Juden in der deutschen Literatur

Essays über zeitgenössische Schriftsteller
Autor: Kronjanker, Gustav (1891-1945) deutsch-jüdischer Journalist, Erscheinungsjahr: 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ethische Dichtung, Lyrik, Sehnsucht, Moral, Bekennens zu Gott, Theater, Knabenängste, Lüge, Bedrängnis, Entzweiung, Ichzerrissenheit, panische Musik, Weltfreundschaft, Weltwissen, Entfaltung, Vielstimmigkeit, Nationalcharakter, Liebe
Technische Notwendigkeiten bei der Herstellung des Buches zwingen den Herausgeber, von einer systematischen Anordnung der Aufsätze Abstand zu nehmen.

Der Herausgeber fügt sich dieser Notwendigkeit um so eher, als eine solche Gruppierung doch nur nach mehr oder weniger äußerlichen Gesichtspunkten, wie etwa der Anciennität der behandelten Autoren oder auf ähnliche Weise hätte vorgenommen werden können.
Inhaltsverzeichnis
  1. Franz Werfel von Rudolf Kayser
  2. Der Roman des Entwurzelten (Georg Hermann) von Hans Kohn
  3. Alfred Kerr von Ernst Blass
  4. Der Dichter Franz Kafka von Max Brod
  5. Albert Ehrenstein von Ernst Weiß
  6. Alfred Döblin von Ernst Blass
  7. Jakob Wassermann von Erwin Poeschel
  8. Maximilian Harden von Paul Meyer
  9. Alfred Mombert von Martin Buber
  10. Otto Weininger von Oskar Baum
  11. Hugo v. Hofmannsthal von Willy Haas
  12. Martin Buber von Alfons Paquet
  13. Else Lasker-Schüler von Meir Wiener
  14. Peter Altenberg von Albert Ehrenstein
  15. Richard Beer-Hofmann von Oskar Baum
  16. Arthur Schnitzler von W. Mann
  17. Paul Kornfeld von Leo Sborowitz
  18. Der Fall Rudolf Borchard von Willy Haas
  19. Arnold Zweig von Moritz Goldstein
  20. Paul Adler von Meir Werner
  21. Moritz Heimann von Julius Bab
  22. Versuch über Sternheim von Arnold Zweig
  23. Max Brod von Manfred Georg
  24. Das neue Dichtertum des Juden von Alfred Wolfenstein
Vorwort des Verfassers


I.

Das Unternehmen dieses Buches, den Juden innerhalb des deutschen Kulturkreises als eine Sondererscheinung zu sehen; mehr noch: diesen Gesichtspunkt in den geheiligten Bezirk der Literatur zu tragen, wo, wenn irgendwo, der gute Europäer gilt — es ist ein ungemein verdächtiges Unternehmen. Denn es scheint in diesem Deutschland fast nicht anders denkbar, als daß die Geschäfte einer finsteren Reaktion betreibt, wer das Wesen des Juden als ein unterschiedliches überhaupt nur zu betrachten wagt. Es gilt von vornherein als ausgemacht, daß nur trüber Nationalismus sich in einer Problemstellung gefallen kann, die bestenfalls unnötig, in jedem Falle aber gefährlich ist. Und es sind nicht bloß Juden, die so denken; auch der Nichtjude, außerhalb des antisemitischen Lagers, teilt diese Empfindung.

Diese Stellungnahme ist beim deutschen Durchschnittsjuden sehr verständlich. Die Entwicklung hat mit sich gebracht, daß er eines Judentums, das mehr wäre als äußere Zutat, das innere Bindung und Bedeutung beansprucht, großenteils sich wirklich nicht bewußt ist. Wesentlicher noch: vor der (latent immer vorhandenen) Möglichkeit des Bewusstwerdens liegt starr das Bollwerk der Umgebung. Von je ist ihm jüdisches Wesen als ein Komplex von nicht nur andersartigen, sondern vor allem minderwertigen und verderblichen Eigenschaften so laut und verletzend dargestellt worden, daß er, der sich Werte nicht setzt, sondern von außen bezieht, ängstlich vermeidet, Dingen nachzugehen, als deren Resultat er von vornherein den Beweis seiner Drittrangigkeit und die Rechtfertigung seines Ausgeschlossenseins erwartet. Und wenn es schon nicht immer anging, die Behauptung absoluter Gleichartigkeit aufzustellen, so mußte doch eine unsagbar schwache und flache Apologie bei einem Thema genügen, an das möglichst nicht zu rühren und dessen Erledigung von dem in liberalen Kreisen so beliebten Fortschritt zu erwarten als beste Taktik erschien.

Nicht ganz so durchsichtig ist es, wenn auch der geistige Judo sich im Grunde nicht anders stellt oder doch noch bis vor kurzem gestellt hat. Von ihm, der größere Unabhängigkeit des Denkens mit einem feineren Gefühl für seelische Zusammenhänge verbindet, sollte man eigentlich annehmen, daß er für die wesentliche Tatsache seines jüdischen Seins ein Gefühl haben, und daß er sich darüber mit der ihm sonst eigenen (Gründlichkeit der Analyse Rechenschaft ablegen müsste. In Wahrheit aber wirkt auch hier, sogar viel stärker noch, wenn auch auf höherer Ebene, das gleiche Hemmnis. Der Bürger nämlich kann verbittert, aber in seiner Existenz letzten Endes kaum mehr gefährdet werden. Der Geistige aber, der in seiner Art auf das Leben der Nation einzuwirken irgendwie immer bemüht ist, mußte sich unmittelbar bedroht sehen, wenn man die Konstatierung seiner jüdischen Besonderheit, wie üblich, mit einer Anzweiflung seines Deutschtums und damit seiner Berechtigung zur Mitwirkung im Bereiche deutschen Geistes verband. Wesentlich aus diesem Umstand (und sicher nur bedingt aus der Natur des Juden) ist zu erklären, daß wir ihn vorwiegend in jenen Lagern finden, die, ob nun bürgerlich-demokratisch oder sozialistisch-radikal, doch immer auf ein Aufheben von nationalen Unterschieden bedacht sind. Sein Kennzeichen ist die entscheidende Betonung des Allgemein-Menschlichen, des von Bedingungen Unabhängigen. In dieser Beziehung ist er immer noch um einen Ton radikaler als der gleichgerichtete Nichtjude: der absoluten Idee, der durch Gegebenheiten nicht modifizierten, scheinbar entschlossener hingegeben. In Wahrheit aber ist diese seine Einstellung durch die Gegebenheit seiner besonderen Situation bedingt. Er hat sich im Gegenteil mehr noch als der Nichtjude, weil von außen, weil durch das unmaßgebliche Urteil der anderen, seine Bedingungen, wenn auch unbewusst, setzen lassen.

Diese Abneigung des Juden gegen die Behandlung eines Themas, dessen Berechtigung ihm auch die Nichtberechtigung seiner bürgerlichen oder geistigen Existenz zu bedeuten scheint, ist durch den wohlgesinnten Nichtjuden keineswegs behoben, eher noch verstärkt worden. Der sogenannte Philosemit nämlich trägt seinen Namen zu Unrecht: er ist fast immer nicht ein Freund jüdischer Eigenart, sondern ein Parteigänger jenes jüdischen Liberalen, der Gleichberechtigung für sich als Menschen und nicht als Juden fordert. Auch seine Methode ist wesentlich Apologie. Auch er wünscht Gleichheit nicht für das Besondere individueller Eigenart, sondern das Allgemeine menschlichen Wertes schlechthin. Deshalb ist auch sein Eintreten für den Juden, so anerkennenswert es an sich sein mag, fast bedeutungslos geblieben. Eine Frage, die, gleichviel von wem, einmal gestellt ist, kann nicht durch eine Antwort erledigt werden, die, an sich noch so richtig, doch eben dieser speziellen lösungsheischenden Frage ausweicht.

Kurz: das Problem des jüdischen Menschen im deutschen Kulturkreis, die Frage nach dem Unterschiedlichen seines Wesens ist bis heute vorwiegend dem Antisemitismus überlassen worden. Der sieht den Juden, wie im Kriege die feindlichen Völker den Deutschen sahen: in der unendlich gehässigen Verzerrung oberflächlich gefasster Einzelzüge. Und wie jene gegenüber dem Deutschen, so hat auch er gegenüber dem Juden seine Behauptungen wesentlich auf propagandistischen Lärm gestützt und legitimiert sich im übrigen durch die schlagende Beweiskraft bestehender Machtverhältnisse. Seine edle und tiefe Art, den Gegenstand anzufassen, hat der Abneigung, ihn überhaupt nur zu behandeln, den stärksten Rückhalt gegeben.

Daß diese Abneigung, wenn auch nicht ganz überwunden, heute doch im Begriffe steht, überwunden zu werden — dafür liefert dies Buch den ersten Beweis. Wenn auch schon lange vorher durch Martin Bubers bedeutende und grundlegende Schriften der Jude als eine besondere menschliche Grundform dargestellt und gedeutet wurde, und wenn auch er wieder als (allerdings hervorragendster) Repräsentant einer jüdischen Moderne zu gelten hat, die den Boden für eine neue Art der Betrachtung bereitete — dies Buch ist als Beweis eines Umschwungs maßgeblich durch die Breite seiner Anlage, durch den zum erstenmal gelungenen Versuch, eine größere Anzahl namhafter Schriftsteller auf der Basis dieser Betrachtungsart zu vereinigen. Das wäre noch vor einem Jahrzehnt wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Und wenn auch keineswegs etwa von allen Mitarbeitern die Idee jener jüdischen Bewegung, die das Buch letzten Endes ermöglichte, ganz oder auch nur teilweise akzeptiert wird, — so weit ist diese Idee, die nicht etwa mit ihren politischen Auswirkungen identifiziert werden darf, doch durchgedrungen, daß ihre Grundlage diskussionsfähig auch für den geistigen Juden, den guten Deutschen und guten Europäer, geworden ist und daß auch Nichtjuden, nicht mehr Philosemiten im alten Sinne, an dieser Diskussion teilnehmen.

II.

Dem irgendwoher abstrahierten Normalmaß deutschen Geistes, mit dem dessen vereidigte Sachwalter zu operieren pflegen, bleibt eine Wirklichkeit gegenüberzustellen, in der deutsche Kultur sich als Inbegriff recht verschiedenartiger Prägungen erweist. Das Wesen des deutschen Geistes wird richtiger und seiner Bedeutung entsprechender dargestellt, wenn man die Trennungslinie zieht, die den Norddeutschen etwa vom Deutsch-Österreicher, die den schlesischen etwa vom schwäbischen Menschen trennt. Schon gegenüber der Mannigfaltigkeit dieser Erscheinungen erweist sich jener Normalbegriff, der zwischen deutsch und undeutsch leichthin scheidet, als völlig unzulänglich. Und er führt zu stumpfer Verengung, wenn man gleichzeitig den im politischen Leben üblichen Wertmaßstab in ihn hineinträgt. Ein weiterer und wahrerer Begriff des Deutschtums ist zugrunde gelegt, wenn in diesem Buche Grenzen gezogen werden, die Grenzen innerhalb des Deutschtums selber sind. Und sie werden gezogen nicht um des Wertens, sondern gerade um des Scheidens willen.

Es ist wahr, daß unter den mannigfaltigen Prägungen deutscher Kultur das Antlitz des Juden sich am schärfsten hervorhebt: mit einer Unterschiedlichkeit, die ihn von allen anderen trennt. Er bleibt Spross eines Stammes aus anderen Zonen; bewegt vom Rhythmus eines anderen Blutes. Er ist Erbe deutsch-kultureller Tradition erst seit anderthalb Jahrhunderten. Und er ist heute in Deutschland Angehöriger eines Städtervolkes, eines nicht vom Boden her sich ergänzenden. Aber seit langem haben auch ihn gleiche Landschaft und gleiche Luft gebildet. Aber seit Generationen sind deutsche Stoffe und deutsche Form Gegenstand seines Bildungserlebnisses. Aber — und dies ist das Wesentlichste — auch für ihn ist die deutsche Sprache das Material, in dem er seinen tiefsten Ausdruck formt. Deshalb ist er in den Kreis deutscher Kultur eingegangen: durch sie gebildet und ihr, was sie ihm an Reichtümern gab, zurückerstattend, indem er ihre Fülle durch seine Besonderheit mehrt.

Innerhalb der Grenzen deutscher Kultur also wird hier geschieden; und diese Scheidung geschieht nicht um des Werfens, sie geschieht um der ritterlichen Abgrenzung willen. Es mögen dabei gelegentlich wohl auch Wertungen unterlaufen, aber sie sind nicht der Zweck dieses Buches. Es entstand unabhängig von jedem Für und Wider. So wenig der Antisemitismus Ursache für jene jüdische Selbstbesinnung war, die eine neue Art des Sehens herbeiführte, so wenig hat das Buch den Ehrgeiz, ihn bekämpfen zu wollen. Hier kommt eine Sachlichkeit zu Worte, die der Natur des Themas nach zwar nicht von kühl-gelehrtenhafter Art sein kann, aber eine Sachlichkeit menschlicher Temperamente, die nicht die Darstellung von Vorzügen oder Mängeln, sondern Ehrlichkeit in erster Linie erstreben. Denn nach einer Zeit, deren Weisheit im Verwischen von Grenzen, im vorsichtigen Umgehen und schamhaften Verschweigen bestand, tritt ein Besinnen darauf ein, daß Verwischen nicht ausgleicht, sondern verzerrt, und daß nur ein falsch verstandenes, enges und unmaßgebliches Deutschtum hier etwas zu umgehen und zu verschweigen finden kann. Verschweigen mag der Deutsche, dem der Jude verdächtig ist, solange er ihm als Jude erscheint, jener Deutsche, der selbst seiner nationalen Form noch nicht sicher genug ist, Andersartiges vertragen zu können. Verschweigen mag der Jude, der sich selbst verdächtig vorkommt, solange ihm Besonderes anhaftet. Aber dann ist keine Grundlage zu jenem verständnisvollen Miteinander gegeben, das nur auf Aufrichtigkeit basiert sein kann. Dafür ist erst in dem Augenblick ein Grund gelegt, wo der Jude seiner unlösbaren Zugehörigkeit zur deutschen Kultur so sehr als einer selbstverständlichen Tatsache sich bewußt ist, daß vom Trennenden getrost die Rede sein kann, und wo der Deutsche im Juden den Mitbürger gerade auch wegen seiner Andersartigkeit schätzt. Das aber wird erst möglich sein, wenn andere Quellen als jüdisch-liberale Apologie und anti semitische Verzerrung ins Bewußtsein der Allgemeinheit dringen. Deshalb ist dies Buch für den Deutschen wie für den Juden gleichermaßen geschrieben. Eine Betrachtung, die geeignet ist, dem einen mit hellerem und wahrerem Blick Zusammenhänge zu weisen, die er häufig genug ohne Kenntnis verurteilt, mag den anderen vor jenen lähmenden und entwürdigenden Gefahren schützen, in die er sich begibt, wenn er von außen erst auf sich selber gewiesen wird.

Jemand lese die weniger erschütternde als deprimierende Schrift Jakob Wassermanns, die „Mein Weg als Deutscher und Jude“ betitelt ist. Nicht erschütternd, weil man wohl jemand leiden sieht und sein Leiden versteht, aber zum Mitleiden sich nicht veranlaßt fühlt. Deprimierend, weil seine Tragik unnötig erscheint: nicht so aus dem Wesen der Dinge selbst wie aus einer falschen Einstellung zu ihnen sich herleitend. Es ist die Tragik einer älteren Generation, die Abgrenzen für Ausschließen hielt und deshalb sich wirklich ausgeschlossen fühlen muß, wenn ihr von außen die Grenzen gesetzt werden. Man sieht das leidenschaftliche, nein krampfhafte Ringen eines Menschen um ein Deutschtum, dessen Echtheit, ihm selbst sicher, von den anderen immer wieder in Zweifel gezogen wird. Und so sehr frisst dieser Zweifel an ihm, daß er mit aller Qual des künstlerisch Ringenden vor dem fertigen Werk am ersten und dringlichsten die sonderbare Frage sich stellt, ob es auch tatsächlich und in jeder Beziehung deutsch, urtümlich deutsch sei. Man ermesse: ein Künstler, der es entrüstet zurückweisen würde, durch sein Werk irgend etwas ausdrücken zu wollen, was nicht in Bild und Gestalt beschlossen liegt, sucht mit verzehrender Begierde nach einer Antwort, die ihrer Natur nach über den allein maßgeblichen künstlerischen Wert seiner Leistung auch nicht das geringste aussagen kann. Und von so leidenschaftlicher Intensität ist seine Frage, daß die Vermutung nahe liegt, es könne sogar im Schaffen schon ein Wille mitwirken, der, jenseits dichterischer Vision, auf Bild und Gestalt seinen Einfluß übt. So wenig aber gibt es für den Künstler irgendeine andere Legitimität als menschliche Echtheil bis zur letzten Faser, daß aus seinem Werk sogar das Kriterium für den Geist eines Volkes zu entnehmen ist, statt umgekehrt sich nach abgezogenen Theoremen messen zu lassen, deren Geltung oder Nichtgeltung durch sein Werk mitbestimmt wird. Es handelt sich in diesem Zusammenhang nicht darum, Wassermanns künstlerische Leistung nach seiner eigenen Fragestellung zu bestimmen, sondern nur darum, zu zeigen, wie durch Zeit und Erziehung bedingte Umstände eine Seele unnötig belastet und einen hohen Geist unter sein Niveau gezogen haben. Noch einmal: es ist die Tragik einer älteren Generation, die sich Grenzen wesentlich von außen gesetzt fühlt.

Demgegenüber sieht das Buch in freiwilligem Aufzeigen und Abgrenzen seine Legitimation.

III.

Unangreifbar und gesichert ist das Buch nur in seinem Ausgangspunkt: in der Tatsache des jüdischen Menschen als einer besonderen Form menschlichen Seins, die gleiche Inhalte auf ihre Art aufnimmt und ausdrückt. Aber wenn es nun von hier aus weitergeht und über Art und Bedeutung dieser Tatsache etwas auszusagen unternimmt, dann begibt es sich allerdings auf ein ungemein schwieriges und gefahrvolles Gebiet. Etwas im Gefühl eindeutig Erfasstes und auch nur so zu Erfassendes muß durch Begriffe vermittelt werden, die an sich vieldeutig und jeder exakten Prüfung entzogen sind. Die Gefahr der Verfänglichkeit des Urteils, allen Untersuchungen dieser Art eigen, erhöht sich in unserem Falle. Denn jüdisch kann immer nur die Form sein. Aber zwischen Form und Inhalt ist häufig schwer zu scheiden. Und überdies ist die Form des Nationalcharakters keineswegs von festgesetzter Undurchdringlichkeit. Neben solchen, deren starre Eigentümlichkeit sich unverkennbar aufdrängt, stehen andere, vielfach durchbrochen und erkennbar wesentlich in der Art dieses Durchbrochenseins. Es gibt keine Vorarbeiten, deren Ergebnisse allgemein und unwidersprochen ins Bewußtsein gedrungen wären; keine Prinzipien, die bei der Arbeit wie selbstverständlich zugrunde gelegt werden könnten. Es gibt nur eins: den verständnisvollen Blick der Liebe, das Gefühl für ein Blut, dessen Rhythmus man nahe sein muß, sofern es nicht gar das eigene ist. Denn in menschlichen Dingen bahnt nur Liebe, die gelegentlich auch Haß sein kann, sich den Weg zu Zusammenhängen, die dem kühlen oder gar feindlichen Beobachter immer verschlossen bleiben. Hier ist das einzige Rüstzeug zu einer Arbeit, deren sogenannte Ergebnisse trotzdem immer fragwürdig bleiben werden.

Das Ganze ist eben nur ein Versuch und auch als solcher noch fragmentarisch. Es wäre nun allerdings nicht schwer gewesen, den Anschein von etwas Endgültigem, Geschlossenem und Vollständigem zu erwecken. Ein Eindruck dieser Art wäre zum Beispiel schon dann entstanden, wenn ein Einzelner das Buch geschrieben und dadurch der einheitliche Grundton eines bestimmten Betrachters das Ganze durchzogen hätte. Er wäre erhöht worden, hätte man mit dieser Geschlossenheit eine Vollständigkeit verbunden, die nach Möglichkeit keine irgendwie namhafte jüdische Erscheinung im Gebiete deutscher Literatur außer acht ließ. Aber dieser sehr äußerliche Vorteil hätte nur mit großen inneren Nachteilen erkauft werden können. Noch dem umfassendsten Betrachter wäre es nicht anders möglich gewesen, als unter einige wenige Gesichtspunkte die Fülle der Erscheinungen zu subsummieren. Sicher hätte alles von Anfang bis zu Ende „gestimmt“, aber etwas unerträglich Schematisiertes und Konstruiertes würde die Überzeugungskraft eines noch so geistvollen Buches entscheidend beeinträchtigt haben. Und was soll Vollständigkeit bei einem Buch, dem die Einzelerscheinung nur wichtig ist, soweit sie aus Anlaß des gesetzten Themas in diesem oder jenem Sinne fruchtbar erscheint. Vollständigkeit hätte um so ermüdender wirken müssen, als häufig genug vor einer Erscheinung in diesem Rahmen nichts anderes hätte gesagt werden können als vor einer anderen, gleichgültig ob von höherem oder geringerem Rang.

Deshalb verzichtet dies Buch auf Vollständigkeit ebenso wie auf Geschlossenheit. Die Männer, die als Objekte dieser Betrachtung dienen, sind nicht nach künstlerischer Bedeutung ausgewählt worden; ihre Aufnahme oder Nichtaufnahme soll nichts über ihren künstlerischen Rang besagen. Sehr beachtliche Erscheinungen fehlen, weil Wiederholungen möglichst vermieden werden sollten, und auch deshalb, weil es nicht leicht war, immer einen Beurteiler im Sinne dieses Themas zu finden. Gerade die Vielstimmigkeit der Betrachter aber erschien als erstes Gebot bei einer Aufgabe, die so sehr wie diese nicht durch die Allgemeingültigkeit verstandesmäßiger Begriffe, sondern die vielfältige Kraft menschlicher Temperamente anzugreifen ist. Deshalb wäre auch jede Bindung, die man einem Mitarbeiter hätte zumuten wollen, verfehlt gewesen. Gleichgültig, aus welchem Lager einer kam; gleichgültig, welches Resultat voraussichtlich von ihm zu erwarten war: als bestimmend für seine Mitarbeit galt nur sein Einverständnis, unter dem vorgezeichneten Blickpunkt sehen zu wollen. Der Kenner der jüdischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten wird an den Mitarbeitern sogar unschwer verschiedene Entwicklungsschichten feststellen können: von dem ganz Außenstehenden, der am Ende seiner Betrachtung erstaunt beinahe von der Tatsache Notiz nimmt, daß der Behandelte Jude sei, bis zu dem von der neuen jüdischen Bewegung ganz Erfassten, dem das Besondere vielleicht vordringlicher noch erscheint als das Gemeinsame, eine Einstellung, der die nichtjüdischen Mitarbeiter deshalb am nächsten stehen, weil auch sie wesentlich durch diese Bewegung auf ein ihnen sonst vielleicht fernes Problem gelenkt wurden. Und diese Verschiedenartigkeit der Betrachtung erschien sogar erwünscht in dem Glauben, daß das Buch am fruchtbarsten sich dann erweisen würde, wenn möglichst viele, unabhängig voneinander und jeder aus den Bedingungen seiner besonderen Einstellung, zum Gleichen, wenn auch aus Anlaß verschiedener Objekte, sich äußerten. Und es erschien auch nicht als Gefahr, auf diese Weise Widersprechendes in einem Bande vereinen zu müssen. Denn noch der Widerspruch zeigt das Problem tiefer und reicher als eine harmonische Geschlossenheit, deren Kehrseite die Dürftigkeit gewesen wäre. Und nur darauf, das Problem vielgestaltig und möglichst von allen Seiten zu zeigen, konnte es ankommen. Denn das Verständnis für den Juden im deutschen Kulturkreis hält noch in einem Anfangsstadium, das überhaupt erst die wahre Kenntnis des Problems erforderlich macht. Deshalb ist das Fragmentarische, Diffuse und nur durch einen Blickpunkt Gehaltene des Buches nicht Schuld seiner technischen Vorbereitung, sondern der mangelnden Vorbereitung dieser Zeit für ein bisher gemiedenes Thema. Das Buch hat gern das undankbare Geschäft auf sich genommen, selber Vorbereitung für eine Betrachtung zu sein, die vielleicht wirklich eines Tages jene Endgültigkeit, Geschlossenheit und Vollständigkeit aufweist, die man heule nur mit äußeren Mitteln zu erreichen in der Lage wäre.

Berlin, im April 1922.

Gustav Krojanker

Jakob Wassermann (1873-1934), deutsch-jüdischer Schriftsteller

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Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), österreichischer Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker

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