Das soziale Elend und die bürgerliche Gesellschaft

Der Wirtschaftslehre, also derjenigen „Wissenschaft“, in deren Aufgabenkreis das Problem des Elends fällt, wird von vielen bedeutenden Männern, von Marx, von Tolstoj, von Popper-Lynkeus, jeder theoretische und praktische Wert abgesprochen. Die Nationalökonomie und die Sozialpolitik seien gar keine Wissenschaften, sie bringen uns keine neuen Kenntnisse, weder vermitteln sie uns neue Tatsachen noch erschließen sie uns neue Zusammenhänge.

Wenn wir von einer Wissenschaft Aufklärungsarbeit fordern, kann sie dies natürlich nur in ihrer angewandten Form tun. Die reine Wissenschaft hat mit Aufklärung gewiss nichts gemein. Es kann uns also vorderhand gleichgültig sein, ob die Volkswirtschaftslehre eine wirkliche Wissenschaft oder bloß eine mehr oder minder nützliche Registratur bereits unabhängig von ihr bekannter Tatsachen darstellt. Wie dem auch sei, es liegt weder in der einen noch in der anderen Auffassung ihres Wesens etwas, was dagegen spräche, dass ihre Erkenntnisse nachträglich in die Massen getragen und verwirklicht würden. Sie könnte, sei es als Voll- oder als Hilfswissenschaft, die tatsächlichen Verhältnisse in anschaulicher Form verbreiten und die offenbaren Zusammenhänge darstellen. Sie könnte mit dem argen Menschenelend mit Leichtigkeit Bände füllen, ohne erst mühselige Untersuchungen anzustellen, da der Gegenstand einer solchen Darstellung, eben das Elend, auf allen Straßen offen zu Tage liegt.


Und dennoch unterlässt sie diese unvergleichlich dringende Aufgabe, obwohl alle Voraussetzungen für ihre Erfüllung gegeben wären, ebenso wie sie die zweite neben der Wissenschaft gleich wertvolle Einrichtung unseres öffentlichen Lebens unterlässt: die Presse, Auch sie wäre der schönen Aufgabe gewachsen, vielleicht noch unter weit günstigeren Umständen, als die Professoren der Universität.

Obwohl nun diese Aufgabe, die Verbreitung der Kenntnis des Massenelends in der modernen Gesellschaft nicht schwieriger ist, als andere, die in Angriff genommen werden und, obwohl man annehmen müsste, dass die sie ausführen in Hinblick auf den großen Nutzen, den sie der Menschheit bringen — es sei nur hervorgehoben, dass ihr Gelingen dazu beiträgt, die Kluft, die zwischen den Klassen gähnt, zu überbrücken und den Hass, das Unverständnis und die Furcht zu mildern — der Dankbarkeit aller gewiss sein könnten, finden sich dennoch sowohl im Reiche der Lehrkanzeln als auch in den Schreibstuben der Tagesschriftsteller nur sehr wenige, die sich dieser Arbeit widmen.

Warum? Weil sich die besitzenden Klassen, sei es aus Trägheit, sei es aus Arglist, das Schweigen dieser öffentlichen Mahner geheimer Schulden erkauft haben. Die Sozialwissenschaften und die Sozialkritiken der bürgerlichen Presse stehen (mit vereinzelten Ausnahmen der ersteren) im Dienst der herrschenden Ordnung. Sie können und wollen nicht frei schildern, weil sie dann anklagen müssten. Dazu aber sind sie zu unfrei. Unfrei von Vorurteilen, unfrei von Respekt vor verschiedenen Hoheits- und Heiligkeitsrechten und unfrei von Macht und Geldherrschaft. Deshalb schwatzen jene von Nationalwohlstand, wo auf einen Reichen tausend Hungerleider fallen, die von dem durchschnittlichen „mittleren Einkommen“ ihren nagenden Hunger nicht stillen können. Diese hinwieder schwärmen von der Freiheit der Wirtschaft, die heuchlerischen Augen immer auf jene rücksichtslosen Räuber gerichtet, die von ihr in schwindlerische Höhen gebracht werden, nie aber auf jene namenlosen Massen, die durch eben diese Freiheit in das Vergessen des Elends geschleudert werden. „Sie (die Presse) schrieb 1894 T. W. Teifen (Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Österreich) nimmt in wirtschaftlichen Fragen stets einen veralteten Standpunkt ein und verhehlt dem Volke absichtlich und unabsichtlich, was ihm zum Nutzen gereicht. Sie nimmt diesen Standpunkt aus Berechnung oder instinktiv ein, denn jede größere Zeitung ist ein Organ der herrschenden Partei und ein kapitalistisches Unternehmen und deswegen politisch und volkswirtschaftlich konservativ. Die Zeitungen haben ein Interesse daran, dass die Dinge bleiben wie sie sind.

Die bürgerliche Welt will sich, so scheint es, in der Selbsttäuschung, in der sie sich befindet, erhalten. Sie zeigt wenigstens nicht die geringste Anwandlung zu einem freiwilligen Umlernen. Das Fürchten allein nützt nichts und der Umkehr ist eine Zeitgrenze gezogen. Obwohl an allen Enden Feuerzeichen aufflammen, bringt sie, die bürgerliche Welt, nicht die Kraft auf, die erforderlich ist, um sich, wenn auch mit Verlusten, vor dem drohenden Untergang zu retten.

Was hauptsächlich fehlt ist Tatsachenkenntnis. Theorien gibt es mehr als genug. Aber so einfache alltägliche Dinge, wie etwa die Teilung einer Bettstelle zu Dritt oder zu Viert, oder gar den vollkommenen Mangel einer solchen, ja vielleicht nicht einmal das Schlafengehen ohne Abendbrot, können sich jene anschaulich vorstellen, die selbst ein Schlafzimmer ihr eigen nennen oder das Nachtmahl für eine unentbehrliche Einrichtung halten. Und wie nützlich wäre eine solche anschauliche Vorstellung! Denn die Befreiung von den Gegebenheiten kann nicht kommen ohne Kenntnis von eben diesen Gegebenheiten, die Elendsbefreiung kann nicht sein ohne Elendskenntnis. Deshalb ist auch die Einzeldarstellung unvergleichlich wertvoller, als die beste Statistik, Jene ermöglicht das persönliche Erleben, während sich diese auf unanschauliche Zählergebnisse beschränkt. Jene bietet greifbare Bilder, diese abstrakte Zusammenfassungen, in denen sich alles Einzelne auflöst. Es kommt aber eben auf das Einzelne an. Denn der Menschliche Geist ist viel mehr empfänglicher für bildhafte Vorstellungen als für abstrahierte Gedankengebilde, Der Einzelfall ist auch in sich geschlossen, er stellt ein Schicksal dar, ein Stück Leben, das jeder auf sich beziehen kann und auch in der Tat bei jeder Äußerung des Mitleids oder des Schreckens wirklich auf sich bezieht, indem er unbewusst sein Ich oder die Person seiner Lieben in das mitleiderregende oder erschreckende Bild einsetzt. Dies ist aber das unfehlbarste Mittel, um sich von der Art, wie eine Lage auf andere wirkt, sicher zu überzeugen. Der eindringlich vorgeführte Einzelfall ermöglicht eben eine persönliche Einstellung, die bei einer zahlenmäßigen Darstellung noch so fürchterlicher Massenerscheinungen bei den meisten Menschen ausbleibt. Die Aufklärungsarbeit muss also, wenn sie wirksam bleiben will, auf die Natur des menschlichen Geistes Rücksicht nehmen, sie muss den einzelnen Fall greifbar wirklich schildern und auf die Massenhaftigkeit seines Vorkommens nur hinweisen.

Noch ein Wort über das „selbstverschuldete“ Elend, Wie oft hört man die Klage von allerlei hochgeborenen Herrschaften: ja, die Leute sind selbst Schuld an ihrem Jammer. Sie verdienen es nicht besser, Bettler gehören bekanntlich ins Werkhaus und die verbreitete Geschichte von dem Arbeiter, der seinen Lohn versäuft und verspielt und Frau und Kind an den Bettelstab bringt, empört noch immer alle guten Seelen. Das „Volk“, worunter das Proletariat verstanden wird, sei arbeitsscheu und eine Hilfe sei nicht denkbar. Wurde doch sogar nach Kriegsende, eine abscheuliche Hetze gegen die ohne ihr Dazutun arbeitslos gewordenen Heimkehrer betrieben und eben dasselbe Bürgertum, das die Selbstverschuldung der Not immer so bereitwillig bereithält, schämt sich nicht, auch die von ihm miterzeugte Arbeitslosigkeit auf die Schultern des ohnehin alle Lasten tragenden „vierten Standes“ zu wälzen.

In Wahrheit aber ist die Zahl der Fälle, in denen tatsächlich persönliche Schuld zu Not und Elend geführt haben, verschwindend klein. Sind doch die allermeisten Armen auch Kinder der Armut. Von der Geburt auf in der Umwelt des schmutzigen Elends aufgewachsen, ist ihren Augen der Glanz der Freude immer fremd gewesen. Von den Gütern des Lebens stets künstlich ferngehalten, wurde ihnen von einer übermächtigen Zwangsorganisation, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die Möglichkeit zur Schaffung einer behaglichen Lebensführung geraubt. Nur durch glückliche Zufälle oder durch außergewöhnliche Begabung im Verein mit anderen fördernden Umständen — nie mit Begabung allein und sei diese noch so groß — gelangt unter Tausenden Wurmexistenzen eine zu Sättigung, Ansehen und Ehre. Der Vorgang ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht der, dass jemand von der sonnigen Höhe befriedigender Verhältnisse durch Leichtsinn in den Abgrund des Mangels stürzt, sondern vielmehr der, dass zu dem herrschenden Mangel nichts dazukommen will, als die oft unverwüstlich zähe, aber meist völlig leere Hoffnung auf Besserung. Die Hoffnung mag im Verhältnis zur zunehmenden Dringlichkeit ihres Gegenstandes, der wirtschaftlichen Gesundung, immer drängender werden, die Verhältnisse selbst richten sich nicht nach Wünschen und eitlen Hoffnungen, sie werden immer unerträglicher und müssen dennoch getragen werden. Ob dann noch die eine oder die andere persönliche Eigenschaft zur Verschärfung des einen oder des anderen Umstandes beiträgt, ist von nebensächlicher Bedeutung. Vom Sparen allein ist noch niemand, außer in den moralitätstriefenden Lesebüchern, reich geworden und wie viele Reiche sind trotz oder eben infolge ihrer Hochstaplermanie immer höher gestiegen? Und werden etwa die trinkenden und hazardierenden Edelmänner hohlwangige Tuberkulosekandidaten? Nein, in der Welt der Wirklichkeiten vollzieht sich Aufstieg und Absturz nicht nach moralischen Grundsätzen. Viel eher nach dem Vorhandensein oder Fehlen von Bankeinlagen.

Und wenn auch! Nehmen wir den unwahrscheinlichen Fall einer tatsächlich geliehenen persönlichen Verschuldung des Notleidenden. Ist damit der Vorwand der fehlenden Verpflichtung der Gesellschaft diesem einen sich selbst ins Unglück stürzenden Menschen gegenüber auch nur im geringsten gerechtfertigt? Bezeichnet man nicht die Rettung eines Selbstmörders als eine auszeichnende Heldentat? Wird man zusehen, wie sich jemand in seinem Blute wälzt, ohne helfend hinzueilen, wird man sich vorerst überzeugen wollen, ob jener, der dort in einer Lache voll Blut liegt, nicht am Ende durch sein eigenes Verschulden in die Lage geraten ist, die schließlich zu seiner Verwundung geführt hat? Wieder muss an die ungeheure Bedeutung des Lebens jedes einzelnen Menschen, ohne Unterschied aller sonstigen Umstände, erinnert werden. Die Bedeutung des einzelnen Menschenlebens die am eindringlichsten offenbar wird, wenn man an sein eigenes oder an das seiner nächsten und liebsten Mitmenschen denkt, ist so gewaltig, dass die Tatsache allein, dass einer in Gefahr schwebt, alle anderen Menschen zu sofortiger Hilfeleistung auffordern müsste. Eine Untersuchung, ob die Gefährdung dieses Menschenlebens auf eigenes oder auf fremdes oder auf gar kein Verschulden zurückzuführen ist, darf hierbei von keiner praktischen Bedeutung sein. Und dass Not und Elend in den meisten Fällen einer unmittelbaren Bedrohung des Menschenlebens gleichkommt, braucht nicht erst gesagt zu werden. Der Arme wird auch im altjüdischen Schrifttum einem Toten gleichgerechnet, weil ihm die Mittel zum Leben — die Lebensmittel — fehlen. Eine Untersuchung der Schuldfrage vor der Hilfeleistung, wobei diese von dem Ausgang der Untersuchung abhängig gemacht wird, ist ein Verbrechen an jenem höchsten Grundsatze einer jeden ethischen Gesinnung, die die Ehrfurcht vor dem Menschlichen Leben höher als alles andere setzt. Allerdings ist leider in der gegenwärtigen Zeit wenig Verständnis für derlei Maximen zu erwarten.

Nichts ist schwerer zu beantworten als die Frage nach dem eigenen Anteil an der Verursachung der eigenen Not. Kein Mensch hat das Recht, sich ein unfehlbares Urteil anzumaßen, den Hilfesuchenden von der Türe zu weisen Du Unglücklicher, weg mit dir! Du bist selbst schuld, dass es mit dir so weit gekommen ist. Wer das Elend von seiner Innenseite kennt und es in seinen letzten Verkettungen versteht, wird nicht also handeln. Nur der Außenstehende, nur der sich dem Proletarier als „gnädiger Herr“ Gegenüberstellende kann Urteile fällen, kann Richter sein und Henker,

Der Vorwurf vom „selbstverschuldeten“ Elend darf ebenso wenig zur Richtung gebenden Weisung bei der Behandlung eines Notfalles werden, wie selbstverbrochener Reichtum zur Ursache der öffentlichen Missbilligung der Gesellschaft gemacht wird. Wir sind nicht Herren unserer Geschichte, wir stehen in der Hand der Verhältnisse, in deren Unfreiheit wir uns begeben haben. Die Abhängigkeit aller von allen ist vollständig.

Kehren wir zur Aufklärung über das Elend zurück. Je reiner der sittliche Standpunkt des Darstellers ist, um so rücksichtsloser und lebenswahrer wird seine Schilderung ausfallen. Diejenigen aber, die sich äußerer Rücksichten zuliebe der Pflicht der Aussage entziehen, werden dringend verdächtig, entweder mitschuldig oder bar jeder Sittlichkeit zu sein.

Der bürgerlichen Presse wie der offiziellen Wissenschaft fehlt es an Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und an dem übrigen Inventarium der unbedingten Sittlichkeit, die notwendig ist, um das Bewusstsein von den Schäden und Krankheiten der Gesellschaft, unter welchen klassenfremde Schichten leiden, zu verbreiten und laut zu verkünden, damit sich das Übel nicht weiterfresse und am Ende die ganze Herrlichkeit, die in der vergangenen Epoche des Kapitalismus geschaffen wurde, erbarmungslos verschlinge.

Die bürgerliche Gesellschaft muss das soziale Elend kennen lernen, um es zu beseitigen. Dies muss sie tun, auch wenn die Beseitigung dieses Elends die allergrößten Opfer fordert. Ohne diese wird es nicht gehen. Denn das Massenelend hängt mit der heutigen, das ist kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform ursächlich zusammen und es ist aus ihr nicht hinauszureformieren.

Die geschichtliche Notwendigkeit und die sich die Berechtigung des Kommenden wird gemessen an dem Widersinn und an der Unsittlichkeit des Gegenwärtigen. Die möglichst weite Verbreitung der Lehre von der bestehenden Unordnung als die hauptsächlichste Ursache des Elends der Massen ist deshalb — so wenig zeitgemäß sich dies namentlich in unseren Tagen anhören mag — vor allem anderen eine moralische Pflicht und dann erst ein Akt der Menschen und zukunftsfreundlichen Klugheit, die den notwendig kommenden Entwicklungen vorzubauen bestrebt ist.

Denn der sittliche Bürger, der einerseits in seinem moralischen Bewusstsein die höchste Ehrfurcht vor dem Leben des Menschen trägt, der aber andererseits weiß, wie von seinem, mit fremden Arbeitswert erkauften Essen der Hunger und die Verhungerung des Arbeitenden abhängt, der vor allem anderen weiß, wie er aussieht, dieser Hunger und alles, was noch in seinem Gefolge auftritt, wird sich entschließen, lieber arbeitend weniger zu nehmen, als weiter schädlicher Parasit in der Menschlichen Gemeinschaft sein zu wollen und für das Leben und den Tod der von ihm Abhängigen verantwortlich zu bleiben. Oder er verzichte auf den Anspruch, ein sittlicher Mensch genannt zu werden. Dann aber gewärtige er die Folgen!

Es ist anzunehmen, dass wenn schon nicht die Pflicht der inneren Sittlichkeit, von der nicht viel zu merken ist, so doch die Voraussicht der alles kühl berechnenden Klugheit im letzten Augenblick eine Katastrophe wird vermeiden lassen. Wenn es ernst wird, werden die strengen Widersacher zu einverständlich schmunzelnden Freunden. Nichts aber ist verfehlter, als die Beruhigungspolitik der unsterblichen Beschwichtiger, die allen Warnungen zum Trotz das Feuer dämpfen bis es aus dem Dache schlägt.

Die Lehre ist ihnen zugekommen. Sie mögen sie beherzigen. Das stärkste Geschütz gegen die kapitalistisch-bürgerliche Festung ist das Elend der Massen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdisches Elend in Wien