird von den Antisemiten immer wieder der jüdische Millionär, der jüdische Bankier und der jüdische Kriegsgewinner mit der deutlichen Absicht herausgestrichen, damit mehr die Gefährlichkeit des Juden, als die Gefährlichkeit des Millionärs, Bankiers und Kriegsgewinners an sich zu betonen. So, als ob es eben keine jüdischen Bettler, jüdische Obdachlose, frierende und hungernde jüdische Kinder gäbe! Und keine nichtjüdischen Bankiers, Kriegsgewinner und Millionäre!

Wenn die so Angegriffenen sich selbst verteidigen oder sich von den ihre Weltanschauung teilenden besoldeten Anwälten verteidigen lassen, sieht es in der Regel recht drollig aus und es wäre in der Tat nur lustig, wenn nicht auch das jüdische Volk in seiner Gesamtheit, also auch die armen und die Not und Elend leidenden Juden durch eben diese „Verteidigung“ um den letzten Rest ihres Kredites zu kommen mit Recht befürchten müssten. Jene verteidigen ja in Wahrheit nicht das Judentum in seiner Gesamtheit, sondern das jüdische Bürgertum mit besonderer Berücksichtigung seiner großherrlichen Spitzen; die Millionäre, Bankiers, Kriegsgewinner, die sich hinter dem Frontbanner des „Judentums“ verbergen wollen, wenn sie auch so tun, als ob ihnen die angegriffene Ehre des Judentums am Herzen läge. So heißt es zum Beispiel in der 1859 erschienenen Denkschrift über die Stellung der Juden in Österreich neben anderen unterhaltlichen Dingen: „Man hat die Juden oft unpatriotisch und revolutionär genannt, man mache sie zu Grundbesitzern und Staatsbürgern, wir glauben, man wird sie patriotisch und konservativ finden“, nachdem einige Seiten vorher mit Befriedigung festgestellt wird, dass „sie (die Juden) an allen Pflichten, die ihr Vaterland auferlegt, mit Anteil haben, dass sie alle Lasten tragen, ihre Steuern zahlen, in den Heeren dienen und auf den Schlachtfeldern fallen“... „Und wer könnte etwas anderes als Frevel und Wahnsinn darin erblicken, — heißt es In der famosen Schrift weiter — wenn jemand die Gefahr der Abschwächung und des Entschwindens der christlichen Staatsidee über die moderne Welt heraufbeschwören wollte? Bestünde diese Gefahr wirklich, dann wären wir von unserem Standpunkte aus die Ersten, welche gegen die Emanzipation der Juden in dieser Richtung und selbst dann noch plädieren würden, wenn man sich selbst damit genötigt sähe, der Gerechtigkeit und Humanität ins Angesicht zu schlagen“.

Wenn die Feinde ehrlich wären, würden sie mehr Erfolge erzielen. Sie dürften den Kampf gegen Schädlinge nicht verwässern durch Miteinbeziehung Unschuldiger in den Kampfgegenstand. Sie müssten gegen Millionäre, Bankiers, Kriegsgewinner überhaupt, nicht aber gegen jüdische Großbürger allein, wie sie es in Wirklichkeit tun, mit der verruchten Absicht losziehen, das jeder einheitlichen, wirtschaftlichen Gestaltung ermangelnde jüdische Volk zu treffen. Damit aber würden sie aufhören, unehrliche Antisemiten zu sein und müssten redliche Antikapitalisten werden, wobei sie allerdings die Hände voll zu tun bekämen, ohne dass sie in semitische Fernen zu schweifen brauchten.

Süßholzapologien sind auch jene Versuche durch Zusammenstellungen gelehrter Zitate auf den ethischen Gehalt des Judentums hinzuweisen. Hillels Ausspruch z. B. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dies ist Gesetz, alles andere Kommentar“ besagt gar nichts über die Erfüllung oder Nichterfüllung der primitivsten Forderungen der Sittlichkeit seitens irgend eines jüdischen Bankdirektors aus dem 20. Jahrhundert. Die Lehre bedarf der Verteidigung nicht. Der Verteidigung bedürftig sind die heute lebenden Juden. Die wirksamste Widerlegung aller Angriffe wirtschaftlicher Natur gegen sie als Gesamtheit ist die Klarstellung der Tatsache des jüdischen sozialen Elends.

Was über das allgemeine soziale Elend in seinem Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft gesagt wurde, gilt mit uneingeschränktem Recht auch für das jüdische Massenelend, das ganz genau wie das nichtjüdische in der jüdischen und nichtjüdischen Profitwirtschaft seinen zureichenden Grund findet. Innerhalb der nationalen Einheit des jüdischen Volkes tummeln sich die Vielheiten der Klassengegensätze. Nicht minder hart aufeinanderstoßend, als in anderen nationalen Einheiten. Nur ist man sich in Bezug auf die anderen Völker dieses Umstandes bei Freund und Feind bewusst und niemand fällt es ein, auch das tschechische Volk z. B. als eine Klasseneinheit zu setzen. Nur mit Bezug auf die Juden will das Vorurteil nicht schwinden, dass sie in ihrer Gesamtheit ein Volk von einer ganz bestimmten, wirtschafts-politischen Prägung seien, etwa Ausbeuter, oder Schmarotzer, oder Kapitalisten. Man vergisst allerdings, dass man im gleichen Atemzug auch von der jüdischen Rebellion spricht, die im Begriffe sei, die Welt zu verseuchen — denn bekanntlich ist der Bolschewismus wie auch jede andere revolutionäre Bewegung ein jüdisches Geheimpatent — nicht bedenkend, dass ein Volk von Kapitalisten doch wohl schwerlich für das Harakiri einer kommunistischen Revolution eifern wird. Wo es Revolutionäre gibt, da muss es wirtschaftliches Elend geben, wo Unzufriedenheit gärt, muss der Grund zu ihr zu finden sein. Zeugt der Vorwurf (wenn man ihn so bezeichnen kann) von der jüdischen Revolutionsanzünderei nicht auch schon wider die verkündete Ausbeutung der Nichtjuden seitens der „Juden“?

Die Tatsache des jüdischen Elends muss offenbar werden, um den Irrtum (wenn er nicht vielmehr einer absichtlichen Verhetzung zur Grundlage dient) von der Wirtschaftseinheit des jüdischen Volkes zu zerstören, um zu zeigen, dass auch unter den Juden die zwei Nationen der Reichen und der Armen einander als Todfeinde gegenüberstehen, die einen, nichts von dem Elend der anderen wissen wollend, jene hinwieder keinen Anteil verlangend von dem Hass, den diese bei ihren Feinden ernten ... Mögen die ihn allein tragen, die die Vorteile seiner Ursache, die Vorteile des Reichtums, genießen.

Bleibt nur noch eine Frage In welchem zahlenmäßigen Verhältnis stehen die einzelnen Bevölkerungsschichten innerhalb der Judenheit zu einander? Vielleicht ist der Unterschied zwischen dem Wohlstandsdurchschnitt der jüdischen Bevölkerung und dem der nichtjüdischen, natürlich mit Berücksichtigung ihres Zahlenverhältnisses, so groß, dass der antisemitische Vorwurf der jüdischen Ausbeuter und Kapitalistennation, wenn auch nicht absolut, so doch im Durchschnitt gerechtfertigt erscheint? Vielleicht gibt es unverhältnismäßig mehr jüdische Kriegsgewinner und unverhältnismäßig wenig jüdische Proletarier? Vielleicht gelingt durch die Durchschnittsrechnung, was bei der gewöhnlichen absoluten Aufstellung nicht zustande kam: die Judenhatz?

Es sei vorweg bemerkt, dass Durchschnittsvergleichungen in Fragen, die die Sicherheit und Unversehrtheit des Lebens betreffen, unter gar keinen Umständen statthaft sind. Sie führen in letzter Folge auf die kannibalische Methode zurück, die Durchschnittszahl der in einer Horde anlässlich eines kriegerischen Überfalles Getöteten von der besiegten Partei zurückzufordern. Es ist Schacher mit Menschenleben. Aus Durchschnittsrechnungen Folgerungen zu ziehen, die das Leben eines einzelnen berühren, ist im höchsten Maße als eine unsittliche Handlungsweise zu verabscheuen. Nach der hier zu Grunde liegenden Auffassung, die auf den hohen moralischen Grundsätzen Josef Poppers fußt, dürfen selbst schwere Verbrechen, die allen Juden, mit Ausnahme eines Einzigen, zur Last fallen, nicht in der Weise verallgemeinert werden, dass dieser eine Unschuldige irgend einen Schaden an seiner Lebenshaltung erleide. Das einzelne Menschenleben ist unvergleichbar und unersetzlich und niemand kann für das Verhalten anderer haftbar gemacht werden. Was die Juden betrifft, war es bekanntlich seit jeher umgekehrt. Stets mussten alle für das Vergehen einiger ihrer Volksgenossen die schwersten Leiden auf sich nehmen. Und eben das gleiche Prinzip liegt ja auch dem Durchschnittsverfahren zu Grunde, das Prinzip nämlich, an allen die Sünden der Schuldigen zu rächen, anstatt diese herauszugreifen, sie mit den aus anderen Verbänden Herausgegriffenen zusammen ihre eigene Schuld sühnen zu lassen.

Selbst wenn also jener berüchtigte belastende Durchschnitt wirklich vorhanden wäre, müssten alle gebräuchlichen Folgerungen aus dieser Tatsache wegfallen. So wenig jemand mit Hinweis auf den gleichfalls durchschnittlichen Nationalwohlstand der deutschen Nation einen hungrigen Bettler ebendieser Nation abzuspeisen vermöchte, darf es irgendwer wagen, das jüdische Elend unbeachtet zu lassen, die heuchlerischen Augen immer auf durchschnittliche Beziehungen gerichtet, oder gar gegen alle Juden, einschließlich der Masse der Armen, feindliche Front zu machen, weil eine Wohlstandsstatistik einen belastenden Durchschnitt ergab. Nicht bedenkend, dass eben jene Armen vom schönsten Durchschnitt ebenso geringen Nutzen haben, wie der letzte Straßenbettler von den in seiner nationalen Reichtumszusammenstellung an der Spitze marschierenden Millionären.

In Wahrheit aber ist eine solche Durchschnittsrechnung, also eine konfessionelle Wohlhabenheitsstatistik, noch nie vollständig durchgeführt worden. Sie stößt auch in der Tat auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Gibt es doch z. B, in Wien keine amtliche Statistik über die Juden und die letzte, die mit Benützung amtlicher Quellen in Österreich versucht wurde (Veröffentlichungen des Bureaus für Statistik der Juden, Heft 4, Die Juden in Österreich) enthält begreiflicherweise keinerlei Lebensführungsdaten, Es ist nicht einmal genau bekannt, wie viele jüdische Haushalte und wie viel Personen jüdischen Glaubens in Wien derzeit vorzufinden sind. Die Daten der Volkszählung von 1910 sind natürlich längst veraltet. Wie sollte dann eine Statistik der Wohlhabenheit möglich sein? Auch ist es nicht sicher, ob sie in Zukunft je wird unternommen werden können. Denn der Staat hat bei der heutigen Entwicklung der Verhältnisse immer weniger Interesse an der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung und es spricht viel dafür, dass er nicht gewillt sein wird, dauernd seine Arbeiten mit der Berücksichtigung des für ihn nebensächlichen konfessionellen Moments zu belasten. Und wenn nach Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der jüdischen Nation die nationale Unterscheidung an die Steile der konfessionellen treten wird, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein sehr großer Teil der Juden sich nicht zur jüdischen Nationalität bekennen, also für die Zählung des jüdischen Nationalvermögens verloren gehen wird. Man sieht daraus auch, wie die ohnehin so schwankende nationale oder konfessionelle Grenzlinie für wirtschaftliche Begriffsbestimmungen vollständig untauglich ist.

Die durchschnittliche Lebenslage des Juden (es kommt für uns naturgemäß nur der Wiener Jude in Betracht, das von ihm Gesagte gilt natürlich auch von den meisten Juden) ist also nicht festzustellen. Sie wäre auch im höchsten Grade überflüssig, da sie keinerlei praktische Folgen zeitigen könnte.

Aus der weiter (S.40) angeführten Übersichtstafel des Friedhofamtes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien ist allerdings zu entnehmen, dass beispielsweise im Jahre 1918 von 4.035 Leichenbegängnissen 2.001 d. i. 50 v. H. Gratisbeerdigungen waren. Man muss sagen, dass daraus der Beweis erbracht ist, dass 50 v. H. der Juden Wiens in so kümmerlichen Verhältnissen leben, dass sie bei einem Todesfall nicht einmal die bescheidenste Beerdigungsgebühr bezahlen können.

Dem Antisemitismus, der jedes Gerechtigkeitsgefühles bar ist, müssen die Einzelbilder vom jüdischen Elend entgegengehalten werden. Sie müssen ihm seine Angriffswaffen rauben. Er wird sich nicht gegen die Juden als eine Wirtschaftseinheit, die nicht besteht, wenden können, er wird vielmehr gezwungen werden, die Klassengegensätze, die zwischen Juden und Juden herrschen, zu unterscheiden, wobei er die für ihn merkwürdige Entdeckung machen wird, dass diese die gleichen sind, wie die von der gesamten anderen Bevölkerung bekannten. Die Schilderung von einzelnen jüdischen Schicksalen, aus Gram und Elend gemalt, sind die wirksamsten Gegenbilder zu dem fetten Kriegsgewinner, der auf christlich-sozialen Wahlplakaten das jüdische Volk vertritt.

Zumindest muss der Versuch zu einem solchen Vorhaben unternommen werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdisches Elend in Wien