Die Wissenschaft vom Judentum an den deutschen Universitäten

In Nr. 171 dieses Blattes ist von berufener Seite zu meinen vor einiger Zeit erschienenen Ausführungen über „Jüdische Wissenschaft“ Stellung genommen worden. Da dieselben auch an anderer Stelle,*) und zwar in ungleich weniger freundlicher Weise kritisiert worden sind, sei es mir gestattet, noch einmal auf den Gegenstand zurückzukommen.

*) Königsb. Hart. Zeit. 1. Bl. der Morgenausgabe, Dienstag 16. Juni 1908.


Vor allem sei ein Missverständnis aufgeklärt, das sich auffallenderweise in beiden Kritiken wiederfindet. Gegenüber der Forderung, dass eine besondere Professur für die Wissenschaft vom Judentum gegründet werde, wird auf die Tatsache hingewiesen, dass an unseren Universitäten für die Erforschung anderer Religionen (abgesehen von Christentum), wie des Islams und des Buddhismus, auch nicht mehr geschähe, als für die des Judentums. Dabei ist aber ein Hauptpunkt außer acht gelassen. An jeder Universität ist ein Lehrstuhl für Arabisch und Sanskrit vorhanden, und sein Inhaber kann jederzeit nach Wunsch und Bedürfnis seine Hörer in die Urkunden der mohammedanischen und indischen Religion einführen. Für Sprache, Geschichte und Literatur des nachbiblischen Judentums — und gerade diese sind die wichtigsten Seiten der jüdischen Wissenschaft und treten gegenüber der bloßen Religion an Bedeutung in den Vordergrund — existiert dagegen an deutschen Hochschulen im Gegensatz zu Frankreich, England und Amerika noch keine Professur. Nun meint der Kritiker der „Kreuzzeitung“, das Neuhebräische werde eben von den Professuren für orientalische Sprachen „mitvertreten“. Demgegenüber ist vor allem darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung Neuhebräisch weder nach Umfang noch nach Inhalt dem Gegenstand entspricht, für welchen die Errichtung eines besonderen Lehrstuhls postuliert wird. Das ganze jüdische Schrifttum der letzten zwei Jahrtausende, das zu einem beträchtlichen Teil nicht in hebräischer, sondern in aramäischer und arabischer Sprache vorliegt, das nicht nur Religionsschriften, sondern auch eine reiche wissenschaftliche und schöngeistige Literatur umfasst, die wechselnden Schicksale und die schwer zu verstehende innere Entwickelung des Judentums während eines so langen Zeitraumes und in so vielen Ländern sind ein so umfangreiches, vielseitiges, die verschiedensten Perspektiven eröffnendes Forschungsfeld, dass es einen ganzen Mann erfordert und nicht im Nebenamt von einem Orientalisten vertreten werden kann, selbst wenn er die sprachlichen Vorkenntnisse dafür besitzt, was ja auch, wie bekannt, nur äußerst selten zu finden ist. Wie weit eine solche „Mitvertretung“ reicht, hat sich erst vor kurzem an einem eklatanten Beispiel gezeigt. Der als Arabist rühmlichst bekannte Jenaer Professor Völlers hat einen Katalog der orientalischen Handschriften der Universitätsbibliothek in Leipzig veröffentlicht. Dabei musste er nun in Ermangelung eines für dieses Gebiet kompetenten Professors an der dortigen Universität auch die hebräischen Handschriften beschreiben. Leider aber strotzt sein Katalog nach dieser Richtung hin von so groben Irrtümern, dass der Leipziger Rabbiner Porges, eine Autorität auf dem Gebiete der hebräischen Bibliographie, ihn einer vernichtenden Kritik in einem Fachorgan**) unterzog und dabei mit Recht bemerken konnte: „Es bleibt beschämend — ob für die jüdische Literatur oder ihre nichtjüdischen Bearbeiter, sei dahingestellt — , dass auf diesem einen Gebiete noch immer Unberufene sich als Sachverständige aufspielen dürfen und des angemaßten statt des redlich erworbenen Wissens Fülle das Wort führen darf.“

Ein solcher Fall steht durchaus nicht vereinzelt da, und es kann doch wahrlich nicht im Interesse der deutschen Wissenschaft liegen» dass jahraus jahrein auf ihrem Gebiet hochangesehene Professoren sich die schlimmsten Blößen geben, wenn sie sich auf das ihnen fremde Gebiet des nachbiblischen Judentums wagen und dann von nicht zur Zunft gehörigen Gelehrten oft in elementaren Dingen die beschämendsten Berichtigungen sich gefallen lassen müssen. Andererseits werden die außerhalb der Universität stehenden berufenen Vertreter des Fachs aus Gründen, die ich schon in meinem ersten Artikel angeführt habe, meist nicht in der Lage sein, gleich einem Zunz und Steinschneider unter Überwindung aller äußeren Hemmnisse große Werke zu schaffen, wie sie sonst nur eine nach jeder Richtung hin unabhängige Wissenschaft hervorbringen kann. Eine Wissenschaft, die nicht in den Universitätsbetrieb einbezogen ist, steht nun einmal nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch in der tatsächlichen Leistungsfähigkeit nicht auf der zu fordernden Höhe. Die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, deren neues Gebäude unlängst eingeweiht wurde, kann bei aller Tüchtigkeit und Aufopferung ihrer Dozenten nicht das leisten, was ihr Begründer Abraham Geiger von ihr erwartet hat. Denn eine private Anstalt, die noch dazu unter dem Zwange der Verhältnisse als ihre Hauptaufgabe die Heranbildung praktischer Rabbiner betrachten muss, kann, selbst wenn sie nicht so kümmerlich dotiert wäre, nicht mit der Universität konkurrieren, an der die Wissenschaft als Selbstzweck gepflegt wird, oder doch gepflegt werden soll.

Auch der verehrte Verfasser des Artikels in Nr. 171 muss zugestehen, „dass die Gründung einer Professur für die Wissenschaft vom Judentum an einer großen Universität etwas für sich hätte.“ Nur fürchtet er, dass vorläufig an geeigneten Bewerbern kein Überfluss sein wird. Hierin muss ich ihm allerdings unbedingt recht geben. Aber gerade durch die Gründung einer besonderen Professur für das Fach würde erst Studierenden, die Neigung und Begabung dafür haben, die Gelegenheit geboten, sich der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums hinzugeben, und gleichzeitig auch ein Ansporn geschaffen, sich bei der Wahl eines Lebensstudiums für dieses bisher völlig aussichtslose Fach zu entscheiden. Der nötige Nachwuchs würde sich so sicher einstellen, wie bei der Assyriologie, die noch bis vor kurzem als junge Wissenschaft ganz ebenso um ihre „Universitätsfähigkeit“ kämpfen musste und nunmehr schon eine stattliche Anzahl von hervorragenden Vertretern aufzuweisen hat.

Noch weniger kann ich ein anderes Bedenken meines Kritikers anerkennen. Er meint, unser Gegenstand sei „gerade ein dem modernen Menschen so fernliegendes Gebiet“. In unserem Zeitalter, wo Sprache und Kultur der wilden Völker Amerikas und Afrikas mit Eifer studiert werden, dürfte doch diese mit der allgemeinen Kulturgeschichte so eng verknüpfte, so mannigfaltige Beziehungen aufweisende Wissenschaft einiges Interesse beanspruchen. Ja, man darf wohl sagen, dass gerade diese Wissenschaft recht modern und aktuell werden müsste, da sie ein die Gegenwart so stark beschäftigendes Problem zum Gegenstand hat und ein gerechteres und objektiveres Urteil auf einem Gebiete anbahnen könnte, das bisher nur ein Spielball zwischen wüster Polemik und unerquicklicher Apologetik gewesen, an dem Unkenntnis auf der einen und Unmethode auf der anderen Seite (und Vorurteil auf beiden Seiten) sich schon zu sehr versündigt haben. Und wenn mein Kritiker zweifelt, ob so leicht jemand „ohne bestimmte religiöse, christliche oder jüdische Gesichtspunkte“ sich überhaupt auf dieses Gebiet begeben würde, so meine ich umgekehrt, dass, wenn irgend etwas, dann eben nur die Gründung einer Professur an einer philosophischen Fakultät den Gegenstand dem theologischen Gezänk entziehen und seine Behandlung von einer höheren Warte aus bewirken könnte.

Schließlich wird mir noch entgegengehalten: „Der Erfolg ist auf alle Fälle kein verlockender.“ Der Verfasser denkt hier wohl an den akademischen Erfolg. Wie bei jeder wahren Wissenschaft, darf indes die Frage des Erfolges nicht in den Vordergrund gerückt werden, da doch die Wissenschaft um ihrer selbst willen da ist. Doch schon heute lässt sich sagen, dass hier nicht nur die Religionswissenschaft, sondern auch die Sprach- und Literaturwissenschaft wie nicht minder die kulturgeschichtliche Forschung fruchtbare Anregungen erhalten und neue Tatsachen lernen würden. Vor allem die klassische Philologie und Altertumswissenschaft könnten eine ungeahnte Fülle wichtigen Materials aus der tieferen Erforschung des talmudischen Schrifttums zugeführt erhalten. Die Geschichte der Philosophie, der Mathematik, der Medizin im Mittelalter kann nicht verstanden werden ohne Würdigung des Anteils, den die Juden Spaniens, Italiens und der Provence an der Entwickelung dieser Wissenschaften genommen haben. Die altfranzösische und mittelhochdeutsche Sprachforschung haben manches verlorene Sprachgut unter dem fremden Gewande hebräischer Transskription wiedergefunden. Die spanische und portugiesische Sprache leben noch heute in ihrer älteren Gestalt im Munde derjenigen Juden, deren Vorfahren vor vier Jahrhunderten grausam aus der pyrenäischen Halbinsel vertrieben wurden, und die reiche Literatur, die die Vertriebenen in fremden Ländern ausgebildet haben, wird heute vom Mutterland als Nationalliteratur reklamiert. So ist erst im letzten Jahre ein im Jahre 1553 in Ferrara erschienenes portugiesisches Werk von Samuel Usque,***) dessen Verbreitung damals die Inquisition verhinderte, von dem christlichen Gelehrten Mendes dos Remedios als Denkmal der alten portugiesischen Sprache und Literatur mit diplomatischer Genauigkeit wieder abgedruckt worden.

So wird ein vertieftes Studium des Jahrhunderts in all seinen Erscheinungsformen nach den verschiedensten Richtungen hin sich als fruchtbar erweisen und die deutsche Wissenschaft um ein Gebiet bereichern, dem nur ein atavistisches Vorurteil so lange die gebührende Würdigung versagt hat, und das in anderen Kulturländern, wie erwähnt, tatsächlich schon längst in den Hochschulbetrieb aufgenommen ist.

*) Kreuzzeitung 1906 Nr. 449, vgl. Orientalistische Literatur-Zeitung 19U7, 28. 152—155.

**) Zeitschrift für hebräische Bibliographie 1907, 13. 54. 81.

***) Consolaçamástribulaçoes de Israel, erschienen in den „Subsidios para o estudo da Historia da Litteratura Portuguesa“ VIII — X (Coimbra 1906—07).

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen