Das jüdische Elend und das jüdische Bürgertum

In Zuversicht geht eure Weisheit unter.
                                                        Shakespeare

Die Geldjudenfresser waren der eine Gegner, die Geldjuden sind der zweite.


So wenig das jüdische Massenelend eine Sonderstellung unter der Fülle des allgemeinen Elends einnimmt, so wenig tritt auch das jüdische Bürgertum hinsichtlich seiner Einstellung zu diesem Elend merklich aus der des gewöhnlichen Bürgers hervor. In der Regel nehmen die bürgerlichen Kreise das Elend, dessen unmittelbare Wirkungen sie nicht kennen, als ein notwendiges Übel hin, gegen welches zu protestieren unsinnig wäre. Die gewöhnlichste Reaktion auf das Elend ist die Spende, also die Wohltätigkeit, die sich in jüngster Zeit hinter neu aufgekommene Bezeichnungen zu verstecken beliebt, obwohl es begreiflicherweise völlig alles eins ist, ob eine Geldunterstützung von einer Fürsorge oder von einer Armenkassa ausbezahlt wird. Erscheint in der Zeitung ein flammender Protest gegen die Ungerechtigkeit der herrschenden Gesellschaftsordnung und wird dieser Protest belegt durch ein besonders deutliches Beispiel eines Opfers eben dieser Gesellschaftsordnung, so ist eine Spendenliste seine unmittelbarste Wirkung. In der Regel ist ja dem betreffenden armen Teufel durch die Hervorhebung seines Elends geholfen, was ja gewiss nur zu begrüßen ist. Allerdings meint Oskar Wilde: „es ist unsittlich Privateigentum zur Milderung der fürchterlichen Übelstände zu verwenden, zu denen die Einrichtung des Privateigentums geführt hat“. Aber man drückt gerne in einem solchen Falle ein Auge zu. Sonst bleibt aber alles beim alten. Und niemand denkt an die unzählbaren Schicksalsgenossen des auf diese Weise Hervorgehobenen, die möglicherweise unter noch bedeutend menschenunwürdigeren Verhältnissen zu leben verdammt sind als der zufällig dem Schriftsteller bekannt gewordene Fall.

Auch das jüdische Bürgertum stellt keine einheitliche Klasse dar. Der jüdische Kleinbürger, der kleine Geschäftsmann, der Intelligenzler, der Zwergunternehmer, sie alle sind dem jüdischen Großbürger, dem Besitzer mächtiger Warenhäuser, dem Inhaber ausgedehnter Industrieunternehmungen, dem Börseaner, dem Bankdirektor so schicksalsfremd, wie merkwürdigerweise beide, der Groß- und Kleinbürger gemeinsam dem Bruder in der Armut fremd sind. Obwohl unter den jüdischen Reichen sich nicht wenige befinden, die in ihrem eigenen Leben die Not kennen gelernt haben, Reiche, die sich selbst so weit hinauf gebracht haben, dass sie aus der Enge des Elends in den Glanz des Luxus aufsteigen konnten, ist eine Einfühlung in die unmenschliche Lage des in mannigfaltigem Elend lebenden jüdischen Lumpenproletariers dem Herrn mit der tadellosen Binde nie gestattet. Auch dann nicht, wenn er zufällig als öffentlicher Funktionär seine Angelegenheiten führt oder in früheren Zeiten sein Schicksalsgenosse war oder wenn er sich mit ihm bei nationalen oder religiösen Festgelegenheiten öffentlich verbrüdert. Der Klassengegensatz ist stärker als die Volks- und Religionsgemeinschaft.

Der jüdische Kleinbürger lehnt die persönliche Einstellung zum Elend seiner Volksgenossen nicht zu Unrecht damit ab, dass er auf sein eigenes Elend hinweist. Es ist in der Tat richtig, dass der kleinere Mittelstand — der andere ist während des Krieges in die Hochregion des Geldglücks gestiegen — immer mehr proletarisiert und also selbst der Verelendung preisgegeben wird. Die ständige Sorge um die immerwährend bedrohte Existenz lassen jenes Gefühl der Sicherheit der eigenen Stellung nie aufkommen, die erforderlich ist, um an fremdem Unglück teilzunehmen. Ist doch jede noch so kleine Privatkrise imstande, den mühsam erhaltenen Schein von Wohlhabenheit zu zerstören und den seines Nährbodens Beraubten samt seiner Familie in die unbekannte Tiefe der Verelendung zu stürzen. Immerwährende Angst vor der Not drücken auf das Geistesniveau dieser Klasse. Ein warmes menschliches Gefühl, ein durchdringendes Verständnis für den andern, selbst wenn dieser durch enge Bande an ihn geknüpft ist, kann hier nicht aufkommen. Der Krieg gar hat mit seinen Eisentatzen alles zerstört, was noch an Lebenssicherheit und Zukunftsmöglichkeit geblüht. Er hat den gutgestellten Mittelstand in unerhörte Höhen geführt, den kleinen hingegen, namentlich die Festbesoldeten und wirtschaftlich Abhängigen zertreten. Jener weiß nicht was mit seinen Millionen anzufangen, füllt die Keller und die Bäuche, protzt mit dem neuen Golde, wühlt im dicken Ertrag des Verdienens. Dieser aber ist tief hinabgesunken und in dem tiefen Morast des Elends verschwunden, der keinen auslässt, den er wie mit Polypenarmen gefangen hält. Das Anschwellen der einen war notwendig begleitet vom Herabsinken der andern, so dass es heute eigentlich keinen Mittelstand gibt, weder einen großen, noch einen kleinen. Kein Wunder also, wenn das sich noch immer Kleinbürgertum nennende, heute schon sehr allgemein gewordene Proletariat des besseren Rocks keine nennenswerte Aufregung über das Vorhandensein und die Ausbreitung des Elends der anderen zeigt.

Ähnlich verhält sich aber merkwürdigerweise auch der sogenannte bessere Mittelstand. Namentlich seitdem es ein Kriegselend und eine noch ärgere Friedensnot gibt, hat es auch der gutgestellte Mittelstand leicht, mit dem Hinweis auf den eigenen Mangel die Pflichten des Besitzes abzuwälzen. Wenn auch dieser Mangel nur in Bezug auf Lebensgüter vorherrscht, die die anderen selbst in den Zeiten der blühendsten Wirtschaftsgesundheit dauernd entbehren mussten, so hindert dieser Umstand die so leicht zum Ablehnen Geneigten dennoch nicht, die eigene „Kriegsnot“ zum Vorwand ihres Gleichmutes zu erheben. Aber was ist das für eine Not! Nur die Unkenntnis kann sie mit dem Elend der Verdammten der untersten Höllenkreise vergleichen. Es muss eben gezeigt werden, was wirklich Elend ist, um jenen die Augen zu öffnen, die im Lamentieren so mundfertig sind, weil die Hoffnung nicht verglimmen will, dass schauernd gewonnene Einsicht die ursprüngliche Urteilsfreiheit der menschlichen Natur, die durch Erziehung und Standesdünkel zum Verstummen gebracht wurde, in neuer Kraft erklingen wird lassen. Wer das Entsetzen kennt, das die sich zum Fürsorgedienst meldende Tochter aus gutem Hause erfasst, wenn sie die erste Elendswohnung aufsucht, wird diese Hoffnung nicht unberechtigt finden. Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit und Verständnislosigkeit, die ärgsten Feinde des werdenden Besseren müssen aufhören und die Menschen von den Flammenlettern der aufklärenden Anschauung wachgerüttelt, werden nimmer in die todesähnliche Ruhe der nichtsahnenden, schläfrigen Gleichgültigkeit versinken können, in die sie sich so gerne einlullen.

Von den waschechten Geldjuden ist noch immer nicht gesprochen worden. Das sind jene, gegen die sich vorgeblich der Grimm der Antisemiten richtet: die jüdischen Kriegsgewinner, Spekulanten, Millionäre und Finanzgrößen. Das ist das jüdische Großbürgertum, die an der Spitze aller Korporationen, Vereine, Komitees und Ausschüsse stolzierende Gesellschaft von feinen Damen und Herren, die Hyänen der Wohltätigkeit, die so scharf gegeißelten und dennoch unsterblichen, (das heißt in marmorene Gedenktafel gravierten) Ruhm davontragenden Fürsten und Gewaltigen Israels. Ihre Zeit dürfte eigentlich im Ausgehen begriffen sein und selbst die funkelndsten Sterne verblassen allmählich. Dennoch erscheint es geboten, in diesem Zusammenhange auch über die Stellung dieser Kreise zur Tatsache des jüdischen Elends, das sich in der gleichen Stadt breit macht, in der ihre stolzen Paläste und mächtigen Unternehmungen stehen, zu sprechen.

Ihre einzige Reaktion auf das Elend ist, wie gesagt, die Wohltätigkeit. Ist dies schon bei dem nichtjüdischen Großbürgertum der Fall, so noch in weit größerem Maße beim jüdischen. Man muss es den reichen Juden zugestehen, ihr Wohltun entbehrt nicht einer gewissen Großzügigkeit. Wenn man von gewissen kleinlichen Eitelkeiten, die unvermeidlich zu sein scheinen, absieht, muss man sogar zugeben, dass fast Grund vorhanden wäre, in den begeisterten Chorus mit einzustimmen, den die Jahresberichte alljährlich von neuem anheben. Da sind allermodernst eingerichtete Waisenhäuser für Knaben sowohl als auch für Mädchen, Anstalten für Blinde und Taubstumme, Krankenvereine und Wohltätigkeitsämter, Genesungsheime, Spitäler, Stiftungen und Stipendien jedweder Art ... Es wimmelt von Vereinen mit den verschiedensten Bestimmungen. Es gibt eine Zentralstelle und wer zählt die vielen Hilfsstellen? Kur-, Erziehungs- und Bekleidungsbeiträge werden gewährt, Komitees, die Sammlungen für zeitlich oder örtlich beschränkte Bedürfnisse veranstalten, setzen sich zusammen. Wenn man bedenkt, dass dies alles nur für ein nach jeder Richtung hin beschränktes Häuflein von Hilfsbedürftigen (für die armen Juden Wiens) geschaffen wird und dennoch nicht nur nicht ausreicht, sondern nicht einmal das aller ärgste Elend zu lindern imstande ist, so muss man in Bezug auf die Heilkraft der privaten Wohltätigkeit schon ernstliche Zweifel hegen. Die jährliche Ausgabe deutscher Juden für Kultus, Wohltätigkeit und andere soziale jüdische Zwecke beträgt ungefähr 30 Mark für den Kopf der jüdischen Bevölkerung*). Gewiss liegt es auch zum Teil an der trotzdem vorhandenen Unzulänglichkeit und fehlenden Sachgemäßheit der bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen, gewiss liegt ein Teil der Schuld an der Zersplitterung der Kräfte, die meist der Eitelkeit Einzelner zu dienen hat, gewiss verdient die fehlende Organisation, der Mangel an wissenschaftlicher Schulung, der Dilettantismus all dieser Aktionen den schärfsten Tadel, aber ebenso gewiss ist es auch, dass damit der praktische Beweis erbracht ist, dass eine Heilung der sozialen Schäden selbst durch die gewaltigste Ausdehnung der privaten Wohltätigkeit nicht möglich ist, solange man nicht die Quellen des Elends verstopft, das heißt die wirtschaftliche Abhängigkeit des Großteils der Bevölkerung beseitigt. Denn wenn diese Behauptung nicht zuträfe, müsste es doch wenigstens gelingen, einen Teil der begrenzten Not, zum Beispiel die Altersversorgung der armen Juden in Wien restlos durchzuführen. Aber selbst dies ist ausgeschlossen und in der Tat auch nicht im Entferntesten der Fall, wie noch gezeigt werden wird. Die private Wohltätigkeit ist eben außerstande, Schritt zu halten mit dem Siebenmeilentempo der wirtschaftlichen Verelendung der Massen. Wenn die Einrichtungen der helfenden Liebe in arithmetischer Progression wachsen, schreiten Not und Elend in geometrischer vorwärts. Nie wird die Wohltätigkeit das Ziel, dem sie nachläuft, erreichen, die Armut nie aus der Welt schafften.

*) Veröffentlichungen des Bureaus für Statistik der Juden. Heft 3. Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland.

Nun finden sich auch die Meisten mit dieser Lösung durchwegs ab. Steht es doch schon in der Bibel so geweissagt. Es wäre auch schrecklich. Gäbe es doch dann für die Allzuvielen nichts zu tun und sie müßten rein ihre Tätigkeit einsteilen, Armut war immer, ist mehr denn je und wird wohl auch weiter bleiben. Ein begreiflicher, weil bequemer Gedankengang. Dass er aber auch achselzuckend als in der Natur der Sache gelegen betrachtet wird, ist denn doch nur darauf zurückzuführen, dass eben, wie schon oft betont wurde, das Wesen der Armut, der wirkliche Inhalt des nachgeschwätzten Wortes „Elend“ nicht bekannt ist. Armut ist ein Begriff, es muss eine Anschauung werden und dann wird es sich wohl zeigen, ob es nicht aller erste Pflicht ist, nachzudenken, wie denn diesem ärgsten aller Übel mit Erfolg beizukommen wäre.

Man kann nicht von jedem Besitzer großer Seidenvorräte verlangen, dass er, gerade er, wissen soll, wie man aus dieser Schwierigkeit herauskommt. Aber es darf ihn nicht ruhen lassen, er darf es nicht als die gleichgültigste Sache der Welt ansehen, ob das Elend beseitigt wird oder nicht. Dazu diene ihm die Schilderung des Elends in all seiner Greulichkeit. Auf dass es ihn nicht schlafen lasse und er sich frage, ob denn seine Weltanschauung von der notwendigen Ordnung der Dinge wirklich die notwendig richtigste ist. Damit er nicht etwa von den Ereignissen überrascht werde!

Man kann nicht von einem reichen Fabrikbesitzer verlangen, dass er, gerade er, Sozialist werde. Das verhindert schon der wohlfeil gewordene Vergleich mit dem Kamel, das durchs Nadelöhr will. Aber die politische Klugheit gebietet, dass man sich Gedankengängen, so weit es möglich ist, freiwillig anpasst, ehe sie sich — in der Regel ohne Anpassung — durchgesetzt haben. Es soll auf diese Weise weniger schmerzlich sein. Und wenn etwas sein muss, nützt bekanntlich alles Sträuben nichts. Die Bilder vom jüdischen Elend liegen dem Gemüt des jüdischen Reichen näher, als alle andern. Vielleicht vermag er etwas von ihrer eindringlichen Lehre zu seinem eigenen Nutzen zu verwenden.

Man kann nicht von einem Bankdirektor verlangen, dass er, gerade er, das höchste Ideal der Sittlichkeit in seinem Leben verwirklichen soll. Zumal er, selbst wenn er Jude ist, in der Regel der Moralität seiner Kindheit entwachsen und seine Auffassungskraft der strengen Sittlichkeit der Zukunft noch nicht gewachsen ist. Aber man kann fordern, dass er sich, falls ihn moralische Gewissensbisse peinigen sollten, etwa beim nicht zu verhindernden Anblick eines um Brot bettelnden Kindes, nicht all zu sehr auf die Wohltätigkeit
verlasse, der er alljährlich durch den Sekretär seinen Tribut zahlen
läßt. Die Bilder werden ihn lehren, dass sie nicht unfehlbar wirkt.
Das Weitere wird er sich schon selbst denken, weil er doch klug
ist, was daraus entnommen werden mag, dass er als Bankdirektor
eingeführt wurde.

In der Tat ist die jüdische Wohltätigkeit trotz der Mittel, die im Verhältnis zur nichtjüdischen sehr groß zu nennen sind, dem Problem des Elends gegenüber völlig machtlos. Sie muss es trotz des großen Aufwandes sein, weil die Wohltätigkeit das fertige Elend abspeist, seine Entstehung aber nicht verhütet. Diese Erkenntnis zu verbreiten, ist auch eine Aufgabe dieser Zeilen.

Eine Auseinandersetzung über die jüdische Sucht zur Wohltuerei wäre unvollständig, enthielte sie nicht einige Ausführungen über die religiöse Wurzel ihres Wesens, über den Begriff der Z'doke. Die wunderherrliche Idee des Gotteslebens, das Hochziel des zur Vollendung streitenden Gottmenschen, die Verwirklichung der alten Mythe des Gottesstreiters artete mit der Fortdauer des Galuth und mit der damit verbundenen geistigen Degeneration bei den glaubenstreuen Juden zur Auffassung des menschlichen Lebens als eine Summierung von Mizwes (d. s. religiöse Pflichten) aus. Als eine religiöse Pflicht des Reichtums galt und gilt noch heute das Wohltun. Mit Recht wird es zur höchsten Ehre des Judentums gerechnet, welche Bedeutung im jüdischen Schrifttum die Verpflichtung, den Armen zu helfen, inne hat, dessen Vorhandensein allerdings als ein notwendiges, ja sogar begrüßenswertes Übel (wie könnten denn sonst die Reichen dem Gebot, Z'doke zu üben, nachkommen!) betrachtet wird. Gilt doch jüdische Hilfsbereitschaft allen Nationen der Erde als vorbildliches Beispiel. Im jüdischen Gedankenkreise, soweit er sich im Rahmen der überlieferten Lehre hält, erfüllt der Arme sowohl, als auch der Reiche seine ihm von Gott zugedachte Rolle. Ein jeder steht sozusagen auf seinem Posten. Dieser, der gottgebotenen Pflicht zu geben nachkommend, jener, dem anderen durch sein Annehmen die Gelegenheit zu einem guten Werke bietend. „Reich und arm ist von Gott eingerichtet, wegen des ausgleitenden Wohlwollens“ sagt ein alter Midrasch (Wajikra r, Par. 34).

Gemilath Chasadim ist die werktätige Liebe des Juden zum Juden: Krankenbesuch, Totenbestattung, Trost für Leidtragende, Gastfreundschaft, Ausstattung armer Bräute, kurz alles, was in der patriarchalischen Vergangenheit der kleinen Probleme mit einem christlichen Ausdruck Caritas bezeichnet wurde.

Aber auch nur in dieser Vergangenheit. Juda Bergmann sagt in seiner Mildtätigkeit*) betitelten Studie: „Die soziale Fürsorge im alten Israel war nicht Sache des Staates, sondern Sache des Herzens. Sie wurde nicht der Gemeinde oder irgend einer Organisation übertragen, sondern jedem Einzelnen ans Herz gelegt und war eine wirkliche Liebestätigkeit,“ Ist doch der talmudische Satz bekannt, dass „die Wohltätigkeit, nach dem Maße der Liebe belohnt wird, die sich in ihr offenbart“. Aber was war, ist nicht mehr. Denn die Probleme sind gewachsen, gewaltig gewachsen und was einst erhaben war, ist heute möglicherweise lächerlich. Nicht ganz ernst zu nehmen wäre jedenfalls der Mensch, der behaupten würde, dem fürchterlichen Massenelend der Gegenwart mit den winzigen Mitteln der wohltuerischen Kurpfuscherei Abbruch zu tun, die im günstigsten Fall die Fiebersymptome wegschafft, ohne der Krankheit auch nur nahe zu kommen. Die aus der geschilderten religiösen Wurzel herausgewachsene jüdische Wohltätigkeit hat seither überdies das ethische Kleid ihrer Kindheit abgelegt und ist zum einfachen bürgerlichen Notauskunftsmittel geworden, das nur zu Unrecht den großen Namen seiner ursprünglichen Bedeutung trägt, Unrecht ist es, der heutigen großbürgerlichen Wohltätigkeit, die geschmacklos genug ist, sich auf Kopftafeln der ritterlichen Widmer von Siechen- und Waisenbetten auszutoben, moralische Entschuldigungsgründe zuzusprechen, die man mit Recht für die Liebestätigkeit der Vergangenheit gebraucht hatte. Z' doke, der so schwer zu übertragende Begriff**) ist nach einem schönen Worte des altkonservativen S. R. Hirsch Lebensgerechtigkeit. Und es heißt: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit erstrebe!“ Wie wenig diese durch die Einrichtungen der Wohltätigkeit heute erreicht werden kann, beweisen die ins Ungeheure gewachsenen Maße des Elends in der kapitalistischen Welt.

*) In „Soziale Ethik des Judentums“, herausgegeben vom Verband der Deutschen Juden. Frankfurt a. M. 1914.

**) Das im christlichen Abendlande verbreitete Wort, „Almosen“ (Elemosyne) stammt aus der griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel.“ (Nöldeke, Neue Beiträge zur semitischen Sprachwissenschaft.)


Um der Unmoral auszuweichen, die darin liegt, dass der reiche Jude dem armen „Schnorrer“ ein Almosen schenkt und auch, um Vielen die Möglichkeit zu bieten, sich am Geben zu erfreuen, sind seit jeher Vereine zu bestimmten oder allgemeinen Zwecken tätig gewesen. Man kann sagen in keiner Gemeinschaft zahlreicher, als in der jüdischen. Von dem in jeder Gemeinde eingerichteten „heiligen Verein“, der Kranke unterstützt und in kleineren Städten auch die Leichenbestattung innehat, bis zum kleinsten Schulkinderbekleidungsverein, gibt es keinen Zweck und keine Widmung, der sich nicht zahllose jüdische Vereine unterstellt hätten. In Wien gab es 1903 unter 637 privaten Wohltätigkeitsvereinen 41 ausgesprochen israelitische und nur 38 katholische. (Die Wohltätigkeitsvereine der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 1905.) Und in Deutschland gab es 1906 insgesamt 5.000 jüdische Vereine bei einer jüdischen Kopfzahl von 600.000 Seelen. Aber da diese Vereine, ebenso wie die Stiftungen und Stipendien auf freiwillige Mittel angewiesen sind und ihr mehr oder minder armseliges Dasein nur von Spenden und Legaten fristen, ist es klar, dass auch sie nicht zu einer merklichen Besserung auch nur der aller ärgsten Not haben beitragen können. Wohl auch deshalb nicht, weil ihnen meistens der Sinn für die neuzeitlichen Fragen der Armenfürsorge abgeht und sie in der Befriedigung kleinlicher Eitelkeiten ihrer bürgerlichen Gönner den Hauptzweck ihres Daseins suchen.

Diesen Übeln unterliegen nun einige, der in Wien in jüngster Zeit entstandenen Vereinigungen und Aktionen dadurch nicht, dass an ihrer Spitze Personen stehen, Frauen und Männer, die erstens die Stärke inne haben, den menschlichen Schwächen nicht leicht zu verfallen, zweitens Fachtüchtigkeit besitzen, die ihnen die Möglichkeit bietet, wenigstens der ärgsten Schäden Herr zu werden und die drittens über den notwendigen Einfluss verfügen, um mit zweckentsprechender Großzügigkeit ans Werk zu schreiten. Man muss bei aller grundsätzlichen Verwahrung gegen eine ausgiebige Hilfsmöglichkeit in der kapitalistischen Welt, zugeben, dass für einen engen Rahmen, etwa einem bestimmten Bevölkerungsteil, einer bestimmten Gruppe von Hilfsbedürftigen, sehr viel geschehen könnte, wenn die erwähnten Voraussetzungen restlos erfüllt wären. Dazu müssten aber erstens alle Kreise der Judenschaft sich einheitlich zusammentun und zweitens eine Zwangsorganisation vorhanden sein, die die Mittel zu so großen Aktionen aufbringt. Denn täuschen wir uns nicht. Auch jene so leistungsfähigen sozialen Hilfsorganisationen sind nichts anderes als private Vereinigungen, die auf die jeweils einlaufende Spendenliste angewiesen sind. Es ist aber unmöglich ein brauchbarer Dauerzustand, immer mit dem Ausmaß der Hilfsleistung warten zu müssen, bis die Mittel zu ihrer Verwirklichung, ebenso zufällig wie unsicher, einlaufen. Namentlich die Errichtung neuzeitlicher Betriebe, wie die so schmerzlich entbehrten Kinderheime für verwahrloste, verlassene und verkrüppelte Kinder und die anderen verschiedenartigsten Einrichtungen der geschlossenen Armenpflege leiden unter der Unsicherheit des Spendenmarktes. In letzter Zeit wird sogar die Gefahr des vollständigen Versagens der privaten Wohltätigkeit immer drohender. Deshalb gebietet die Kenntnis von der ungeheuren Gefahr des Elends die sofortige Einführung einer Zwangsbesteuerung der Besitzenden für Wohlfahrtspflege als letztes Auskunftsmittel, solange nicht die neue Gesellschaft die Herrschaft der unseligen Alten ablöst und die hundertprozentige Steuer der Enteignung zum Nutzen der arbeitenden Gesellschaft die Not im Keime erstickt. Erst wenn die sozialen Wohlfahrtseinrichtungen durch die Erfolge einer neuen Wirtschaftspolitik auf eine sichere Grundlage gestellt werden, zum größten Teil natürlich dadurch, dass sie sich in öffentliche Verwaltung begeben, werden sie jene lindernden Wirkungen für das grausamste Elend ausüben können, die man heute von ihnen vergeblich erwartet. In der kapitalistischen Welt allerdings bleiben auch diese nur ein Provisorium, denn es ist ein besonderes Merkmal dieser Gesellschaftsordnung, dass in ihr jeder Hilfsversuch, wie in einem bodenlosen Fass, spurlos verschwindet. Höchstens netzt er die Wände und darin erschöpft sich letzten Endes auch der Erfolg jeder sozialen Fürsorge, die in der Welt von heute zu arbeiten versucht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdisches Elend in Wien