Eine Enzyklopädie des Judentums

Sonntagsbeilage der „Königsb. Hart. Zeit.“ 15. Sept. 1901.

Soeben ist in New-York der erste Band der lange angekündigten Jewish Encyclopedia erschienen. Das auf zwölf Bände berechnete Werk will nicht weniger geben als ein vollständiges, wissenschaftliches Nachschlagebuch über Religion, Geschichte, Literatur und Sitte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart und kommt, wenn irgendwo der Ausdruck zutrifft, wirklich einem von vielen Seiten gefühlten Bedürfnis entgegen. Die dem Ganzen vorangeschickte interessante Einleitung beginnt mit den Worten: „Dank ihrer langen Geschichte und weiten Zerstreuung haben die Juden an den meisten bedeutsamen Bewegungen in der Geschichte der Menschheit teilgenommen. Die großen monotheistischen Religionen sind auf der jüdischen Bibel aufgebaut, die mittelalterliche Philosophie und Wissenschaft sind untrennbar mit den Juden als Vermittlern verknüpft, und in neuerer Zeit hat es kaum eine Phase menschlichen Denkens und Tuns gegeben, in der sich eine Anteilnahme von ihrer Seite nicht nachweisen ließe. Während sie so im Laufe der Jahrhunderte eine hervorragende Rolle in der Entwicklung des menschlichen Denkens und des sozialen Fortschritts gespielt haben, gab es noch keine zuverlässige Rechenschaft über ihre vielseitige Tätigkeit. Die jüdische Enzyklopädie möchte einen solchen Bericht geben, indem sie für diesen Zweck alle Hilfsmittel moderner Wissenschaft und Gelehrsamkeit nutzbar macht.“


In der Tat fehlte es bisher vollkommen an einem zusammenfassenden Werke, das ein Bild des Judentums nach seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu allen Zeiten und in allen Ländern gegeben hätte. Die theologischen Realenzyklopädien beschäftigten sich nur mit dem alten Judentum, bei Ersch und Gruber finden sich zwar wertvolle Skizzen der späteren jüdischen Geschichte und Literatur, aber daneben naturgemäß nur wenige Artikel, die uns das Eindringen in die Details ermöglichen. So entzog sich die äußere und innere Geschichte der Juden seit 2000 Jahren fast vollständig der Kenntnis weiterer Kreise. Wohl hatte sich im 19. Jahrhundert die kritisch-historische Forschung auch dem Judentum zugewandt und war in Deutschland eine besondere jüdische Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft vom Judentum, seiner Lehre, seiner Geschichte und Literatur entstanden. Aber von Anfang an schwebte ein besonderer Unstern über dieser Wissenschaft. Sie fand weder die Mäzene, die sie materiell gefördert, noch die Beachtung von staatlicher Seite, die ihr moralisch die nötige Stütze geboten hätte. Das alteingewurzelte Vorurteil gegen das Judentum richtete sich nun auch gegen die Wissenschaft, die seine historische Erkenntnis anstrebte; keine deutsche Universität öffnete den Vertretern dieser Wissenschaft ihre Hallen; man verweigerte den Juden nicht nur ihr Recht in der Gegenwart, sondern wollte ihnen nicht einmal vergönnen, den dichten Nebel, den Aberglaube und Fanatismus, Beschränktheit und Bosheit über ihre Vergangenheit gebreitet, mit der Fackel des Geistes zu zerteilen.. Die Wissenschaft lässt sich zwar nicht knebeln, und Männer wie Zunz, Geiger, Grätz und Steinschneider, die mangels jeder äußeren Unterstützung und Ermunterung von ihrem Idealismus leben mussten, veröffentlichten ihre großen Werke, in denen das Judentum dem unbefangenen Betrachter sich selbst darstellt und rechtfertigt. Doch ging selbst ein großer Teil der Juden achtlos und verständnislos an ihnen vorbei, und das nichtjüdische Publikum nahm überhaupt keine Notiz davon. Gibt es doch heute in der gebildeten, ja in der gelehrten Welt nicht wenige, die von dem entsetzlichen Martyrium wie von der glänzenden Geistesgeschichte der Juden im Mittelalter nichts wissen, die sich die Juden früherer Zeiten als eine Horde von Schacherern und Wucherern vorstellen, für deren Geist das Märchen vom Ritualmord ebenso willkommene Nahrung ist wie die Fabel von den geheimen Schätzen der Juden.

Nun, wer überhaupt Lust und Willen hat, sich über das Judentum zu belehren, wer nicht aus Prinzip das Vorurteil dem Urteil vorzieht und lieber verkennt als erkennt, dem ist in der Encyclopedia reichlich Gelegenheit geboten, sich nach allen Richtungen hin über den Gegenstand zu informieren, er findet dort eine objektive Darstellung der religiös-sittlichen Ideale des Judentums, er findet dort den Schlüssel zwar nicht zu geheimen Schätzen an Gold und Edelstein, aber zu den Schätzen des Geistes und Gemüts, die der jüdische Stamm auch in den Zeiten des Drucks und der Verfolgung still und unermüdlich angesammelt, die ihm kein Scheiterhaufen und keine Inquisition rauben konnte, die ihm die Kraft verliehen, alles Erdenleid zu dulden und dem Hohn der Feinde zu trotzen. Die Encyclopedia zeigt uns weiter, wie das Judentum aller Zeiten und Länder doch eine große Einheit bildet, dass es in den verschiedenen Verbindungen, die es eingegangen ist, seinen ursprünglichen Charakter, den starr und zäh durchgeführten Monotheismus, nie verleugnet, dass es im Altertum mit dem hellenischen Geiste, im Mittelalter mit der arabisch-spanischen Kultur, in der Neuzeit mit dem Geist aller modernen Kulturnationen sich innig amalgamiert hat, ohne ganz darin aufzugehen, dass es sich bis auf den heutigen Tag als schöpferische Kraft bei Dichtern und Künstlern bewährt, die aus seinem ureigensten Geiste schöpfen, dass es für Millionen selbst in Europa noch heute die einzige Quelle sittlichen und geistigen Lebens ist, dass seine altehrwürdige Sprache, das Hebräische, in den Ländern des Ostens als lebende, ausdrucksfähige Literatur- und Kultursprache sich immer weiter ausbildet.

So bietet uns die Encyclopedia, um nur einige Beispiele herauszugreifen, neben einander Artikel über Abraham und den modernen hebräischen und Jargonschriftsteller Abramowitsch, über Abravanel, den gelehrten Staatsmann Ferdinands des Katholischen, und über Uriel Acosta, über Alkoholismus bei den Juden und über das Alphabet, dessen sie sich zu den verschiedenen Zeiten bedienten, über apokalyptische Literatur und synagogale Melodien. Die scheinbar heterogensten Gegenstände erschienen hier vereint durch ihre gemeinsame Beziehung zum Judentum, und so stellt die Encyclopedia ein kulturhistorisches Denkmal ersten Ranges dar. Dadurch, dass das Judentum gleichzeitig antik und modern ist, dass es in den Strudel aller weltgeschichtlichen Umwälzungen hineingezogen wurde und dieselben teilweise beeinflusst und mit hervorgerufen hat, dass es in fast allen Ländern des Orients und Okzidents so viel erlebt und gelernt, gedacht und geschaffen hat, ist es eine in der Geschichte einzig dastehende Erscheinung, und wenn sein bedeutendster Historiker sagt, die jüdische Geschichte stelle die Weltgeschichte im Kleinen dar, so lässt sich mit demselben Rechte sagen, dass die Encyclopedia im Kleinen ein Bild all dessen darstelle, was den menschlichen Geist jemals beschäftigt und bewegt hat.

Dafür, dass das Werk niemals in Tendenz verfällt und den objektiven, streng wissenschaftlichen Standpunkt niemals verlässt, bürgt der Umstand, dass es durch die gemeinsame Arbeit von mehreren hundert christlichen und jüdischen Fachmännern beider Welten bearbeitet ist, und dass jeder Artikel mit dem Namen seines Verfassers erscheint. Das Werk verschweigt und beschönigt darum auch nicht die Fehler und Schwächen der Juden im einzelnen wie in ihrer Gesamtheit, aber es zeigt uns auch, wann und wodurch diese Fehler entstanden und teilweise mit Notwendigkeit entstehen mussten, es erklärt dieselben geschichtlich und schreibt auf den Schild des Judentums gleichsam den Verteidigungsruf: „I am a man more sinn'd against than sinning“.

So dürfen wir uns der Erwartung hingeben, dass das von Juden und Christen für Juden und Christen geschriebene Werk auch für alle Kreise von Lesern und Benutzern fruchtbar werde, um manches Vorurteil zu zerstören, manches Unrecht gut zu machen, um vor allem die Kenntnis und das Verständnis des Judentums immer weiter zu verbreiten und so zur gegenseitigen Achtung und Annäherung zwischen den Bekennern beider Religionen beizutragen. Hoffen wir, dass auch die weiteren elf Bände bald nachfolgen und in Ausstattung wie Inhalt auf der gleichen Höhe sich halten.*) Besondere Anerkennung gebührt dem leitenden Redakteur Isidor Singer, der zuerst den Plan des Werkes entworfen hat und, nachdem er in Europa mit seinem großen Projekt nicht durchdrang, in ungebrochener Energie jenseits des Ozeans die Männer suchte und fand, die seinen Gedanken aufgriffen und glücklich durchführten. Dank gebührt auch der (nicht jüdischen) Verlagsfirma Funk and Wagnalls Company, die kein Opfer scheute, um ein Standard work zu schaffen. Wenngleich nun das Werk in englischer Sprache erschienen und darum einem Teil des deutschen Publikums unzugänglich ist, hat doch auch die deutsche Wissenschaft Grund, auf dasselbe stolz zu sein: Die jüdische Wissenschaft ist in Deutschland entstanden, mit deutschem Geiste befruchtet worden und trotz der beharrlich verweigerten offiziellen Anerkennung eine wesentlich deutsche Wissenschaft geblieben. Auch unter den Mitarbeitern der Encyclopedia finden sich unverhältnismäßig viele deutsche Gelehrte, bei zahlreichen Artikeln geben die Quellennachweise nur deutsche Werke an, und so wird jedenfalls auch in Deutschland dem großen Unternehmen die gebührende Beachtung und Anerkennung nicht fehlen.

*) Inzwischen liegt das Werk längst (seit 1906) abgeschlossen in 12 Bänden vor.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen