Jüdisches Elend in Wien
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Auf der Spitze des Felsens von sozialer Struktur, im hellen Sonnenschein der Gerechtigkeit, speist ihr mit eurer Familie, eine glückliche unschuldige Versammlung. Und doch ist es euer Gewicht, ebensosehr wie irgend etwas sonst, was sie zermalmt. Frederick van Eeden.
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- Das soziale Elend und die bürgerliche Gesellschaft
- Das jüdische Elend und der Antisemitismus
- Das jüdische Elend und das jüdische Bürgertum
- Das jüdische Elend in Wien
- Die Hilfe der Gesellschaft
- Ein Bilderbuch
- Die Dunkelkammer
- Ghetto
- Geistige Arbeitslosigkeit
- Verrufene Häuser
- Der blinde Bettler von der Produktenbörse
- Dirnen
- Flüchtlingsleiden
- Ein Flüchtlingsheim
- Judenklage aus der Ybbsstraße
- Ein Schlusswort
- Bilderverzeichnis
Wie sollte es auch anders sein! In unserem ganzen Weltbild gibt es keine Veränderung, die nicht die Folge einer zureichenden materiellen Verursachung wäre. Und dennoch! In einem Punkte unterscheidet sich die Wechselbeziehung zwischen Ursache und Wirkung im Reiche der außermenschlichen Natur von dem Laufe der Entwicklung, innerhalb der Bewegungen der menschlichen Gesellschaft. Während dort das einfache Vorhandensein oder das Eintreten derjenigen Umstände, die auf andere verursachend einwirken, genügt, um die naturgesetzlich gewährleistete Erwartung zu rechtfertigen, bedarf es bei den Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen neben den verursachenden wirtschaftlichen Verhältnissen noch eines Umstandes, um sie zur Wirkung zu bringen: Sie müssen den Zeitgenossen bewusst werden. Es genügt nicht, dass sie vorhanden sind. Sie müssen aus der nur mechanischen Wirklichkeit zur Höhe der bewussten Erkenntnis aufsteigen, um im Reiche der bewussten Menschen wirklich wirken zu können, sie müssen aus Tatsächlichkeiten zu bekannten Tatsachen heranwachsen, sie müssen auf den Versammlungsplätzen in lauten Schreien ausgerufen und von Mann zu Mann weiterverbreitet werden, sie müssen die Gedanken beschäftigen bei Tag und bei Nacht und keine Ruhe gönnen den müden Kehlen und keine Schonung den abgewandten Ohren. Erst die erkannte und bewusst gewordene wirtschaftliche Ursache wird zur treibenden Kraft in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Denn „die rein ökonomischen Ursachen schaffen zunächst nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen, wie aber diese dann aufkommen und sich ausbreiten und welche Form sie annehmen, hängt von der Mitwirkung einer ganzen Reihe von Einflüssen ab“. (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus)
Dann aber tut Aufklärung Not, Aufklärung über die Schäden und Krankheiten der Gesellschaft, mehr als über jegliche Zustände anderer Art. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Tatsachen der Wirtschaftswirklichkeit seien genügend und allgemein bekannt. Die Wissenschaft, die sich mit den ökonomischen Verhältnissen der einzelnen Länder befasst, die Nationalökonomie, ist aus Gründen, die wir noch auseinander zusetzen haben, außer Stande und meist auch nicht gewillt, die sozialen Krankheiten so darzustellen, dass das Bewusstsein von ihrem Vorhandensein die Verbreitung findet, die es braucht, um verändernd auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge einzuwirken.
Die Gesellschaft ist keine Einheit, wie ein Volk oder wie der Staat oder wie eine Klasse, Der Staat, die Klasse, die Religionsgemeinschaft oder das Volk sind, sei es mögliche oder wirkliche Einheiten innerhalb der menschlichen Gesellschah, die als Verbände Gleichgerichteter ihre einzelnen Mitglieder zusammenfassen. Die Gesellschaft, richtiger die Gesellschaftsordnung, aber ist die Erscheinungsform, in der diese Einheiten auf den Plan treten. Deshalb werden ihre Schäden von jenen, die an ihnen leiden, nicht in die richtige, ursächliche Beziehung zu eben diesen Leiden gebracht. Wenn sie sich auflehnen, so tun sie es gegen alles Mögliche, meistens sogar gegen alles Unmögliche, nur nicht gegen die Ordnung der Dinge, in deren notwendigem Gefolge ihr Leiden eintritt. Die Gesellschaftsform ist eben ein unanschaulicher Kampfgegenstand.
Kehren wir von den Sonnenhöhen der abstrakten Gedanken-Spekulation zur erdharten Wirklichkeit des Tages zurück. Was geschieht um uns?
Wir wissen, dass seit dem Jahre 1789 auf den rauchenden Trümmern der feudalen Gesellschaft der gewaltige Bau des bürgerlichen Kapitalismus erstand. Wir kennen das unerbittliche Gesetz von Fortschritt und Armut, wir wissen, wie herrlich weit wir es gebracht haben, wie mit dem Erstarken der kapitalistischen Produktionsweise die Not und das Massenelend gewaltig wuchsen. Wir wissen, dass schon in Friedenszeiten in den Straßen Londons inmitten der erdrückenden Pracht der reichsten Nation der Welt alljährlich bis zu 80 Menschen Hungers starben, wobei als Todesursache angegeben wird: Krankheit, verursacht durch Entbehrung und Mangel an Schutz vor der Witterung. Was Zola im Bauch von Paris gesehen, ließe sich aus jeder Großstadt der „zivilisierten“ Welt berichten. Im Winter des Jahres 1918 stand zum Beispiel in Wiener Blättern folgende Notiz:
Auf dem Stefansplatz erfroren. Gestern früh wurde in einer öffentlichen Telephonzelle hinter der Stefanskirche eine ältere Frau leblos aufgefunden. Die Rettungsgesellschaft stellte den Eintritt des Todes fest. Die Frau dürfte in der Zelle über Nacht Unterstand gesucht haben und erfroren sein. Sie soll die Stickerin Josefine Straßer ohne Unterstand sein.
Wer beachtet solche Nachrichten? Und doch sind sie und ihre Missachtung die unwiderleglichsten Argumente für die Zukunft, gegen die Vergangenheit.
Wir hören von lebensgefährlichen Wohnungen im Dunkel der Kellergeschosse, in denen Kinder ihre jämmerlichen Jahre verschmachten, ohne die Sonne zu sehen, weil ihre Körperchen nicht Licht, Luft und Nahrung genug erhalten und die Füßchen einschrumpfen und den Dienst versagen, während die Mutter, in harte Fron gespannt, von ihrer Entlohnung den fehlenden Kinderwagen nicht erübrigen kann. Wir wissen dies alles. Wir sind auch sehr gerührt, wenn wir es lesen. Unser Spendenbudget wächst auch von Jahr zu Jahr. Wir tun, was wir können. Wir glauben zumindest nichts von dem zu verabsäumen, was man so gemeiniglich unsere Pflicht nennt.
Wir, die Besitzenden.
Warum dann aber doch? Wissen wir in der Tat, was an Hunger und Elend um uns gedeiht, warum geben wir es zu? Warum protestieren wir nicht gegen die Schmach dieses Zustandes? Nicht wir, die unter Hunger und Elend zu leiden haben. Sondern wir, die angeblich wissen, dass die andern in Hunger und Elend, Krankheit und Verbrechen, in Armut und Schande ihr Leben fristen, angeblich wissen, wie schwer die andern um die nackte physische Existenz kämpfen? Wir, die Besitzenden?
Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen: entweder die Besitzenden, — Besitzer der Macht und Besitzer der Mittel des Lebens — wissen in Wahrheit nichts von der Menschenunwürdigkeit der Verhältnisse, in denen die Masse der Bevölkerung lebt, sie haben nur eine nebelhafte Vorstellung einerseits von den Einzelheiten eines Lebens in andauerndem Elend und anderseits von der Ausbreitung der Armut als Massenerscheinung, sie unterziehen sich nicht der Mühe, eine lebendige Anschauung zu gewinnen von Armeen obdachloser, bettelnder Kinder oder von Invaliden, die auf dem nackten Fußboden eines Quartiers schlafen und sie wiegen sich in der beruhigenden Sicherheit, dass ja alles vorgekehrt und der gesellschaftliche Hilfsapparat allen Anforderungen gewachsen sei, oder aber die Besitzenden sind sich der wahren Verhältnisse bewusst und wenn sie sich trotz dieser Erkenntnis nicht zum flammenden Protest gegen alles, was diese Zustände erhält und stützt, erheben, sind sie ausnahmslos Wesen, die den Ehrentitel Mensch zu Unrecht tragen, Wesen, an deren Dasein die Menschheit kein Interesse haben kann.
Der Mensch aber ist gut. Es kann nicht sein, dass er dauernd und bewusst seiner Menschenwürde untreu wird, dass er dauernd und bewusst Verbrechen am Leben seiner Artgenossen verschuldet. „Die Menschen sündigen nur im Wahne“ besagt ein talmudischer Grundsatz, dessen Optimismus uneingeschränkte Bewunderung verdient. Wenn sie wissend werden, wenn sie hell sehen, was sie tun, werden sie büßend ihrer leidenden Brüder und Schwestern gedenken und werden sich freuen, dass sie klüger geworden und das Leid der Welt verringern können, anstatt es künstlich zu vermehren.
Wieder einmal rütteln gewaltige Bestrebungen an den althergebrachten Formen der Gesellschaft. Fast sieht es so aus, als könnte kein Gott ihren Untergang aufhalten, als müsste sie ohne Erbarmen in das Grab sinken, das sie sich selbst geschaufelt. Wieder müssen es wirtschaftliche Ursachen sein, die ihre gärende Kraft austoben. Wie kommt es also, dass sich fremde Einflüsse der natürlichen Entwicklung entgegensteilen? Wie kommt es, dass niemand ahnt, was jeder wissen sollte? Wie kommt es, dass der aus allen Poren der trennenden Mittelschicht gefährlich hervorsprudelnden, zersetzenden und von fürchterlicher Fäulnis zeugenden Masse des Elends dennoch niemand die geringste Beachtung schenkt? Es kann nicht anders sein. Wir wissen eben nichts. Wir, die Besitzenden, Wir wissen gar nichts, Aufklärung tut not. Wir müssen aus dem Sumpf heraus und müssen erkennen, müssen dem Grauen mutig ins Antlitz schauen. Aufklärung tut not. Wir müssen wissen, wo und wie der Bettler haust, dem wir ein Almosen schenken, wir müssen sehen, wie die Kinder ohne Vater und Mutter weiterhungern und so lange sie können an den kriegsgekochten Rüben nagen, wir müssen zuschauen, wie der arbeitslose Hilfsarbeiter in seiner kahlen Kammer verhungert, so wie ihm seine Frau zuschauen musste, ohne ihm helfen zu können. Wir müssen wissend werden, ob wir wollen oder nicht. Wenn aber der Berg nicht zum Propheten kommen will, muss der Prophet zum Berge gehen. Wir müssen unsere Augen öffnen und die Bilder des Elends als das nehmen, was sie sind, Mahner unserer eigenen Schuld, auf dass wir wissend werden. Denn jene werden sich schon ihr Recht suchen. Wir aber müssen wissen, wenn sie in unsere Häuser kommen, was sie dazu getrieben hat. Wissen müssen wir, dass wir es sind, die die Verzweiflung zur Herrin der Entschlüsse eingesetzt hat.
Aufklärung über die gesellschaftlichen Schäden wäre eine schöne Aufgabe, hafteten ihr nicht etliche Schwierigkeiten an. So ist es klar, dass eben das, was wir in Bezug auf das eine Individuum einen Schaden nennen, der Vorzug und der Nutzen des andern ist. Das Endergebnis ist dann in der Regel: was geht's mich an! Die Befürchtung ist nicht abzuweisen, dass die besitzenden Klassen, auch wenn sie die Zusammenhänge erkannt und dem Schrecken des Elends (der anderen natürlich) ins Gesicht geschaut haben, denn noch ihre feindselige Haltung den so dringend notwendig gewordenen Änderungen gegenüber nicht aufgeben werden, dass sie, krampfhaft um ihr vermeintliches Recht besorgt, unbekümmert um die Not, die es verursacht, auf der Gewalt ihrer Machtstellung beharren werden.
Was dann? Wenn alle Mahnungen fruchtlos, alle Belehrungen vergeblich bleiben? Wenn die vielgelästerte Politik des Vogel Strauß auch zur letzten Waffe der bürgerlichen Gesellschaft erhoben und Nicht-zur-Kenntnisnehmen als allheilendes Rezept angepriesen wird? Wenn sie wegschauen werden, wo man — mehr zu ihrem Frommen als zu dem der anderen — ihre Blicke auf das Böse und Unmögliche gewisser Zustände gelenkt hat? Vorsichtig fragt Kant: ist das menschliche Geschlecht im ganzen zu lieben, oder ist es ein Gegenstand, den man mit Unwillen betrachten muss, den man zwar (um nicht Mysanthrop zu werden) alles Gute wünscht, es doch aber nie an ihm erwarten, mithin seine Augen lieber von ihm abwenden muss ?
Was dann, wenn sie „interessant“ finden werden, was erschütternd ist, wenn sie mit Wohltätigkeitskränzchen (womöglich mit Konzertbegleitung von Invalidenkapellen) auf den Hungerschrei der Verzweifelten antworten werden ?
Dann wird ihr Untergang dem ewig ungewarnten Menschengeschlecht das Walten einer sittlichen Weltordnung kundtun. Und niemand wird verschont bleiben. Eine Voraussage, die noch vor wenigen Jahren als blanker Unsinn verschrien, immer mehr und mehr greifbare Formen anzunehmen beginnt. Die Tauben vernehmen den Donner des nahenden Erdbebens nicht.
Es kann aber nicht sein! Der Mensch ist gut, er bedarf nur der schlichten und anschaulichen Aufklärung, um zu unterscheiden zwischen dem Rechten und dem Schlechten. Denn Wissen um das Böse ist schon der Weg zum Guten.
Fragen wir uns, wieso es kommt, dass die Wissenschaft und ihre öffentlich bestellten Lehrer bei der Aufdeckung der gesellschaftlichen Schäden, bei der Darstellung der lauten Zeugnisse der Massennot und des sozialen Elends ihrer großen Aufgabe nicht in der Weise gerecht werden, wie es die Kulturwelt sonst von ihr zu erfahren gewohnt ist. Die Wissenschaft ist die Ermahnerin und Lehrerin der aufgeklärten Menschheit. Sicher wäre es ihre vornehmste Aufgabe, den Blinden die Augen zu öffnen und mit Hilfe des berechtigten Ansehens, das sie genießt, den Unbelehrten Kunde zu geben von den Ergebnissen ihrer Forschung. Sowie sie mit lauter Stimme die ganze Kulturwelt auf die unübersehbaren Gefahren aufmerksam gemacht hat, die dem Fortschritt, ja der Erhaltung der Menschheit von der Ausbreitung der ansteckenden Krankheiten drohen, sowie sie mit gründlichem Erfolg viele schädliche und abergläubische Vorstellungen durch die Kraft ihres Wortes allein aus dem Ideenkreise der Völker gedrängt hat, so — sollte man erwarten — könnte sie sich doch auch in den Dienst der Aufklärungsarbeit stellen, die die Wurzel aller Schäden an der gesellschaftlichen Gesundheit bloßlegen will. Sie könnte doch mit viel größerem Nutzen als Unberufene die Gefährlichkeit eines Zustandes nachweisen, dessen Dauerhaftigkeit allein von der Dummheit der einen und der Unaufgeklärtheit der anderen abhängt. Warum tut sie das nicht? Warum verstrickt sie sich vielmehr in das Gegenteil und verschleiert, wo sie nur kann, und täuscht mit spiegelfechterischen Kunststücken das verständnislos gaffende Volk, dem Augurenlächeln der Eingeweihten verschmitzt zublinzelnd? Wie kommt es, dass die meisten vulgärökonomischen Professoren sich lieber die Zunge abbeißen würden, als zu sagen, was sie wissen und mit ihnen jeder Einsichtige, das nämlich, dass es so nicht weitergehe? Warum wird das soziale Elend von der offiziellen Wissenschaft nicht dargestellt, warum leistet sie nicht die Aufklärungsarbeit, die sie lieber Nichtwissenschaftlern überlässt, um sie nachher als Laienwerk umso bequemer dem Spott der Zünftler preisgeben zu können? Was haben wir von der hochgelehrten Einteilung in Dürftigkeit (indigence) Armut (pauvreté) Elend (misère)? Was nützen uns noch so schöne Ausführungen über die „präventiven Aufgaben der Armenfürsorge“ (unter welche in den Handbüchern auch die Beschränkung der Freiheit Mittelloser eine Ehe zu schließen gezählt wird) solange sich die liberale Wirtschaftsdoktrin sogar gegen eine staatliche Armenfürsorge ausspricht?
(weiter im Kapitel 1 Das soziale Elend und die bürgerliche Gesellschaft)
01 Flüchtlinge aus Palästina
02 Pogromflüchtlinge
03 Palästinensisches Flüchtlingskind
04 Flüchtlinge aus Palästina
05 Im Flüchtlingsheim
06 Flüchtlingselend in der Brigittenau
07 Flüchtlinge im Keller
08 Die Bewohner des Kellers
09 Rachitische Kinder in einem feuchten Zimmer
10 Verlassene Kinder
11 Judenklage aus der Ybbsstraße
12 Die Wohnung eines Arbeitslosen
13 Schuhflickerwerkstatt
14 Jüdische Proletarierwohnung
15 Ein Kostkind
16 Die Dunkelkammer
17 Kellergang
18 Kammer
19 Gangkabinett
20 Der Hof einer Zinskaserne
21 Vor der Volksküche
22 Bettelndes Ehepaar
23 Geistige Arbeitslosigkeit
24 Mittagessen auf der Straße
25 Der blinde Bettler von der Produktenbörse
26 Im Massen Quartier
27 Tempelbettlerinnen
28 Im Massenquartier
29 Ein verrufenes Haus
30 Schlafsaal im Massenquartier
31 Beim „Herbsthofer“.
32 Stammgäste