Von der Statistik des Elends

Volk. Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte besaß, nun rechnet es sich selbst mit, und seine Zahlen zermalmen. Mackay.

Die bisherigen Ausführungen verfolgten nur den Zweck, die allgemeinen Zusammenhänge des jüdischen Elendsproblems zu entwickeln, die nach allen Seiten ins Grenzgebiet führenden Wege vom Schutt des Unverstandes bloßzulegen und eine gewisse Freiheit des Gesichtsfeldes — naturgemäß ist es die des Autors — zu schaffen. Sie sind eine Rechtsverwahrung des Autors, gleichsam die Separation seines Standpunktes. Der sachliche Inhalt des Gegenstandes blieb bisnun unerwähnt. In der nüchternen Sprache der Tatsachen soll im Folgenden ein kurzer Abriss der Mannigfaltigkeit des jüdischen Elends in Wien und der Ansätze zu seiner Bekämpfung versucht werden, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass viele Angaben, namentlich die über das Wohnungselend, auf eigene Erhebungen beruhen, woran auch an seinem Platze noch erinnert werden wird. Wenn hier von Hilfe seitens der Gesellschaft gesprochen wird, so ist es nach dem Vorangegangenen klar, dass nur die provisorischen Hilfsmöglichkeiten der provisorischen Gesellschaft gemeint sein können.


Statistische Angaben sind wenig volkstümliche und daher zur Unwirksamkeit verurteilte Überzeugungsgründe. Unerlässlich sind sie nichtsdestoweniger. Denn sie stellen die einzige Methode der Erfassung und Beschreibung von Massenerscheinungen dar. Ohne Zahlenbelege müsste die wahrheitsgetreueste Schilderung des grausamsten Einzelfalles ohne jegliche Beweiskraft bleiben, weil die Möglichkeit bestünde, dass ein aus individuellen Gründen außergewöhnlicher Notfall mit Unrecht verallgemeinert wird. Die Aufklärung über die Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände kann aber erst dann auf Erfolg hoffen, wenn ihr der Nachweis der allgemeinen Verbreitung der rügenswerten Schäden der Gesellschaft gelingt, wenn sie imstande ist, deutlich zu zeigen, dass die in den Einzelschilderungen hervorgehobenen Fälle von Verelendung den Durchschnitt eines sozialen Leidens, also eine Massenerkrankung, darstellen. Die Ausbreitung eines sozialen Gebrechens und der Umfang des in der Einzelschilderung niedergelegten Inhaltes des Elends Begriffes ist nur auf dem Wege einer zahlenmäßigen Darstellung denkbar.

Nun ist aber kaum eine statistische Erhebung schwieriger, als die über die Ausbreitung der Not. Die amtlichen Erhebungen, die hier und da zu bestimmten Zwecken gepflogen werden, sind natürlich ebenso unvollständig und leiden unter dem gleichen Stichprobencharakter wie die privaten. Und wenn sie auch vollständig wären! „Die dunkelsten Schattenexistenzen — schreibt Viktor Noack — werden von einer amtlichen Enquete nicht erfasst. Deswegen sind gerade die Zahlen der Statistik, die das bitterste Elend quasi in nuce in sich tragen, nicht als vollkommene Angaben zu bewerten.“ Vollständig sind nur jene Durchzählungen, wie sie etwa anlässlich von Volkszählungen gemacht werden. Die Materialien dieser Art enthalten nun fast nichts von dem, was die zu bestimmten Zwecken unternommenen Erhebungen erfassen wollen, weil bei der Anlegung des Fragebogens gerade jene Einzelheiten nicht berücksichtigt werden können, die bei den Sondererhebungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Überdies sind die Ergebnisse der letzten Volkszählung natürlich längst veraltet. Die sozialpolitischen Erhebungen privater oder amtlicher Natur nehmen in der Regel einen bestimmten Ausschnitt aus den in Betracht kommenden Massenerscheinungen, das Wohnungselend oder das Kinderelend oder eine noch speziellere Frage wie etwa die Tuberkulosesterblichkeit der Kinder und dergleichen zum Gegenstand ihres Beginnens. Die Schwierigkeiten wechseln mit dem gewählten Gebiet, sind aber stets sehr groß.

Diese Schwierigkeiten werden bei einem Versuch, das jüdische Elend gesondert zu erheben, wenn möglich, noch größer. Die Abgrenzungen gestalten sich sehr schwierig, weil in der Regel eine räumliche Einheit fehlt, ebenso die genaue Bestimmung des Gegenstandes nicht leicht ist. Erwähnt muss schließlich die technische Schwierigkeit der Durchführung werden, die dadurch wächst, dass die jüdische Bevölkerung gegenüber allen unbekannten Belästigungen noch um einen Grad misstrauischer ist, als die nichtjüdische.

Es muss festgestellt werden, dass überdies in Wien die Voraussetzungen zu solchen Arbeiten fast vollkommen fehlen. Es wird fast keinerlei Statistik über die Verhältnisse der Wiener Juden geführt, ja es besteht auch nicht einmal die Möglichkeit, den jeweiligen Stand der jüdischen Bevölkerung zu ermitteln und es muss daher bei Festlegung irgendeiner Anzahl der jüdischen Haushaltungen zu dem bedenklichen Mittel ungenauer Schätzungen gegriffen werden. Die Israelitische Kultusgemeinde in Wien hat bis nun kein statistisches Amt und es ändert an dieser traurigen Tatsache nicht viel, wenn wir vernehmen, dass die Errichtung eines solchen erwogen wird. Das statistische Amt der Kultusgemeinde war das Steueramt, das heißt die Kultusgemeinde hat das ihr von den öffentlichen Behörden zur Verfügung gestellte Material, sowohl die Volkszählungsblätter der Statistischen Zentralkommission als auch die vom Meldungsamt fortlaufend überstellten polizeilichen Anmeldungen nur zu Steuerzwecken verwendet. Sie hat die zur Besteuerung geeigneten Personen und Daten herausgesucht und alles andere ad acta gelegt. Aber auch die Wohlfahrtsämter der Wiener Gemeinde führen keine Statistik über die von ihnen behandelten Fälle.

So führt z. B. das Wohltätigkeitsamt der Israelitischen Kultusgemeinde überhaupt keine Frequenzstatistik. Es weiß nicht, wie viel Fälle ihm jährlich unterlaufen, es weiß auch nichts über die Gliederung der zu Hilfsmaßnahmen aufgewandten Gelder zu erzählen. Der Tätigkeitsbericht des Gemeindevorstandes ist schon seit dem Jahre 1910/11 nicht erschienen und so sind wir auch nicht einmal über die Höhe der verausgabten Gelder unterrichtet. Auch die Zentralstelle für jüdisches Armenwesen hat außer einem großen Kataster nicht viel zu bieten. Es ist bemerkenswert, dass in dem Hause in der Seitenstettengasse überflüssigerweise nicht weniger als vier große Armenkataster geführt werden, die alle weit über 20.000 Blätter zählen. Überflüssigerweise deshalb, weil die Kundschaften die gleichen sind und es nicht schwierig wäre, die in vier Bureaus dezentralisierte Armenfürsorge aus einem Zentralkataster zu versorgen. Vielleicht wäre dadurch Zeit und Raum gewonnen zu einer, wenn auch noch so bescheidenen, aber immerhin aufschlussreichen Statistik der jüdischen Armenfürsorge. Angeblich sollen eben über die Errichtung eines statistischen Bureaus der Kultusgemeinde Vorberatungen gepflogen werden. Möglicherweise wird die geplante Zentralisierung der privaten jüdischen Wohlfahrtspflege in Wien zu Zweckverbänden auch auf die unglaubliche und unnötige Dezentralisation der öffentlichen Einrichtungen beispielgebend wirken.

Unter den vorliegenden Umständen fehlen natürlich alle Voraussetzungen zu einer gründlichen Erhebung über das jüdische Armenwesen in Wien oder gar zur Vollständigkeit einer Wohlhabenheitsstatistik.

Das Soziale Organisationsamt des Jüdischen Nationalrates veranstaltete eine Erhebung über die Lebensverhältnisse der ärmeren Juden Wiens. Es blieb ihm hierbei nichts übrig als

1. Einzelstudien zu machen und

2. Stichproben nach verschiedenen Richtungen hin zu versuchen.

Die Einzelstudien sind nun in der Tat geeignet, ein anschauliches Bild von der drückenden Gewalt des einzelnen Leidens zu bieten. Denn eindringlicher als statistische Tafeln und theoretische Untersuchungen sprechen einzelne Lebensschicksale. Die scharfen Konturen eines lebendig geschauten Bildes dringen in das Bewusstsein und bewirken, wenn auch spät, so doch sicher, Handlungen, die unmittelbar aus dem gewonnenen Eindruck hervorwachsen. Die Stichproben hingegen sollen die bedauerlicherweise fehlende Vollstatistik über den Umfang des Elends notdürftig ersetzen. Eine dieser Stichproben, die Erhebung über das jüdische Wohnungselend in Wien, liegt vor.
Die anderen sollen folgen.

Um eine Skizze über die Zusammensetzung der auf 50.000 Haushaltungen zu schätzenden jüdischen Bevölkerung Wiens zu versuchen, seien erwähnt: Es gab vor dem Kriege rund 29.000 Steuerträger der Kultusgemeinde. Heute sind es gegen 28.000. Die Zahl der über 200 K jährlich Kultussteuer Zahlenden beläuft sich auf 4.000 bis 5.000.

Eine beredte Sprache spricht die nachfolgende Tabelle der jüdischen Leichenbegängnisse seit 1913, für deren freundliche Überlassung dem Friedhofamt gedankt sei.

Leichenbegängnisse in den Jahren 1913 bis einschließlich 1918

Man ersieht aus dieser Tabelle, dass die ungemein große Zahl der untersten zwei Gruppen stets konstant bleibt, und dass sich der Anteil an der Gesamtzahl mit dem Anteil der kleinen und kleinsten Wohnungen an der Gesamtzahl der Wohnungen überhaupt (welcher 82,5 % beträgt) deckt. Die Inhaber der kleinen und kleinsten Wohnungen sind natürlich auch die Anwärter für die billigst oder gar nicht berechneten Leichenbegängnisse. Es erscheint also aus diesem Parallelismus der Schluss berechtigt, dass innerhalb der Judenschaft die gleiche soziale Schichtung herrscht, wie in der Gesamtbevölkerung. Was aber leidenschaftlich geleugnet wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdisches Elend in Wien