Jüdische Wissenschaft

Königsb. Hart. Zeit., 2. Beilage der Abendausgabe, Freitag 14. Sept. 1906. Auch englisch unter dem Titel „The Study of Jewish Science“ in „The Jewish Comment“, Baltimore 9. Nov. 1906 p. 93 ff.

In der Sonntagsbeilage zu Nr. 386 dieses Blattes ist ein Artikel über die „Monumenta Judaica“ enthalten, in dem der Verfasser mit Recht bemerkt, dass angesichts des hohen Aufschwunges, den in der letzten Zeit die religionswissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen Forschungen genommen haben, die stiefmütterliche Behandlung des Judentums bei all diesen zahlreichen wissenschaftlichen und populären Werken auffallen muss. Wir teilen weiter seine Ansicht, „dass einige der betrübendsten Züge in der antisemitischen Bewegung ebenso wie manche Rückschläge, welche der moderne Antisemitismus unter den Juden erzeugt hat, nur durch die herrschende Unkenntnis zu erklären sind“. Dagegen müssen wir dem Verfasser entgegentreten, wenn er unter den Gründen für die erwähnte auffallende Erscheinung die Geringfügigkeit der Vorarbeiten nennt, welche von jüdischer Seite geliefert worden sind. Ein Blick auf die eben vollendete zwölfbändige Jewish Encyclopedia, die den Ertrag aller bisherigen Forschungen über das Judentum zusammenfasst und über die an dieser Stelle seinerzeit nach Erscheinen des ersten Bandes berichtet wurde,*) zeigt schon, was von Juden an wissenschaftlicher Arbeit für Sprache, Lehre, Geschichte und Schrifttum ihrer Vorfahren geleistet worden ist. Noch weniger aber können wir die nachstehende Bemerkung unwidersprochen lassen: „Das Studium der jüdischen Literatur wird von den Juden selbst in der Regel aus rein religiösen, nicht eigentlich wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrieben, und die Zahl der jüdischen Gelehrten ist gering, welche sich der wissenschaftlichen und methodischen Ausbildung rühmen können, die sie zu einer anderen Betrachtungsweise befähigte.“ Trotzdem an dieser Behauptung etwas Wahres ist, verkennt sie doch derart die Tendenzen, die Fähigkeiten und die Leistungen der vielen jüdischen Gelehrten, die seit bald 100 Jahren in selbstloser Weise ohne Aussicht auf Gewinn und Ehren ihr Leben der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums geweiht haben, dass es angebracht erscheint, über diese ganze Wissenschaft und die eigentümlichen hemmenden Verhältnisse, unter denen sie sich entwickelt hat, einiges mitzuteilen.


Während sonst der Staat es als eine seiner obersten Aufgaben betrachtet, jede neue Wissenschaft anzuerkennen und zu fördern, hat die Wissenschaft vom Judentum bis auf den heutigen Tag eine völlige Ignorierung von Seiten des Staates erfahren. An keiner deutschen Universität existiert ein Lehrstuhl für dieses nach so vielen Richtungen wichtige und fruchtbare Fach. Es scheint fast, als ob das System der Rechtsverweigerung, das auf so vielen anderen Gebieten dem Judentum gegenüber gehandhabt wird, auch seiner Wissenschaft gegenüber angewendet werden soll, und als ob die Missionspolitik, die der Staat seinen jüdischen Bürgern gegenüber treibt, auch hier Platz greifen soll. Denn bezeichnenderweise dienen die einzigen einschlägigen Vorlesungen, die an zwei Universitäten nebenamtlich von evangelischen Theologen gehalten werden, ausgesprochen nur den Zwecken der Judenmissionsanstalt (Institutum Judaicum). Es ist dies um so verwunderlicher, als in Frankreich, England und Amerika längst Professuren für nachbiblisches Judentum existieren, ohne dass man dort den Versuch gemacht hätte, andere als rein wissenschaftliche Zwecke dabei zu verfolgen, was sich schon darin zeigt, dass unterschiedslos jüdische und christliche Gelehrte die betreffenden Lehrstühle innehaben.

So wie die Universitäten verschließen sich auch die deutschen Akademien vollständig der jüdischen Wissenschaft. Während für Erforschung des Islams oder des Buddhismus alljährlich Beiträge zu Forschungsreisen, Textausgaben oder sonstigen Publikationen bewilligt werden, hat noch fast keine das nachbiblische Judentum betreffende Arbeit eine Subvention von selten einer Akademie erhalten, geschweige denn, dass die Akademie sie unter ihre Schriften aufgenommen hätte.**) War doch auch keiner der bedeutendsten Vertreter jüdischer Wissenschaft in Deutschland Mitglied einer Akademie, während die ebenfalls in Deutschland geborenen und ausgebildeten, aber nach Frankreich ausgewanderten jüdischen Gelehrten Salomon Munk und Joseph Derenbourg in ihrem neuen Vaterlande Professuren erhielten und Akademiemitglieder wurden. In Berlin dagegen hat selbst ein Gelehrter vom Range Steinschneiders, der bereits zweimal einen Preis der Pariser Akademie erhalten hatte, erst im Alter von 78 Jahren nicht etwa eine Professur, sondern nur den Professorentitel erhalten.

Da nun die berufenen Pflegestätten der Wissenschaft für das Studium des Judentums nicht in Betracht kommen, so bleiben bloß die wenigen Rabbinerseminare dafür übrig, die jedoch nach ihrer ganzen Anlage nicht dazu berufen sind, rein wissenschaftlichen Zwecken zu dienen, sondern in erster Linie die Ausbildung praktischer Seelsorger bezwecken. Nichtsdestoweniger sind aus denselben fast alle tüchtigen jüdischen Gelehrten der letzten 50 Jahre hervorgegangen, und da dieselben ausnahmslos gleichzeitig auch die Universität besucht haben, ist ein beträchtlicher Teil von ihnen im Besitze der wissenschaftlichen und methodischen Ausbildung, die sie zu gelehrter Arbeit befähigt. Es muss allerdings zugestanden werden, dass daneben auch eine große Anzahl jüdischer Gelehrter existiert, die trotz reicher Kenntnisse nicht über das notwendige wissenschaftliche Rüstzeug verfügen. Es sind dies die in den Ländern des Ostens unter den niederdrückendsten kulturellen und sozialen Verhältnissen aufgewachsenen Talmudjünger, die teils durch eigene religiöse Vorurteile, teils und vor allem durch den Druck von außen keiner regelmäßigen Schulbildung teilhaftig werden, dann nach jahrelangem, mit verzehrender Einseitigkeit getriebenem Talmudstudium die westeuropäischen Universitäten aufsuchen und dort häufig trotz Fleiß und Begabung die Mängel ihrer Vorbildung nicht überwinden können. Doch haben nicht selten auch solche Gelehrte ihren Geist noch diszipliniert und sich zur Höhe der Wissenschaftlichkeit emporgearbeitet.

Von den aus den Rabbinerseminaren entlassenen Kandidaten muss der größte Teil sofort ein Rabbinat annehmen. Ist es eine große Gemeinde, dann fehlt meist die Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit, und ist es wieder eine kleinere Stelle, so fehlen in der Regel am Orte die Bibliotheken und sonstigen wissenschaftlichen Hilfsmittel. Nur ein ganz kleiner Teil kann in die meist schlecht dotierten und überhaupt sehr wenig zahlreichen Dozentenstellen an Rabbinerseminaren einrücken, sodass der Kreis derer, die sich im späteren Leben ungestört ernster Forschung widmen können, sich sehr verengert. Außerdem herrschte bis in die neueste Zeit unter den deutschen Juden eine auffallende und sehr bedauerliche Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums. Nur ein kleiner Kreis kaufte und las die großen Werke über die Geschichte und Literatur des Judentums, und äußerst selten fand sich ein Mäzen, der den Gelehrten die Veröffentlichung ihrer Bücher ermöglichte. Obwohl die Wissenschaft vom Judentum bis vor kurzem überwiegend deutsch war, hat sie in Deutschland am wenigsten verständnisvolle Förderung erfahren, während in England und Amerika die Juden viel besser erkannten, welche Bedeutung dieselbe für den Bestand, das Ansehen und die Fortentwicklung des Judentums habe, so dass heute ihr Schwerpunkt sich immer mehr nach Amerika verschiebt.

Trotz dieser ungünstigen Bedingungen hat sich die jüdische Wissenschaft in Deutschland (und Österreich-Ungarn) selbständig entwickelt, und es genügt, auf Namen wie Leopold Zunz, Abraham Geiger, Zacharias Frankel, Michael Sachs, Leopold Low, Manuel Joel (um nur Verstorbene zu nennen) hinzuweisen, um die Behauptung zu widerlegen, dass die Juden das Studium der jüdischen Literatur in der Regel aus rein religiösen Gesichtspunkten betreiben. Die jüdische Wissenschaft ist nicht jüdisch in dem Sinne, dass sie irgend eine Färbung oder Tendenz aufweist, so wie man etwa von einer katholischen Wissenschaft spricht, sondern nur ihr Gegenstand soll damit bezeichnet werden. All die genannten Gelehrten und noch viele andere standen ihrem Gegenstand sehr unbefangen und frei gegenüber und legten an die Urkunden des Judentums — sei es Bibel, sei es Talmud oder Midrasch oder die Philosophen des Mittelalters — wie an die großen Männer seiner Vergangenheit einen sehr kritischen Maßstab an. Nicht eine einzige ihrer Schriften trägt apologetischen Charakter, wenn anders man unter Apologetik einen Beweis des Glaubens oder eine Verteidigung der Tradition gegenüber der geschichtlichen Wissenschaft versteht. Ja, sie beschäftigen sich sogar, was nicht gerade als ein Vorzug zu betrachten ist, auffallend wenig mit der Lehre des Judentums, sondern viel mehr mit seiner Sprache, Geschichte und Literatur, also mit Gegenständen, in die die religiöse Anschauung weniger hineinspielt.

Wenn also auch keineswegs religiöse Befangenheit in dieser Wissenschaft sich bemerkbar macht, so leidet dieselbe doch an einem Übel, das ihre freie Entfaltung sehr ungünstig beeinflusst. Die maßlosen Angriffe auf Gegenwart wie Vergangenheit der Juden, die teils aus Unkenntnis, teils aus offener Böswilligkeit sich herschreiben und sich mit Vorliebe in ein wissenschaftliches Mäntelchen hüllen — ist ja das Wort und der Begriff Antisemitismus selbst eine Pflanze solcher Pseudowissenschaftlichkeit — , zwingen die jüdischen Gelehrten immer und immer wieder, auf den Plan zu treten und falschen Anklagen den Boden zu entziehen. Zahlreiche Forscher vergeuden förmlich ihre ganze Arbeitskraft, um die zu belehren, die teilweise nicht belehrt sein wollen und teilweise eine Widerlegung gar nicht verdienen. Von der Ritualmordanklage angefangen bis zu den Darstellungen des Judentums in religionsgeschichtlichen Werken von Universitätsprofessoren gibt es so viele Formen von falschen Anklagen, zu denen die Juden nicht schweigen wollen und dürfen, dass die dadurch entstandene polemische Literatur schon ins Unheimliche angewachsen ist und man sich unwillkürlich fragen muss, ob der Aufwand an Arbeit, Scharfsinn und Gelehrsamkeit wirklich lohnt. Polemik — und wäre sie noch so gerechtfertigt — darf in keiner Wissenschaft den Grundton angeben. So ist es bezeichnend, dass die vor einigen Jahren in Berlin ins Leben gerufene Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums als erste selbständige Veröffentlichung zwei populäre Schriften von L. Bäck und J. Eschelbacher erscheinen ließ, die schon durch ihren Titel verraten, dass sie durch Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums hervorgerufen sind. So gediegen beide Arbeiten sind, so harren der jüdischen Wissenschaft doch noch höhere Aufgaben, die unabhängig von den Bedürfnissen des Tages zu lösen sind.

Die jüdische Wissenschaft wird sich erst dann normal entwickeln können, wenn sie nicht mehr nötig hat, mit tausend Seitenblicken zu arbeiten. Um zu dieser Unabhängigkeit zu gelangen, müssten sich ihr aber erst die Universitäten und Akademien erschließen, wo die Pfleger und Jünger sich ungestört der Erforschung des Judentums widmen können. Dann würden auch sicher von jüdischer wie christlicher Seite Werke geschaffen werden, die schon durch die Größe ihres Gegenstandes Interesse und Achtung für das Judentum erwirken könnten und besser als irgend eine Abwehrzwecken dienende Gelegenheitsschrift Verständnis für eine so einzigartige geschichtliche Erscheinung wecken würden.

*) Sonntagsblatt Nr. 37 vom 15. September 1901 (s. oben S. 51 ff.).

**) Inzwischen hat die Göttinger „Gesellschaft der Wissenschaften“ 1913 endlich doch den Bann gebrochen und in ihr großes Unternehmen „Quellen der Religionsgeschichte“ auch die Bearbeitung der Quellen des nachbiblischen Judentums aufgenommen. Dieselben sollen hier in möglichst vollständiger Übersetzung und, wenn nötig, in kritischer Neuausgabe vorgelegt werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen