Otto Weininger von Oskar Baum

Otto Weininger von Oskar Baum

Nur der, welcher ni Angst war, findet Ruhe; nur der, welcher in die Unterwelt hinabsteigt, befreit die Geliebte. (S. Kierkegaard.)


„Wie Nachtigallgesang im Dunkeln tönt uns göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt. (Novalis.)

Die westjüdische Jugend um die letzte Jahrhundertwende, die auf ein Geschlecht schon völlig entfärbter, ihrer Wurzellosigkeit, wenn überhaupt, mit Stolz bewusster Kosmopoliten folgte, war nichts als ein erschütternder Laut Sehnsucht und Verzweiflung, wo immer ein Sprecher von Wert ihrer Stimme Gehör schaffte. Unerträglich wurde ihr das leere verlogene Spiel ihrer Väter mit den zu Phrasen eingetrockneten Überresten halber Revolutionen, mit denen sie sich ein höheres Selbst, das Streben danach, ersetzten und so ohne Gewissens Schwierigkeiten durch die Tragik des Daseins tachinierten. Diesen alles durchschauenden Vätern war es Essenz der Lebensweisheit, nichts ernst zu nehmen. Beruhigt durch die mit solider Kausalität unterbauten Schienen (materialistische Geschichtsauffassung und Psychologismus der Philosophie, monistisch-darwinsche Kosmogonie der Naturwissenschaft) vertrauten sie dem immer schneller dahinrollenden zivilisatorischen Fortschritt als Menschheitsidee, und es galt ihnen entweder beste Technik des Gelderwerbs und der Gütererzeugung (günstigste materielle Lage des Einzelnen) oder beste Mechanik der Arbeitsund Güterverteilung (beste materielle Lage der Massen) als höchstes Ideal, so weit sie dieses Wort nicht als kindlich überspannt und blamabel sich ausgebeten hätten. Ihr Nationaldrama war Nathan der Weise, wo die Gleichheit des religiösen Erlebnisses aller Menschenherzen als so selbstverständliche Voraussetzung die Unterlage bildet, dass man nicht bis zu ihr hinabzutauchen braucht und die Verwischung der verschiedenen Auswirkung in den Lebensfarben der Völker und Rassen es leicht macht, mit seiner zur Form geronnenen Äußerung das religiöse Erlebnis selbst zu bagatellisieren.

Es war die Zeitstimmung, die Geistesverfassung der ganzen Welt, in die diese Lebensanschauung eingebettet war, und so regte sich auch die Gegenbewegung in der Jugend aller Völker, die in diese Luft hineingeboren war und in ihr zu ersticken vermeinte. Überall erhob sich in den Seelen Empörung gegen dies Leben ohne Himmel, ohne Raum für den ewigen Kampf um die letzte Wahrheit, Ringen nach dem Glauben an transzendente Verankerung des Seins. Strindberg, Tolstoi, Bergson, die religiöse Renaissance der Jugendbünde, an der Peripherie die Kreise der New Mind, der Theosophie, des Spiritismus.

Unter den Kündern und Blutzeugen der neuen Religiosität, vielleicht nicht der bedeutendste, aber gewiß einer der auffallendsten und wirkungsvollsten, war Otto Weininger, dessen Erscheinung wie ein Meteor mit dem plötzlichen scharfen Licht seiner Kühnheit und glühenden Ehrlichkeit das dämmerige Zwielicht der lauen, feigen, im Kleinen sich verbrauchenden Geschäftigkeit um ihn her auseinander riss, durch seine Einheit von Denken und Leben die dumpf Eingewerkelten an ihre Gottähnlichkeit gemahnte, und gleich wieder im Dunkel verschwand.

In ihm war etwas vom echten unerbittlichen sittlichen Zorn jüdischer Propheten, dem Grimm Moses, der die Tänzer um das goldene Kalb zu Tausenden mit dem Schwerte richten ließ, der Wildheit Pinchas, der die Buhler mit Götzendienerinnen mit seinem Speer an den Boden nagelte, etwas von der verzweifelten Voraussicht und (nur in der Terminologie sich vergreifenden) wehen Anklage des Jeremias, ein nur im unreifen Gefäß scheinbar missratener Funke messianischen Glühens, deutlich daran zu erkennen, dass er allen Zwiespalt mit dem Niederen, Gemeinen, allen Widerstand des Chaos, des Teufels dort am stärksten fand und haßte, wo er ihm am nächsten war und ihm der Kampf am schwersten fiel: In sich selbst, in seinem Volke, in seiner Mutter, in seiner Geliebten.

Grobe Irrtümer und Fehler seines Systems und seiner Methode, willkürliche selbstherrliche Schlüsse, in die Augen springende Widersprüche enthüllen sich, wenn man den Bedingungen und Einflüssen auf den Grund leuchtet, die sein Wesen formten, vielfach als unverkennbare Zeichen von Vorzügen. Es ist die Tragik einer Übergangsgeneration, an der er litt, und durch die er Schaden nahm.

1880 als Sohn eines Kunsthandwerkers in Wien geboren, 1902 am Tage seiner Promotion zur protestantischen Kirche übergetreten, erschoss er sich in einer Oktobernacht 1903 im Sterbehaus Beethovens, wo er zu diesem Zweck am Tage vorher ein Zimmer gemietet hatte.

Er empfand die Überwindung der seelenlosen Flachheit in Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, als innere Angelegenheit und Aufgabe jedes Einzelnen. Ich, ich bin es, in dem Gott zu geschehen hat, ich derjenige, durch dessen Entscheidung in jedem Augenblick von neuem (ohne andere Gewähr und Notwendigkeit als den Glauben) das Gute in die Welt kommt. Man sieht hier schon, wie weit in Wahrheit seine Überzeugung vom Christentum entfernt war. Er steht dem (dem jüdischen Glaubenskern benachbarten*) später abgeschworenen Ketzertum des Angelus Silesius am nächsten: „Das Kreuz in Golgatha kann dich nicht von dem Bösen, wo es nicht auch in dir wird aufgericht', erlösen.“

*) Siehe Felix Weltsch „Gnade und Freiheit“ letztes Kapitel. (Kurt Wolff Verlag).

Wir haben nur eine sehr kurze geistige Entwicklung zur kritischen Betrachtung vor uns, vielleicht kaum die ersten Gehversuche einer grandiosen Persönlichkeit, die noch mehr im Wie als im Was des Geäußerten sich ausprägt. Anfangs hing er in Begeisterung Avenarius, auch Ernst Mach an, dem Glauben an die mechanische Evolution, die Entwicklung vom Toten zum Lebendigen (wie Weininger es wohl ausgedrückt hätte), die für den Gottesbegriff keine Verwendung hat. Zwei Jahre vor dem Tod ging die große Wandlung in ihm vor, er erblickte das Wesen der Dinge und mit ungeheurer Leidenschaft erfasste ihn die Erkenntnis, dass Ethik der einzig denkbare Ausgangspunkt für alle Probleme des inneren und äußeren Lebens sei.

Vielleicht hat die Lektüre von Kant, wohl die Kritik der praktischen Vernunft, den äußeren Anstoß zu dem Umschwung gegeben, da in den Berichten seiner Freunde nirgends von einem persönlichen Erlebnis in diesem Zusammen hang die Rede ist. Ein extremer Dualismus (wie der Kants und Platos) und seine Übertragung auf den Denkprozess und die Gefühlsursprünge im Menschen zerschneidet die Welt scharf in zwei Teile, in zwei feindliche Lager. „Das Böse, das Chaos, der Teufel, ist nur der Reflex des Etwas; dies Nichts für real zu halten, das ist der Sündenfall“. Güte und Weisheit sind das in Wahrheit einzig Reale und im Reich des Absoluten auch ein und dasselbe. Nur hier im Dampf des Schlachtfeldes, auf dem Boden der Unsicherheit des Irrealen scheinen sie zweierlei.

„Bewußtsein ist nur durch den Gegensatz möglich. Die Gottheit inkarniert sich im Menschen, um dort im Kampf gegen das Nichts ihrer selbst sich bewußt zu werden. So wie der Mann im Weibe, so will Gott im Menschen sich finden, wiederfinden. Darum ist der Kampf zwischen All und Nichts, Kosmos und Chaos in seinem Innern der Mittelpunkt der Welt“. Hier nun scheint mir das Originale seiner Theorie zu liegen: „Das Nein in jedem bestimmt das Ja, das seinem Nein genau entgegengesetzt ist. Jede Äußerung des Nichts macht die korrespondierende des Ja aus dem All unmöglich“. Und so wie für Weininger als sich gegenseitig bedingendes Zwillingsgestirn auf dem Wege der metaphysischen Bestimmung Logik und Ethik die Führer sind, erscheinen ihm Irrsinn und Verbrechen als das Janusgesicht des Chaos in unserer Brust. Und in Worten, aus denen man das eigene Erlebnis bluten fühlt, schildert er, wie die Sehnsucht nach dem Sinn, dem Guten immer mächtiger wird, je größer die Gefahr der Verwirrung, des Bösen in einer Seele ist, wie das ordnende Genie, der Philosoph, durch Überwindung des Irrsinns entsteht (nicht also in seiner Nähe, wie Lombroso meint, sondern in denkbar größter Entfernung von ihm, sein Gegenpol) und aus dem Verbrecher der Heilige wird.

Schopenhauers willenlose Anschauung, die von allem Zweck gelöste, gilt ihm als einzig sittliche Verhaltungsweise — über Kantens Gebot, den vernunftbegabten Wesen gegenüber, hinausgehend, auch gegen alles Unbelebte, und zugleich der allein mögliche Weg zur Erlangung alles wahren Naturverständnisses und aller Naturempfindung, daher ist der sittliche Mensch das Genie: Überwindung des Willens zur Macht durch den Willen zum Wert. Genialität erscheint ihm nicht als ein Himmelsgeschenk, das ständig das ganze Wesen Begnadeter erfüllt (nach seiner Weltanschauung gibt es wildwuchernde Werte überhaupt nicht), sondern ein Bestandteil allgemein menschlicher Wesenheit. Wie kein Mensch (richtiger kein Mann) ganz ungenial sein kann, so ist kein Genie immerwährend genial, denn Genialität ist Schärfe des Bewusstseins“. Es gibt für ihn kein höheres Gut als Bewußtsein und Erkenntnis, aus denen der Wille, wie ihm selbstverständlich zu sein scheint, notwendig hervorgeht. „Es gibt keine unbewusste, sondern nur bewusste Sittlichkeit“.

Als getreuer Kantianer war ihm alle unwillkürliche Neigung, alles von selbst Gewachsene, Geschenkte Sünde, Hindernis. Der Körper war nicht durch die Seele zu erfüllen, zu gewinnen, die Natur nicht durch den Geist zu erobern, sondern zu besiegen, zu vernichten. Der Instinkt, der Trieb in jeder Gestalt war sein Feind, die Materie der Gegner der Form. Unfasslich war ihm der Gedanke, ein Gott könnte die Welt geschaffen haben. („Auch den Floh, die Laus, die Wanze.“)

So muss ihm die Gebärerin und Nährerin des irdischen Lebens, die Sachwalterin der Gegenwart, des sinnlich vergänglichen Augenblicks gegenüber der Ewigkeit, die Frau, als Inkarnation des Bösen, des Nichts, des Chaos erscheinen.

Die schiefe Stellung, in die Weiningers Andenken geraten ist, hat seine Ursache darin, dass man seine Erstlingsarbeit „Geschlecht und Charakter“, die den Zusammenhang zwischen Sexualität und Verbrechen dartun soll und in ihrer Monumentalität und rigorosen Konsequenz völlig neuer Gesichtspunkte einen gewaltigen Eindruck macht, für sein Hauptwerk ansah. Es ist freilich das umfangreichste und einzig vollendete seiner Bücher. Aber schon die Aufsätze (über Peer Gynt, über Schiller) und die übrigen Fragmente in „Von den letzten Dingen“ lassen trotz des geringen Zeitabstandes eine deutliche Fortentwicklung erkennen, und ein grandioser Gedankenbau, eine allgemeine Natursymbolik, die er plante, hätte, nach den erhaltenen Fragmenten im „ Taschenbuch“ zu schließen, in der Wucht seiner Einheitlichkeit und selbstherrlichen phantastischen Paradoxie diese dämonisch suggestive Subjektivität in beinahe künstlerisch gereinigter Form repräsentiert. Darin wollte er darlegen, dass kein Leben um seiner selbst willen da ist. Alle Erscheinungen der Außenwelt, das ganze All erscheint ihm nur als Spiegel und Symbol des menschlichen Innenlebens, alle Tiere Sinnbild verbrecherischer, alle Pflanzen neurasthenischer Phänomene. (Der Vogel versinnbildlicht das reine, bessere, emporstrebende Gefühl, die Schlange die Lüge, das Pferd den Irrsinn usw.)

In seiner Kritik der Geschlechter versucht Weininger die Zurückführung alles Gegensatzes zwischen Mann und Weib auf ein einziges Prinzip. „Das Weib ist nur sexuell, der Mann ist auch sexuell.“ Das Weib empfängt vom Manne ihren Wert, und nur durch seine Wünsche, durch Anpassung an sein Ideal wird ihr Wesen gebildet. Neben den vielen physiologischen Beweisen, kleineres Gehirn usw.“ ist ihm der psychologische der wichtigste: ihr Bewußtsein ist stumpfer, schwächer, ihre Begriffe sind verschwommen, und ihm erscheint Schärfe des Bewusstseins als die Kraft zu erleben der einzige geistige Wertmesser. Sie denkt in Heniden. (Hier hat er als Psychologe heuristisch bedeutsame Entdeckungen und sehr anregende neue Formulierungen gebracht.)


„Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des absoluten Etwas, das Weib, auch das Weib im Manne, ist das Symbol des Nichts.“

Dieser reine Mann und dieses echte Weib freilich sind mathematische Größen. Alle Menschen, die leben, sind Mischungen aus diesem Mann und Weib. Die Klassifikation wäre damit für die praktische Anwendung hinfällig; so stellt er fest, dass jeder Mann höchstens 50 Prozent Weib, jedes Weib nicht mehr Mann besitzen kann. Dies Wichtigste begründet er aber in keiner Weise, obgleich er sich mit den sexuellen Zwischenformen sehr ausführlich befasst und in der Erfahrung nicht der mindeste Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass man eine solche Maximalgrenze ohne Weiteres als selbstverständlich annehmen dürfte.

Den weiblichen Charakter steckt er mit den Polen Mutter und Dirne, Magd und Megäre ab. Die erstere, die in allen Äußerungen ihres Wesens nur Gattungsethik atmet. Funktion pflanzlich tierischer Empirie, steht dem männlichen Begriff der Persönlichkeit noch ferner als Venus, die den Trieb um seiner selbst willen bis in die letzten Ausläufer ihres seelischen und körperlichen Mechanismus als einzige Bewegkraft verrät, also doch einen Konflikt, wenn auch innerhalb der Natur, einen Widerstand gegen die dumpfe Zweckhaftigkeit des Kettengliedes ohne Einzel-Selbst in sich trägt. Als Mittelpunkt des Begriffs Weiblichkeit sieht er „das vergebliche Streben des Nichts, zum Sein zu gelangen: Die „Kuppelei“, die Mitarbeit und das Vergnügen an dem sieghaft unausrottbar sich ausbreitenden niedern Leben, der Fortpflanzung des Ungeistigen.

Das Weib bedarf nicht der Geburt Gottes in der eigenen Brust als zentraler Aufgabe, sie kann nicht Aug' in Auge mit dem Allerheiligsten stehen und wünscht es auch gar nicht. Sie ist die Priesterin des Lebens, das zu überwinden des Mannes metaphysische Bestimmung, die Sehnsucht eines bessern Ich, seines göttlichen Teils ist.

Das Weib hat eine unmittelbarere, vielleicht innigere und vollständigere harmonischere Welt- und Lebensauffassung, aber ohne ordnenden Befehl des Geistes. Sie leidet nicht unter dem Widerspruch, der Spannung zwischen Können und Müssen, Wollen und Sollen, innerem Vorbild und äußerer Ausführung, kurz: Sie hat gar nichts von Feindschaft gegen die Natur in sich. Man ist versucht, zu glauben, dass ihr das innere Vorbild völlig fehle. Ihre Sehnsucht nach Mitschöpfung am unendlichen Werk ist so gering, und ihre Sehnsucht nach Mitschöpfung am endlichen Werk so überwältigend groß, so sie völlig ausfüllend, dass in solcher Einengung die Willensfreiheit kaum mehr Raum zu haben scheint.

Als solches Wesen vergleicht er das Weib mit dem Juden und findet in sehr ausführlicher Untersuchung eine weitgehende Parallele. Es stört ihn hierin nicht, dass es ein tief im Jüdischen eingewurzelter Zug ist (von Eva über Dalila zu Isebel und Salome), das Weib als Abgesandte des Gottesfeindes zu sehen. Sie durfte kein Amt im öffentlichen Gottesdienst bekleiden, sie zählte im Minimum des Gemeinschaftsgebets nicht mit, durfte nach strengere Auffassung das Innere eines Gotteshauses gar nicht betreten. Es kann an der entschlossenen Männlichkeit dieser Weltanschauung nichts mindern, dass man sie aus dem allgemeinen orientalischen Verhalten zur Frau erklärt. Weiningers idealistische Geschichtsauffassung würde es ihm auch verbieten, sie etwa mit der sozialen Lage, den Lebensbedingungen des Himmelsstrichs zu begründen. Aber er braucht das gar nicht, er hat diesen Umstand bei der Bibellektüre nicht bemerkt. Wenn er sich auf die historischen Vorgänger seiner Fraueneinschätzung beruft, liegen ihm bei der langen Aufzählung selbst die Chinesen näher als sein Volk.

Freilich denkt der Jude, wie ja auch Weininger im Grunde, nicht an Frauenhass. (Ich erinnere an das Hohe Lied, an Ruth, Deborah, Judith und an das berühmte Frauenlob in den Sprüchen Salomos.) Dem Judentum wie auch Weininger geht es darum, zu verhüten, dass durch die sentimentale Verschleierung der Natur des Weibes das männliche Prinzip, das überirdische Verlangen, der Unsterblichkeitsgedanke in der Menschheit verdunkelt oder verdünnt werde, — dass durch Verwirrung und Verwischung des ursprünglichen Charakters und Ziels der Geschlechter die Entwicklung beider von ihrem Weg abgedrängt würde.

Der Schlüssel zu Weiningers Wesen und Lehre ist seine Stellung zum Judentum. Es ist auf den ersten Blick verwirrend unfasslich, dass ein so gewissenhafter Denker und Forscher, der oft die geringfügigsten Behauptungen mit unermüdlicher Gründlichkeit stützt, über das jüdische Wesen in apodiktischer Form urteilt, obgleich er sowohl dem historischen wie dem zeitgenössischen Judentum mit geradezu grotesker Unwissenheit gegenüberstand. Bei näherem Hinsehen aber merkt man bald mit Ergriffenheit den Grund im Innern dieser verzweifelt ringenden Seele.

Durch seine Erziehung ohne jüdisches Wissen und ohne lebendige Anschauung jüdischen Vorbilds, jede Stunde aber von Verfallstypen abgestoßen, die sich in seinem Vorstellungskreis einzig mit dem Wort „jüdisch“ verbanden, war er vom Blick auf die Gesamterscheinung des Judentums schlimmer und unübersteiglicher geschieden, als ein im Judenhass aufgezogener Arier. Seine Definition des jüdischen Wesens mutet trotz aller Anstrengung, kühl und objektiv zu erscheinen, wie ein maßloser Wutausbruch an. Das schaurige Bild, das er entwirft, wird aber von furchtbarer Wahrheit, stellenweise geradezu von traumwandelnder Treffsicherheit, wenn wir statt des Wortes „Jude“ den allem jüdischen Leben und Pflichttum schon völlig entfremdeten Assimilanten lesen, nicht den verzweifelt entschlossenen, der sich völlig aufgibt und, koste es was es wolle, restlos der Umwelt sich unterwirft, sondern den Halb- und Fastassimilanten, der der Kulturoberfläche des Wirtsvolkes, die er für dessen Wesen hält, sich schon vollkommen verschmolzen glaubt und dennoch den Namen des Juden beibehält, weil er sich geniert oder noch irgendeine Großmutter lebt, oder er mit einem überwundenen Atavismus wie Religion nicht so viel Aufhebens machen will. Er hat gar nicht das Bedürfnis, aus den Unklarheiten und Halbheiten seiner Lage hinauszukommen. Und nun hören wir Weininger: „Der Jude ist der ungläubige Mensch“. „Er nimmt sich nie ernst und darum nimmt er auch keine andere Sache wahrhaftig ernst.“ ... . . Er hält nie etwas für echt und unumstößlich, für heilig und unverletzbar, darum ist er überall frivol und alles bewitzelnd.“ ... . . Er ist nicht hart, aber auch nicht sanft, nicht Dulder und nicht Verbrecher, am ehesten noch zu bezeichnen mit zäh und weich. — Relativ amoralisch.“

Erschütternd ist die Seelenverfassung dieses in der Haltlosigkeit fast schon Heimischen erlebt und gemalt: „ Seine psychischen Inhalte sind sämtlich mit einer gewissen Zweiheit oder Mehrheit behaftet. Über diese Ambiguität, diese Duplizität, ja Multiplizität kommt er nie hinaus. Er hat immer noch eine Möglichkeit, noch viele Möglichkeiten, wo der Arier (er nennt nun einmal das Gegenteil so) ohne ärmer im Blick zu sein, unbedingt sich entscheidet und wählt. Diese innere Vieldeutigkeit, dieser Mangel unmittelbarer innerer Realität irgend eines psychischen Geschehens — es ist wie ein Zustand vor dem Sein, ein ewiges Irren draußen vor dem Tore der Realität.“

Er selbst aber hat dieses Wesen, wie schon sein Haß bezeugt, durchaus nicht völlig besiegt, sondern lag noch in schwerem Kampf mit ihm. Wie wäre es auch sonst zu begreifen, dass er, dem Logik eine ethische Forderung war, in blindwütiger Raserei der Verachtung das Widerstreitendste addiert, krampfhaft willkürliche Beleuchtung künstlicher Zusammenhänge schafft, lächerlichste Verallgemeinerungen zufälliger Erfahrung in beschränktem Kreis als Beweise zusammenträgt: Der Jude singt nicht, er hat keinen Humor, man kann sich ihn nicht als Gentleman vorstellen, er ist sinnlicher, aber weniger potent.

Plumpste Widersprüche lallen ihm nicht auf. „Dem abstrakten Götzendienst fehlt alles Geheimnisvolle — „und im selben Atem als Beweis des Sklavischen: „Nicht einmal seinen (Gottes) Namen dürfen sie aussprechen.“

Er weiß nichts von Ostjuden, von Bai Schem, von Chassidismus, von Essäern usw., tut Kabbalah und Talmud nur so nebenher in einer Weise ab, der man von weitem anmerkt, dass er sie kaum vom Hörensagen gekannt haben kann. So kommt es, dass er gelassen feststellt, der Jude sei völlig ohne Wunderglauben, ohne alle Inbrunst beim Gebet, ohne Mystik.

Er lässt historische Gründe für die Verkrüppelung und Entartung jüdischer Psyche nicht gelten. „Es handelt sich da um Dinge, die von außen nicht in ein Wesen hineingetragen werden können.“ Er hat einen besonderen Blick, wie für jede Art von Klassifikationen, für den Charakter der Völker und Rassen. Er fand — 1902 — bei Russen und Juden die größte Veranlagung zum Kommunismus, den er als Ausfluss flacher materialistischer Lebensanschauung niedrig einschätzt. Er anerkennt und umgrenzt also die schöpferische Eigenart, die in der Kontinuität des Bluts und der Tradition liegt, denn was kann Volk oder Rasse anderes bedeuten? Er hebt an anderer Stelle die größere Blutsreinheit und den historischen Zusammenhang jüdischen Geisteslebens hervor und nennt die Artung der Juden eine „ganz eigentümliche, einheitliche, von aller andern Richtung des Geistes und Herzens, auf die wir bei den übrigen Völkern der Erde stoßen, wohl unterschiedene“. Und dennoch sagt er: „Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet“. Es ist kein Volk, keine Religion, sondern eine Idee.

Noch schärfer erleuchten sich Weiningers Denk- und Beweggründe wie im Querschnitt bis zum tiefsten Unterbewusstsein hinab, wenn man nebeneinander hält, dass er als Zeichen und Beweis tief stehenden Menschentums, verächtlichster Charakterschwäche von den Juden niederschreibt, sie seien pietätlos, hätten keinen Ahnenstolz, ehrten nicht die Vorfahren und in ihnen sich, und um dieselbe Zeit es für seine höchste Pflicht, für eine sittliche Notwendigkeil ansieht, das Judentum, Glauben und Heiligtum seiner Väter, mit Ekel von sich zu schütteln und es vor aller Welt als niederste gemeinste Teufelsfiliale zu schildern. Er, dem Parsifal das größte, — bei ihm gleichbedeutend mit ethischste — Kunstwerk war, hätte in der Nüchternheit der protestantischen Kirche und in ihrer Gefahr der Abkehr von der Verwirklichung Gottes im Leben einen Gegensatz zu seinem innersten Wesen fühlen müssen. Seine Überzeugung widersprach den christlichen Dogmen in wesentlichen Punkten. Er erklärte Christus als jüdischen Menschen und seine Religionsstiftung auf psychologischem Wege als Folge jüdischer Geistesanlage.

Dass so auf der Hand liegende Unvereinbarkeiten einem Geist von dieser blendenden Schärfe und erbarmungslosen Konsequenz verborgen bleiben konnten, erklären Milderungsgründe wie Jugend und Erziehung nicht hinreichend.

Wieso nun erschien ihm das Christentum als höchstmögliches irdisches Gefäß reiner Sittlichkeit, das er nur als völlige Negation des Judentums definieren konnte, obgleich er anerkannte, dass es aus diesem hervorging? Man darf wohl sagen, ohne künstlicher Konstruktion bezichtigt zu werden, dass diese Auffassung nicht aus seinem philosophischen System wuchs, sondern dass sein Versuch, die Welt zu erklären, sich aus seinem unbezwinglichen Gefühlsbedürfnis entwickelte, sie so zu sehen.

Sein Dualismus in der Psychologie, auf Christus angewandt, folgert: „Welche innere Notwendigkeil treibt das religiöse Genie, Religion zu stiften? Es kann keine andere sein, als dass er nicht immer an den Gott geglaubt hat, den er verkündet.“ Wer den tiefsten Unglauben, die grandioseste Inkarnation des Nichts, das Judentum, — das für Weininger mit Erbsünde identisch ist — in sich überwand und verwandelte, hat den Sieg des Heiligen Geistes über die Materie verwirklicht, der Idee der Menschheit ihre Vollendung, Erlösung gebracht.

Es beirrt Weininger nicht, dass gerade bei Christus außer der einen Begegnung mit dem Versucher — von einer Krise, einer Umkehr und einer vorangegangenen sündigen Periode gar nicht oder doch jedenfalls viel weniger als bei allen anderen Genies und Propheten die Rede ist.

An sich ist der Gedanke, der sich mit Bubers Polarität im Judentum berührt, wohl der tiefste und religiöseste, den unsere Epoche hervorgebracht hat. In Kierkegaards „Kraft des Absurden“ ist er vorbereitet. Seine lebendige Bestätigung findet sich in der Entwicklung aller großen Seelen von Buddha bis Tolstoi (Paulus, Augustus, Origines, Bal Schem usw.) durch die Erschütterungen der Wendung, Entscheidung, der Teschuwah, die den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.

Freilich müsste Weininger, wenn er nun einmal das Judentum für die äußerste Negation des Absoluten hielt, aus der seinem Gesetz nach einzig die reinste höchste Bejahung immer wieder emporlodern kann, die Juden als das religiöse Volk par excellence, für den Humusboden göttlicher Ekstasen ansehen. Aber, obgleich er die messianische Idee als originale Eingebung seinem Volke widerwillig zugesteht, leugnet er das sehr entschieden. In diesem Punkt verlässt ihn eben immer die Konsequenz. Er hilft sich hier so: Christus war der Höhepunkt des Kampfes moralischer und antimoralischer Kräfte der jüdischen Seele. Vor ihm war noch beides in ihr enthalten, daher Gestalten wie Simson und Josua, die nicht ins Judentum passen (!), während es nachher, — behauptet er kurzerhand, ohne es auch nur zu untersuchen, mit sieghafter Ahnungslosigkeit, — keine solche Gestalt mehr hervorgebracht hat. Wenn er also hier, seiner früheren Ansicht entgegen, die Beweiskraft historischer Fakten anerkennt, müsste er mit einer Gruppe des Zionismus die Verkümmerung der jüdischen Genialität auf die Zerstreuung zurückführen, deren Beginn ja ungefähr mit dem Erscheinen Christi zusammenfällt. Aber Widerlegungen seiner Theorie durch das Leben wie den Zionismus nannte er einfach: „Negation des Judentums“ und darum „aussichtslos, obwohl sie die edelsten Regungen unter den Juden sammeln.“

Man muss nicht in der unbewussten Furchtsamkeit vor der objektiven Einsicht seine einzige Hemmung sehen. Man kann ihn nicht schlechthin einen Patienten nennen, — wie viele sich die Deutung seiner Erscheinung erleichtern, — denn dann wären alle geistigen Menschen mehr oder minder Patienten, was die Wichtigkeit dieser Erkenntnis für den Einzelfall so ziemlich wieder aufheben würde. Er unterlag dem Gesetz der eingeschlagenen Richtung, das aus dem Zusammenhang der Gefühlsströmungen und des Denkrhythmus manches Geheimnis der geistigen Ereignisse Einzelner und der ganzen Menschheit erklärt. Wie das physische Auge auf einmal und mit eigener Beweglichkeit nur einen beschränkten Raum beherrscht, nicht zugleich hinter sich und zur Seite sehen kann, ohne den Kopf oder den ganzen Körper mitzubewegen und jeweils mit einem neugewonnenen Stück Gesichtsfeld einen gleichen Teil des früheren verliert, so ist auch das geistige Betrachten — ohne dass man von Beharrungsvermögen oder Trägheit sprechen kann, — an Umfang und Richtung des Gefühls gebunden, von dem es getragen ist. Verändert die innere Anschauung ihren Standpunkt, muss der ganze Geisteshimmel, die Gefühlswelt sich mitdrehen, was nicht ohne Erschütterungen abgeht, die wir Krisen nennen. Dies ist auch die Ursache, warum Gründe nicht überzeugen und bekehren können, sondern nur Gefühle, Erlebnisse, Gesichte. Objektivität im strengen Sinn ist bei einem lebendigen Menschen also nicht möglich; je heißer er fühlt, je rascher er denkt, desto weniger.

Dadurch nur ist es zu begreifen, dass Weininger den evidentesten Gegenbeweis gegen seine Theorie nicht merkte: Wie viel brausender in ihm selbst die Leidenschaft, sich zu erkennen und überwinden, gegen Himmel schlug als in dem flachen und unbedeutenden Chamberlain und seinen Anhängern, die das Böse nur in den Anderen sahen und deren tiefst unchristlichen hochmütigen Hassgesang er getreu nachbetete. Er durfte die Wahrheit nicht erkennen, sonst hätte er ja dazu kommen müssen, seine Aufgabe darin zu sehen, zunächst ein besserer Jude zu werden und von dort aus, wo sie ihm am nächsten war, die Menschheit zu erneuern. Seine Denkgrundlagen wuchsen ans dem alles in ihm beherrschenden Gefühl, von dem Verfallstypus in sich und um sich her so weit als möglich fortzukommen bis zu seinem äußersten Gegensatz.

Wie jeder echte Kämpfer um die Vollendung fühlte er — das Gegenteil unproduktiver Philistrosität, die sich immer herrlich weit gekommen dünkt — seine Zeit, seine Mitwelt als die tiefststehende, verirrteste aller gewesenen. Was er im Weibe, im Juden, im Bürger haßte, war in Wahrheit Europa, die Aussicht vom Gipfel des Kapitalismus, die seine Epoche bot. Die Mechanisierung der Wirtschaft schien auch die sublimsten Gebiete des Geistes und der Seele mechanisch organisieren zu wollen. Abhängigkeit der Liebeswahl von Vermögen und Erwerbstalenten, Ehescheu, Kinderfurcht, Verachtung der Schwärmerei, der „unendlichen Entwicklung“ der Romantiker, naturalistischer Impressionismus in der Kunst, rationalistischer Monismus in der Philosophie. Die Frau verdumpfte in den arbeitsüberhäuften Schichten zu stumpfem Lasttier, und dort, wo wie in mittelalterlichen Turnieren rasender atemloser Wettkampf der Hirne und Hände ihr alle eroberten Schätze von Schönheit, Wissen, Freiheit zu Füßen legte, kippte sie zum Luxusweibchen um, das ohne die Kühnheit und Grazie der großen Hetären von einst, gedankenlose Schmarotzerin, mit etwas formaler Humanität als Zeitvertreib, niedriger als der gewissenloseste Ausbeuter die metaphysische Bestimmung der Menschheit, die Beseelung der Materie, ohne das mindeste Organ für das Verständnis ihrer Sünde, verriet und verhöhnte. Die zunehmende Verkettung des sozialen mit dem erotischen Problem wird denn auch immer unerträglicher empfunden. Unsere Zeit sucht von einer Liebesordnung loszukommen, die ihrer Seele und Wirtschaftslage und vor allem ihrem Naturgefühl, ihrem erwachenden Bewußtsein der Naturferne, nicht entspricht. Der tiefe Zusammenhang der Theorien Weiningers mit der Not seiner Zeit und ihren Einfluß auf die Entwicklung wird man erst später ganz übersehen können, bis die soziale Revolution, in der wir leben, auch ihre erotischen Wurzeln, jedem Auge sichtbar, wird bloßgelegt haben. Er wird als Künder und Bereiter der neuen Zeit gefühlt werden.

Die letzten Schlüsse und Forderungen, zu denen ihn seine Lehre führt, Aufhebung alles Triebhaften, Keuschheit, Selbstverneinung der Frau, lassen den Verzweiflungskampf ahnen, den er in seinem Innern zu bestehen hatte. Alle, die von der schroffen Form seiner Methode verletzt, an seiner Ehrlichkeit zweifeln und die Sensation als eine Verlockung für ihn als möglich hinstellen, mögen hören, dass er selbst am meisten unter seinen Untersuchungsergebnissen litt. „Was ich hier gefunden habe, schmerzt wohl niemanden mehr als mich selbst.“ Und „Dies Buch bedeutet ein Todesurteil; entweder trifft es das Buch oder dessen Verfasser.“

Das Verhalten zum Kern aller Fragen, zu der kosmischen Ehe, Stoff und Bewegung, Natur und Geist, Leib und Seele, die einander zugleich unentbehrlich und unerträglich sind, das ist wohl das beste Erkennungsmittel, der beste Wertmesser für jeden Geist. Wie sehr auch Weininger darüber jubelt, dass der Konflikt niemals bleibend für alle Zukunft gelöst werden könne, die menschliche Freiheit ja eben dadurch nur gesichert sei, dass sie unaufhörlich von neuem errungen werden müsse, war es doch diese Tragik, die er nicht ertrug, weil er sie in zu ungeheurer Intensität empfand. Was war denn das Verbrechen, vor dem er in den Tod flüchtete, weil er ihm zu verfallen fürchtete (wie seine Biographen übereinstimmend aussagen)? „Ein Mensch kann an nichts anderem zugrunde gehen, als an einem Mangel an Religion“, steht in Weiningers schönem Peer Gynt-Aufsatz auf Nietzsche bezogen, „am fürchterlichsten zeigt dies der Genius. Denn der geniale Mensch ist der frömmste Mensch, und verlässt ihn die Frömmigkeit, so hat ihn das Genie verlassen.“

Er wollte sich überwinden, von Grund auf umwandeln und dabei wurzelecht und natürlich aus sich heraus wachsen, ein anderer werden und sich nicht untreu sein.

Es fiel schon mehrfach auf, dass die Selbstmordstatistik unter den jüdischen Assimilanten der westeuropäischen Kulturen eine hohe Verhältnisziffer aufzeigt, und man führt eine ganze Reihe von Schicksalen an, die dem Fall Weininger bis in Einzelheiten erschreckend gleichen. Das Band zum Augenblick und zur Zukunft mag mit dem zur Vergangenheit in einer geheimnisvollen Verbindung sein, da es sich mit ihm so leicht lockert. Es ist auch eine zu grausame Lage, die Naturstimme in seiner Brust als seinen schlimmsten Feind zu fühlen, sich nach fremdem Vorbild umzubilden und dabei, dem obersten Gesetz dieses Vorbilds gemäß, nicht heteronom zu handeln.

Die dämonische Erscheinung dieses Jünglings, des ruhelosen, feuerzerfressenen, von erdhassendem Ewigkeitshunger entkörperten hat etwas gespensterhaft Fremdes in der animalischen Behaglichkeit und dem amerikanisierten Geschäftssinn seiner Umgebung. Wie sein Hirn sich der Welt durch Begriffe erwehrte, von Abstraktionen, Klassifikationen schneidender Klarheit und Schärfe nur so überströmte, so geht seine Gestalt wie ein später Nachfahre bleicher Ghettoschwärmer durch die gemütlichen Straßen der Operettenstadt an der schönen blauen Donau. Seine Biographen betonen ausdrücklich, dass ihm alle leichte Kunst, namentlich Walzer, „direkt antipathisch“ waren. Sie zeichnen ihn, wie er mit seiner langen hagern Gestalt in leer flatterndem Mantel und großen eckigen Bewegungen des Schirms in seiner Hand durch die Stille der nächtlichen Straßen mit seinen Freunden diskutierend bis zum Morgen umherzog. Selbst in der Musik, zu der er ein besonders inniges Verhältnis hatte, konnte er nicht unmittelbar aufgehen. In jeder Melodie hörte er ein psychisches Phänomen, einen Begriff. Er sprach von einem Motiv der Willensstärke, einer Melodie der Kälte im leeren Raum, des spielenden Monismus, der resignierten Trennung vom Absoluten. Vielleicht liegt hier eine Erklärung dafür, dass unter Wagners Vorkämpfern so viele Juden waren und auch Weiningers sonst so scharfer Blick vom Bayreuther Weihrauchnebel, unheilbar getrübt war. Es genügte ihm nicht, dass er etwas fühlte, es war ihm das Wichtige, dass er es auch denken konnte. Er ließ sich nicht vom Geländer der Betrachtung los, um im Gefühl unterzugehen: Menschen des Halbschlafs.

Man wird mich wohl nicht missverstehen, wenn ich sage: In ihm ging eine Inkarnation des Eliahu — Typus der jüdischen Seele über die Erde, des eisernen Donnerers, der im Feuerwagen gegen Himmel fuhr. Aber weiter muss der leere Stuhl an unserem Tisch stehen, der gefüllte Becher zwischen uns auf der festlichen Tafel bereit für solchen Gast. Dieser hat ihn verschmäht, weil wir seiner nicht wert waren. Klagen wir ihn deswegen nicht an; denn er hat darunter selbst am meisten gelitten.

Er hat viel, sehr viel geirrt und bei ihm bewahrheitet sich Descartes Glaube aufs neue: Dass aller Irrtum Schuld ist. Dennoch gilt das tiefe Wort, das Weininger irgendwo allgemein faßt, ganz besonders für ihn und sein Werk: „Jedes wahre ewige Problem ist eine ebenso wahre, ewige Schuld; jede Antwort eine Sühnung, jede Erkenntnis eine Besserung.“

Nachbemerkung des Herausgebers. — Weininger gehört streng genommen nicht in den Rahmen dieses Buches. Aber die Art seines Geistes, der Inhalt seines Denkens und schließlich sein Schicksal sind für eine gewisse Schicht des Westjudentums so bezeichnend, dass hier gleichsam ein Gattungsbegriff in seiner reinsten Form verkörpert zu sein scheint. Deshalb konnte im Falle dieses einen Schulbeispiels ruhig außer acht gelassen werden, dass Weininger seinen Ausdruck nicht in dichterischer Form gefunden hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur