Hugo v. Hofmannsthal von Willy Haas

Hugo von Hofmannsthal von Willy Haas

Meiner Frau Jarmila


I. Die Wahl des Problemkreises

„Der Mensch nährt sich nicht vom Brote allein“; aber gewiß, und eben darum werden wir ihn am ehesten an seiner Nahrung erkennen. Und den geistigen, dessen spezifische innere Lebensfrage auf eine desto längere Lebensdauer ausgeht, je weiter ausgreifend jene Geistigkeit sich selbst fühlt, werden wir als um so geistiger empfinden müssen, als auf einen je weiteren Umfang von Zeitmaß und geistigem Weltmaß ausgemessen sich der Instinkt seiner geistigen Problemwahl bei der Untersuchung herausstellen wird. Nur diesen Umfang zu finden aber kann den Wert einer solchen Untersuchung ausmachen: denn der Mensch ist nicht wichtig, die Analyse ist nicht wichtig, und sogar das Interessante an einem Menschen ist vielleicht nicht wichtig genug, um aufgezeichnet zu werden; wichtig aber ist die Lebensfrage einer weiteren oder engeren Epoche, die sich als der Problemkreis und die Problemwahl des genialen Menschen darstellt.

Hofmannsthals Problemkreis ist auf den ersten Blick von einer subjektiven Enge ohnegleichen; als ob er fast nur auf die schwierige innere Erhaltung eines einzelnen schwierigen Menschen ausginge. Die Probleme scheinen nicht gruppiert, ja in keiner Weise gruppierbar: das würde hinweisen auf die seelisch-therapeutische Notwendigkeit des Erkrankten, von Minute zu Minute Gefährdeten, auf veränderliche Diätkost Gewiesenen; eine seelische Diätetik, wie sie etwa die Literatur in einer Gestalt vom Typus des Dichters Maurice Barres konstituiert hat.

Derartige Eindrücke trügen oft genug. Das welthistorische Beispiel eines solchen Sehfehlers ist Goethe, dessen literarischer Problemkreis, allem Anscheine nach ganz frei gewählt, kosmisch, umfassend, ja allumfassend, doch wohl nur das materiell ins Gigantische gewachsene, genetisch auf das engste Maß des den Körper, und nur ihn schützenden Kleides eingeschrumpfte Heilungs- und Schutzbedürfnis ist: und vielleicht das Heilungs- und Schutzbedürfnis des Schulzbedürftigsten, Wehrlosesten, am höchsten gefährdeten seelischen Lebens, seit überhaupt Menschen sind. Seine zeitweise auftauchende und wieder verschwindende Antipathie gegen gewisse Ideenkreise, Themen, Personen, von einer fast pathologischen Heftigkeit und Unerklärlichkeit, sind diktiert von dem unergründlichen Gesetz der von Stunde zu Stunde zu rettenden rein persönlichen Lebensmöglichkeit.

Genau entgegengesetzt liegt der Fall Hofmannsthal (wir stellen hier keine Rangvergleiche an). Das Therapeutische an seinem Problemkreis ist wirklich ein Therapeutisches; — doch niemals, oder fast niemals therapeutisch mit Bezug auf eine persönliche Kontur, die herzustellen, zu festigen, zu erhalten wäre. Das Unorganische, das wir erblicken, ist unser eigener Sehfehler, das Personelle ist ein Sehfehler; und alles zusammen, das sei gleich hier vorweggenommen, bedeutet im Grunde genommen nichts weiter als die große Schwierigkeit, unseren Gesichtswinkel auf so weite Distanzen einzustellen.

Doch muss man schließlich darangehen, die Probleme dieses Problemkreises zumindest katalogisch und im Groben aufzuzählen — so peinlich diese Aufgabe ist, so unzulänglich ihre Lösung notwendig sein wird.

Die „Altkluge Weisheit“; eine seltsame Ahnung urältester Existenz; „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten“; die noch erlebnislosen Hände sogleich aufgetan dem großen Abrechnenden, dem Tode, mit aller Bereitheit und Trostlosigkeit; dann die seltsame Konzeption einer Figur voll Hochmut aus Ekel, voll eines unnatürlichen Farbenhungers, Formenhungers, Nervenhungers, voll maßloser Verschwendungssucht des ohnehin dem baldigen Tode Geweihten, voll der etwas hieratischen Skurrilität des gestrandeten Sonderlings, voll der überhitzten und ungeduldigen Fragestellung dessen, der keine Zeit hat zu warten, und der lieber die Schönheit des Geheimnisses für etwas Endgültiges hinnimmt, als auch nur einen Tag bis zur Lösung verstreichen zu lassen: das sind die ersten dichterisch-seelischen Tatsachen, die dieser Dichter der Welt gezeigt hat.

Noch das Dienende ist hochmütig, noch das Liebende ist von einer egoistischen, fast ängstlichen Distanzierung, noch das Hingegebene ist bloße Nervennahrung, gierig geraffte, und das Moralische gar ist in Wirklichkeit von jenem extremen, diabolischen Antimoralismus, der das Erlöserproblem in „Der Kaiser und die Hexe“ dem paradoxen Katholizismus Baudelaires, dem dogmatischen Calderons annähert. Formell sind alle diese Äußerungen dem persönlich Bekenntnishaften noch sehr nahe, das Weiterweisende an ihnen spiegelt sich ahnungsweise zuerst in einer merkwürdig fernen, fast unheimlichen Farbigkeit, in einer qualvollen Fremdheit, später in jener streng traditionalistischen, klassischen Haltung, die ein sicherer gewordener künstlerischer Instinkt als eine dem bevorstehenden problematischen Wurf Adäquate sich vorerfand.

Hier aber setzt schon eine zweite Gruppe von Problemen ein, und vielleicht die entscheidende. Die musikalische Form wandelt sich zum Relief ab, das musikalische Gemälde zur ineinandergreifenden Terzinenreihe, die Vision zur gleitenden, assoziativen Kette von Ahnungen, die erglühenden Mono-Arien der Versoper zum Wandelbild der „figures et choses, qui passent“; eine merkwürdige Prosa der Abenteuer tritt hinzu. Das bisher völlig fremde, völlig ferne, nur als verschleierte Seltsamkeit gesehene Geheimnis enthüllt sich als ein Vorübergleiten der Welt am Subjekt, des Subjektes an der Welt. Räumlich und zeitlich. Und gerade jenes Gleitende, die ungeheure problematische Verwunderung des „Hinübergleitens“ in das Fremde, Künftige, das Rätsel des Zeitablaufes, Sterbens und Geborenwerdens, von Minute zu Minute, des Kommens und Gehens, Begegnens und Abschiednehmens wird sich schließlich zu jenem höchst geistigen Komplex zusammenschließen, der ein Grundton fast aller Werke sein wird. Rein mechanisch gesehen: etwas vertieft sich, etwas enthüllt sich als Problem, indem etwas, etwas Stabiles, eine stabile, geistige Materie zu einer gleichmäßig Bewegten wird.

Dieser problematische Zustand wächst schließlich bis in sein absolut kritisches Stadium; und es entsteht als Endpunkt eine Situation, die wir als die „Krise des Objektes“ und die „ Krise des Subjektes“ bezeichnen möchten:

Das Problem der zeitlichen Labilität, Heraklits hat nämlich das Subjekt zur bloßen Funktion der Zeitverwandlung, zum bloßen Durchgangspunkt des Lebens zersetzt, zum bloßen Abstraktum aller Impressionen und Expressionen umgebildet; es zersetzt parallel auch das Objekt, und zwar beide über die erste Vorstufe der noch rein organisch gedachten Wandlung von Geburt, Altern, Absterben und von jener tieferen und doch noch organischen Auferstehung, welche im Erlebnis des periodischen Zeitablaufes in der Natur begründet ist, über dieses bloß zeitlich-organische Problem hinaus bis zur Fragestellung an der Existenz des Subjektes oder Objektes überhaupt; eine Fragestellung, die, nun auch auf das Anorganische übergreifend, sekundenweise schon die bloße Tatsache irgendeines Subjektes oder Objektes wie vom Blitze eines ganz unergründlichen Problematismus beleuchtet erscheinen lässt: eine Art primitiver Erkenntniskritik der Ahnung. Hiermit hat sich allerdings das Labile wieder stabilisiert, aber es hat sich zugleich vernichtet, „annihilisiert“. In dem „Briefe“ des Lord Chandos ist diese dialektische Auflösung des Objektes als eine Problematik der Augen, der Nerven, die sie ist, zwischen den beiden Polen einer merkwürdig mikroskopischen und makroskopischen, ja teleskopischen Blickeinstellung ausgespannt: im „Gespräch über Gedichte“ die Annihilisierung des Subjektes seindeutlich als ein zwar Unbegreifliches, aber auch Unzufälliges, Schicksalsmäßiges, dem dichterischen Movens Lebensnotwendiges ausgesprochen; der „Tor und der Tod“ bereitet, noch im Rahmen einer konfessionellen Problematik, jene egotistische Annihilisierung des Subjektes, die besondere Art des lyrischen Anschauens in mehreren Gedichten die vergeistigende Auflösung des Objektes vor. Das „bewegte“ Objekt zeigen zuerst die „Terzinen über Vergänglichkeit“, die „Ballade des äußeren Lebens“ und wiederum der „Tor und der Tod“; das bewegte Subjekt das „Märchen“, die „Reitergeschichte“; und beinahe ein jedes Werk, vom „Abenteurer“ angefangen bis zur „Cristina“, zum „Rosenkavalier“, zur ,;Ariadne auf Naxos“ wird diese beiden Themen in seiner Art aufgreifen und variieren.

Eine Krise, sagten wir. Und diese Krise hatte sich auszufiebern. Und diese Fieberphantasien, immerhin so ansehnlich wie die „Elektra“, wie „Ödipus und die Sphinx“, wie „Das gerettete Venedig“ brachten ihm den Erfolg eines verberlinerten träg-masochistischen, dem kommenden „Expressionismus“ sich vorbereitenden Publikums, und werden als Dokument eines zeitweilig in die Zeit Versinkenden, als Versinkenden noch auf seine Art die Zeit Vorwegnehmenden weiterbestehen.

Die letzte und gegenwärtige Epoche ist theoretisch nicht leicht zusammenzufassen. Ein scheinbar ganz freier Subjektivismus des Auges und der ganz fernen, ganz beiläufigen Problemwahl verbindet sich mit einem scheinbar ebenso strengen, bis ins Unwägbarste verfeinerten Objektivismus der künstlerischen oder essayistischen Bewältigung: ein unerhört zartes Verfahren mit der Materie, das, zwischen dem Zeichnerischen und Musikalischen schwebend, sich immer mehr dem Zeichnerischen zu nähern scheint. Die ganze Kraft, möchte man sagen, verlegt ins Auge; dieses Auge nun voll kommen beruhigt, in der richtigsten Distanz zum Objekt. Daher die Äußerungen zur Zeit, etwa die politischen, von einer Anti-Ideologie ohnegleichen, im Gegensatz zur gesamten jüngeren „Intellektualität“ Deutschlands.

Technisch betrachtet, hat sich der formelle Klassizismus wie etwas ganz Notwendiges, nicht Aufzugebendes erhalten: aber er schafft sich, wenn wir näher zusehen, seine Ahnherren selbst. Denn die „Cristina“ etwa stammt weder von Goldoni, noch von Casanova her, sondern sie hat sich durch ihre bloße Existenz rückwärtswirkend einen neuen Goldoni, eine neue, tausendmal tiefsinnigere, zartere, geistigere Inkarnation des Menschen nicht nur, sondern eben auch des Literaten Casanova samt seiner ganzen Literatur geschaffen. Für eine bezaubernde Sache, wie den „Lucidor“ hascht man überall nach irgendeiner literarischen Vorform; man glaubt sie sehen zu müssen; aber sie zerrinnt immer wieder, sie ist einfach nicht vorhanden, sondern gewissermaßen bloß „ihrer Möglichkeit nach“ mit der Schöpfung des Werkes selbst mitgeschaffen: eine Art von abstraktem Klassizismus, die bloße gestalt-gewordene Schicks als Notwendigkeit der klassizistischen Äußerung. „Silvia im Stern“ scheint schon irgendwo geschrieben zu sein und ist doch in alle Ewigkeit niemals geschrieben worden: hinter dem „ Schwierigen“ sehen wir eine höchst kulturelle, uralte, soziale Theatertradition, wir glauben sie mit Händen zu fassen; dennoch ist sie rein imaginär, und keinesfalls die Wiener Theater-Tradition seit Heinrich Laube. Ein dichterisches Schaffen, augenscheinlich unwidersprechbar zubestimmt dem Traditionalismus, doch schöpferisch genug, um über das primär Schöpferische hinaus sich auch noch die eigene Tradition zu schaffen: eine jener nur scheinbaren Absurditäten, die überall und immer auf das Unentrinnbare eines Schicksals hinweisen.

Nichts fürchterlicher, als in einen Menschen eine Theorie hineinzugeheimnissen.

Hofmannsthal als Jude? Unter den Vätern Hofmannsthals gibt es Juden; man erzählt von einem Löw Hofmann, dem Kaiser Joseph II., als einem der ersten Juden, ein Adelsprädikat, „von Hofmannsthal“ verliehen haben soll. Das alles ist wenig interessant; und die Nachfrage, wann er oder seine Vorfahren zum Christentum übergetreten sind, nicht die Anstrengung wert, die sie kostet*). Fragt sich aber, und dieses ist das einzig Wesentliche, ob wirklich ein Gewaltakt notwendig ist, um dieses Jüdische zu finden. „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern“ heißt es in einem seiner schönsten Gedichte. In den Gedichten großer Dichter gibt es keine Phrasen, auch keine Gefühle, und vielleicht nicht einmal Träume, sondern nur Wahrheiten; man erlaube mir den etwas scharfen Ausdruck: es gibt in ihnen in einem allerdings höchst erweiterten Sinne nur historische Tatsachen, die sachlich zu kontrollieren nicht Sakrileg, sondern im Gegenteil Beweisschaffen ihrer dichterischen Wahrheit ist. Nun also: welcher vergessenen Völker Müdigkeiten?

*) Die genauen Tatsachen seien dennoch wenigstens angedeutet : der letzte Jude war der 1759 geborene väterliche Urgroßvater des Dichters. Dessen Sohn wurde schon früh Christ, „einer höchst natürlichen, ja wohl der zu Anfang des XIX. Jahrhunderts einzig möglichen Tendenz folgend, aus einer nicht mehr begreiflichen Absonderung in die als die menschliche und allgemeine erkannte Sphäre zu treten“ (Angaben des Dichters). Juden in der Literatur. 10

Das ist eine durchaus haltbare Betrachtungsweise des dichterischen Werkes. „. . . und wußte, dass auf ihn die Weltgeschicke sich bezogen“: Dieses Wissen ist ganz nüchtern zu bestätigen — oder zu negieren.

Wir sprachen im Anfange vom Werke als „therapeutischen Akt“. Wir erklärten das Werk Hofmannsthals, therapeutisch in gewissem Sinne, wie schließlich jedes schöpferische Werk, gleichwohl als therapeutisch für einen zeitlich wie örtlich viel weiteren Umfang, als es den Anschein hat. Aber welche lokale Peripherie, welche historische Perspektive wird das Heilende dieses Werkes aus sich deutlich machen? Welchen völklichen Schicksalskreisen wäre dieser scheinbar so lose Komplex von schicksalsmäßiger Problemwahl organisch einzuordnen?

Doch wohl einem um so weiteren, je loser dieser Komplex auf den ersten Blick scheint. Also vielleicht dem weitesten: jenem, auf den sich tatsächlich, wie auf keinen anderen „die Weltgeschicke“ bezogen haben. Und höchst zwanglos assoziiert sich schon hier unser sicherer Glaube an das „auserwählte Volk“, als an ein tatsächlich aus seinem unbegreiflichen Charakter heraus und immer wieder um den Preis der eigenen Krise, um den Preis der eigenen temporären Zersetzung und allotropischen Neukristallisation von Jahrhundert zu Jahrhundert die Menschheit Regenerierendes, eine Art „reaktives Antitoxin“ der Menschheit in ihrem eigenen Körper.

Das tatsächliche Material dazu im Werke Hofmannsthals zusammenzustellen, hat allerdings auf den ersten Blick etwas Vages. Es gibt schließlich überall verstreute und verarbeitete Zitate aus dem Alten Testament in seinen Büchern. Aber was sagt das? Weniger als nichts.

Dennoch: es gibt einen ganzen Traktat von Hofmannsthal über ein alttestamentarisches Thema. Allerdings, er ist nicht leicht aufzufinden; denn der eigentliche Quellpunkt jener Betrachtungen, ein Zitat, verhüllt sich wie absichtlich hinter tausend Nebelschleiern. Eine genaue Analyse ist hier notwendig, denn gerade von jenem Traktat oder Versuch oder wie immer wir dieses merkwürdige Prosastück nennen wollen, werden wir ausgehen, zu ihm zurückgelangen:

„Die Wege und die Begegnungen“ ist jenes Prosastück betitelt. Eine französische Bemerkung in einem Heisebuch über Toscana, mit Bleistift vom Dichter selbst irgend einmal an den Rand des Buches geschrieben, doch längst vergessen, gibt die Veranlassung. Sie lautet: „Je me souviens des paroles d'Agur, fils d’Jaké, et de choses, qu'il déclare les plus incompréhensibles et les plus merveilleuses: La trace de l'oiseau dans l'air et la trace de l'homme dans la vierge. „Dieses Zitat scheint eine ungeheure Unruhe auszustrahlen; sein Ursprung ist vergessen, unauffindbar; Agur wohnt „bei den Geheimnissen meiner dunkelsten Träume, bei den Gedanken, die ich hinter meinem eigenen Rücken je gedacht habe, bei den Dingen, die ich erlebt habe, bevor ich drei Jahre alt war, und von denen mein waches Erinnern nie etwas gewußt hatte.“

Und nun setzt ein Suchen nach diesem Agur ein, fieberhaft, unheimlich. Von allen Seiten starren die Metaphern, die Ideen, die Möglichkeiten, die Worte der unnennbaren Verwunderung, der unnennbaren Sehnsucht, des namenlosen Erschreckens — durch nichts anderes aneinander gebunden, scheinbar, als durch die magnetisch allgegenwärtige Kraft dieses unendlich fernen Zieles „Agur“. Die Worte haben einen merkwürdigen Klang wie von ganz ferne her: Über das Gehen, Suchen, Begegnen; die tiefe Erotik des Wanderns, die tiefste, tiefer als die Vereinigung. Über die Liebesbegier im Vorwärtsgehen, denn „wir werden nicht nur von unseren Taten vorwärtsgestoßen, sondern immer gelockt von etwas, das scheinbar irgendwo auf uns wartet und immer verhüllt ist.“ Über die Begegnung: denn die Begegnung scheint „einer höheren Ordnung der Dinge anzugehören, jener, nach der die Sterne sich bewegen und die Gedanken einander befruchten.“ Und immer wieder die Frage nach Agur; immer wieder. Doch plötzlich, mit einer gleichsam übermenschlichen Überanstrengung, ist eine Art Synthese da: Ein Traum von Agur. Ein Traum: Morgendämmerung; Aufbruch eines ungeheueren Urvolkes auf einer Wanderung. Im halbdunkeln Lederzelt, dem barbarisch gemalten, Agur, ein ungeheurer Greis, doch schlank wie ein Knabe; er erhebt sich vom Lager einer Frau; er tritt zum Ausgang des Zeltes. Das Zelt wird abgebrochen. Und alles geschah „wie unter der Gewalt eines Befehls, gegen den es keinen Widerspruch gab. Und ohne weiteres wusste ich, dass das Zelt, an dem ich arbeitete, ein Teil von seinem Zelte war, von dem Zelte dessen, der den Aufbruch befohlen hatte, und von dem alle Befehle kamen“. Alles ist gesehen mit der unerhörten Genauigkeit des Hellsichtigen: Jede Farbe, jede Falte, jedes Stoffmuster; und dieses sonderbare Gesicht des Agur.

Und dennoch: Wer ist Agur? Wer ist sein Volk, das aus Zelten zur Wanderung aufbricht? Es ist nirgendwo gesagt. Der wirkliche Agur ist nicht gefunden. Er ist unauffindbar — für den Dichter.

Wer ist Agur?

Agur ist, um die Frage einstweilen oberflächlich zu beruhigen, Agur ist nicht die Erfindung irgendeines altfranzösischen Autors, wie in jenem Essay vermutet wird, sondern Agur, der längst vergessene Agur der Kindheitsträume, der Agur der „Gedanken hinter meinem Rücken“: Agur, Sohn des Jake, ist ein alter jüdischer Stammes König; einer der ganz Fernen, Unbekannten; und jener Ausspruch des Agur, Sohn des Jake, ist eine von den königlichen Urweisheiten in Sprüchen, die das Alte Testament uns aufbewahrt hat.

„Dies und kein anderer ist Agur.“


II. Der Ahasverische Problemkreis.

A. Die Hypotheseder beiden Entscheidungen.

Die Schlange des Paradieses war nicht immer giftig; sie ist erst dadurch giftig, ja, sie ist überhaupt erst dadurch zur Schlange geworden, dass der Sündenfall erfunden wurde. Genauer ausgedrückt: jeder Religion, sicher dem alten jüdischen Testament, liegt noch dokumentarisch ein ethischer Dualismus zugrunde: der Kampf des Guten mit dem Bösen. Hier ist die spätere „Schlange“ noch vollberechtigter Gegner Jahves. Aber schon in der ältesten aufweisbaren Schicht dieser Dokumente ist der Kampf gewissermaßen von vornherein entschieden, zugunsten des „Guten“ entschieden.

Doch noch dieser vorjahvistischen, moralischen Schichte der Schöpfungsgeschichte, der ersten dokumentarisch nachweisbaren, muss zweifellos eine aller älteste, vormoralische zugrunde liegen; Der Gesang des zu sich erwachenden Lebewesens. Etwas Allerfernstes — und doch von einer seelischen Allgegenwart, Nähe, Unmittelbarkeit, von einer rätselhaften Leichtigkeit der inneren Reproduktion in uns ohnegleichen: Die unnennbare Lust des ersten Erwachens, und der unnennbare Schmerz des ersten Erwachens; die unbezwingliche Lust, weiterzuschlummern; und die ganz unwiderstehliche Lust, aufzuspringen, sofort, die Fenster aufzureißen, in der scharfen Luft der Morgendämmerung den schlaf heißen Körper zu baden; eine Entscheidungsmöglichkeit mehr: die eine, die endgültige Entscheidungsmöglichkeit, die Entscheidung über sich und über die Welt.

Seltsam, das Paradies in sich nachzuträumen: etwas Organisches, das Einzelwesen; doch dieses organische Einzelwesen ohne Kontur, ohne Bruchstelle übergehend in ein immer höher Organisches, bruchlos übergehend in eine organische Harmonie des Zusammenlebens: Der Flug der Vögel, in einer strengen Ordnung der Marschgruppe und der Zeit; der Ameisenbau, der Bienenstaat, die Monogamie gewisser Gruppen von Lebewesen, das unergründliche Verbot, sich von dem Fleische der gleichen Gattung zu nähren.

Zwischen ihnen aber der Erwachende, der sich sah, sich „nackt“ sah, wie die Metapher der Bibel sagt; mit seiner ungeheuren Frage, seiner ungeheuren Entscheidungsmöglichkeit. Er muss den Anfang und das Ende aller Weltmöglichkeiten zugleich in sich besessen haben: denn gewiss, gerade das ist das Rätsel jeder großen Entscheidungsmöglichkeit, dass in ihr alles enthalten ist, das Erste und Allerletzte, der erste Anfang und das letzte Ende ihrer selbst; in ihr, in ihrer Weltsekunde — und niemals wieder.

Das mythische Bild von Prometheus sagt, dass er „Menschen schuf nach seinem Ebenbilde“, gegen die Götter. Mit jener Großartigkeit des mythischen Bildes, das immer und überall mehr sagt als Worte, ist hier der dem ersten immanente letzte Schritt bezeichnet. „Sich nackt sehen“, sich nackt vor sich selbst sehen, bedeutet sich verdoppeln; „den Menschen nach seinem Ebenbilde formen“: dasselbe gesagt, nur mit dem großen Einblick in die reflektorischen und reaktiven Beziehungen von außen und innen, Wissen und Realität. Aber in dem Adam sich selbst „wusste“, indem er sich selbst zum zweiten Mal geschaffen war, war das Paradies zum zweiten Mal geschaffen. Und das ist der Horizont des Erwachenden: von Paradies zu Paradies.

Aber die Sekunde nach diesem Entschluss, nach diesem Erwachen: Die Geburt der Angst. Denn nun war er plötzlich wieder blind, fast blind. Nur dieses allerkleinste Stück sah er: sich selbst, und dass er „nackt“ war; nicht mehr, wie er nackt dastand vor sich selbst. Nur noch dieses: dass eine Grenze seines Blickes da war, er selbst, sein Umriss, die Grenze gegen die unbekannte Welt.

Das war die Geburt der Angst. Und ich wüsste nicht, ich wüsste wahrhaft nicht, aus welcher Gemütsbewegung irgendein Lebewesen zu schreien, zu brüllen, zu singen anheben sollte, wenn nicht aus diesem unerhörten, unbegreiflichen Nebeneinander von Allwissenheit und Blindheit, von ungeheuerster Kraft und ungeheuerster Angst. Ich wüsste nicht, wozu sich irgendein Laut der Verständigung in seinem Munde sollte gebildet haben, wenn nicht aus dem unerträglichen Zwang, dieses Nebeneinander von Allmacht und Hilflosigkeit aus sich herauszuschleudern.

So denke ich mir die Entstehung der ersten Schöpfungsgeschichte und so denke ich mir die überzeitliche Allgegenwart des Schöpfungsaktes in dir, in mir, in Allen; zu jeder Sekunde: denn jede Sekunde ist irgendwie die Sekunde jener letzten Entscheidung, bis in die Unendlichkeit.

Nun denn: Adam erschrak. Doch gleichzeitig erschrak auch Jahre. Denn zugleich mit dem ersten Schritt hatte doch Adam auch den immanenten letzten getan; indem er sich „sah“, hat er sich auch geschaffen, und mit sich das Paradies: so hatte er denn Jahve vernichtet, den Begriff des Menschenschöpfers, des Paradiesgottes. Indem er vom Baume der Erkenntnis gegessen hatte, war er daran — wie es in der Bibel heißt — auch „vom Baume des Lebens zu essen“. Darum erschrak auch Jahve. Doch Adam erschrak mehr.

Denn, was stärker war, was die Welt entschied und irgendeinmal aufgezeichnet wurde, war eben nicht die Angst Jahves, sondern vor Allem die Angst Adams, meine und deine Lebensangst. Diese Angst redigierte und redigiert den Augenblick des Erwachens im Testament: indem sie ihn ethisch klassifizierte und bestätigte. „Gut“ war die Angst Adams; und „Böse“ war das Erwachen mit seiner ungeheuren Lust. Und alles war ethisiert, auch jenes Erwachen selbst war ethisiert, denn es war kein Erwachen mehr, sondern es war die „Erkenntnis von Gut und Böse“; und jene Erkenntnis von Gut und Böse war böse , ja sie war sogar der Begriff des „Bösen“, sie war der „Sündenfall“: ein Paradox.

Und wirklich: im Begriff des „Sündenfalles“ liegt jener höchste, schwindelnde Mut, der sich nur von der höchsten, schwindelnden Angst herleiten kann: der Mut zum Paradox. Mit diesem Begriffe war jenes erste Paradox jener ersten jüdischen Ecclesia geschaffen, deren Ethik absolute Willensfreiheit voraussetzt und gleichzeitig als den Begriff des Bösen verwirft.

Also war dies eine Entscheidung? Die Entscheidung des Schreckens zu sich selbst? Die Entscheidung des erwachenden Menschen gegen sein Erwachen, gegen sich, eine ewige Entscheidung, von Sekunde zu Sekunde?

Hier eben scheint mir die Berufenheit und Auserwähltheit des jüdischen Charakters zu liegen: dass in ihm niemals jene Entscheidung erfolgen durfte; sondern, dass dieses Volk, als einziges unter allen, zu der übermenschlichen Aufgabe bestimmt war und ist, diese Frage als Frage auf seinem Rücken zu tragen, diese Frage als Antwort offen zu halten, der ganzen Welt offen zu halten: Denn es hatte ja nicht nur die Angst Adams in seiner Heiligen Schrift aufgezeichnet, sondern auch die Angst Jahves; es hatte in sich nicht nur Gottesfurcht, sondern auch Gottesmut, Goltesobjektivität. Es hat, um mich heiter auszudrücken, es hat Gott nicht zu jeder Stunde überschätzt. Es hat die Frage offengehalten: es muß sie also offenhalten.

Und zwar als Antwort offen halten; und zwar von Jahrhundert zu Jahrhundert. Denn diese ewig offengehaltene Frage muss der Welt in jedem Augenblick zwar nicht die unerreichbare und unmögliche Antwort der letzten Wahrheit geben, aber in jedem Augenblick doch jene provisorische Antwort, die die Welt jeweils braucht, um weiter zu existieren: die Antwort, die sich bewußt ist, immer noch die offene Frage zu sein.

Und dieses Volk hat diese provisorische Antwort gegeben, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Minute zu Minute, mit der ganzen Kraft einer schicksalsmäßigen Berufung: mit seiner eigenen Existenz, mit dem Einsatz seiner eigenen Existenz oder Nichtexistenz. Deshalb scheint mir die Hofmannsthalsche Vision, „dass alle Weltgeschicke sich auf ihn bezogen“, wenn sie überhaupt in einen geistigen Volkskreis einreihbar ist, nur einreihbar in die geistigen Kreise des jüdischen Volkes.

Doch ist im Anbeginn schon dieses Volk von der ungeheuren Schuld belastet: dass es sich selbst im Augenblicke der verzweifeltsten Angst eine Antwort gab, die Antwort der Angst, und dass es selbst das Beiläufige dieser Antwort aufhob, indem es diese Antwort als eine Antwort, also als ein Endgültiges akzeptierte, indem es sich selbst entschied, gegen seine Weltberufung entschied, gegen seine Weltberufung und für die Angst, für die jüdisch-jahvistische Ecclesia.

Gleichwohl scheint die jüdische Weltberufung immer wieder die Schalen des jüdischen Dogmas durchbrochen zu haben: denn die ganze Geschichte des Judentums ist nichts anderes als eine unendliche Reihe von Rückfällen aus dem Jahvismus, immer wieder unternommen, trotz allen Drohungen unternommen, wie aus einem allertiefsten Zwang heraus immer wieder unternommen; die Chroniken dieses Volkes sind fast die Chroniken eines „verewigten Sündenfalls“.

Aber der we1thistorische Beweis seiner Weltberufung liegt doch wohl außerhalb jener aufgezeichneten und kanonisierten testamentarischen Nachrichten: es ist jener entscheidende Augenblick der menschlichen Seele, den wir als den „Beginn des Christentums“ bezeichnen.

Seine Ursache war die ungeheuerste und unbegreiflichste Energie der Fragestellung vielleicht nach dem Sündenfalle überhaupt; eine drohende seelische Diaspora der gesamten Menschheit, die noch in ihrer Rekonvaleszenz jenes grandiose Ereignis in die Welt der Wirklichkeit warf, das wir als „Völkerwanderung“ zu bezeichnen pflegen.

Die Bestimmung der Juden war, auf jene unbegreifliche weltzerstörerische Frage zu antworten. Das Judentum hatte die Antwort zu geben, seine Antwort, die provisorische Antwort.

Aber man muss sich vor allem klar sein über den Begriff der Provisorität; man muss vor allem wissen, welche wesentlichen Merkmale der Begriff einer „provisorischen“ Antwort enthält. Ihr bestimmendes Merkmal ist: dass sie sofort erfolgt; dass sie sofort erfolgt, um die Welt zu erhalten; dass sie von jener Art ist, ganz genau von jener Art, sodass durch sie die Welterhalten werde. Dass sie wahr ist, absolut wahr, ist nicht ihr Hauptmerkmal; ihr Hauptmerkmal ist, dass sie therapeutisch ist.

Wir haben gesagt: das Judentum gab jede Antwort mit der ganzen Kraft einer schicksalsmäßigen Berufung: mit der eigenen Existenz, mit dem Einsatz seiner eigenen Existenz oder Nichtexistenz.

Und aus einer Gerechtigkeit heraus, deren Tiefe fast erschreckend ist, bedeutete diese Antwort, die Antwort, die heilende Antwort auf die Frage der drohenden seelischen und sozialen Diaspora der Menschheit: die seelische und soziale Diaspora des Judentums selbst. Der entschiedene Augenblick der abgedämmten Menschheitsdiaspora war zugleich der Augenblick der entschiedenen seelischen und sozialen Diaspora des jüdischen Volkes als der neuen, von der neuen Konstellation der Menschheit geforderten Konstellation des Judentums.

Die Geburt des Christentums ist die Geburt der zweiten jüdischen Ecclesia. Nochmals hat das Judentum das Provisorische seiner Antwort aufgehoben, indem es nochmals eine Antwort als Endgültiges normierte, indem es nochmals Provisorium und Endgültigkeit identifizierte. Aber dadurch hatte es sein zweites Paradox in die Welt gesetzt, das christliche Paradox.

Das Paradoxe dieser zweiten Entscheidung war, dass sie wieder keine Entscheidung war, dass sie ebenso wenig eine Entscheidung war wie die erste, weil sie, aus dem Judentum geboren, ebenso wenig eine Entscheidung sein durfte, wie die erste, oder wie überhaupt irgendeine Entscheidung des Judentums eine Entscheidung sein darf. Wir wissen, dass die christliche „Erlösung“, das „Gottesreich“ und der „Jüngste Tag“ als tatsächlich unmittelbar bevorstehend von den frühchristlichen Judenpropheten prophezeit, von den frühchristlichen Völkern erwartet wurde. Aber sie kam nicht; nichts kam. Denn hier war ja nichts Endgültiges geschaffen, nur ein Provisorisches mit einem Endgültigen identifiziert worden; hier war ja nur die Lüge geschaffen worden, die sich um jeden Preis als Wahrheit betätigen musste; kurz gesagt: hier war ja nur ein Paradox geschaffen worden, das christliche Paradox: die Neuschöpfung des Menschen durch die bloß imaginäre „Erlösung“, die Neuschöpfung des Paradieses durch das bloße imaginäre „Jenseits“.

Jedes neue Paradox bedeutet eine neue seelische Einstellung. Jedes Paradox, das in seinem eigenen Ursprünge die Begriffe „Provisorium“ und „Endgültigkeit“ dialektisch identifiziert, fordert natürlich die seelische Identifizierung von „Provisorium“ und „Endgültigkeil“ für alle Fälle und für die ganze Dauer seiner Wirksamkeit. Dieses Postulat erfüllte und erfüllt die christliche Welt durch die christliche Ideologie, die die jeweilige provisorische Antwort auf die jeweilige Weltfrage als endgültiges Gesetz, als Realität setzt; mit allen Forderungen und aller blinden Grausamkeit der Endgültigkeit und Realität; heiße diese Antwort nun religiöses Dogma, Krieg, Staatstheorie, philosophisches System, naturwissenschaftliche Forschung, technische Errungenschaft, Patriotismus, Nationalismus oder wie immer.

Und dies ist das neue Problem, die neue ungeheure Frage, die die provisorische christlichjüdische Antwort auf die letzte ungeheure Frage aus sich geboren hat.

Das Judentum hat, aus seiner Berufung heraus, auch diese neue Frage zu beantworten, auch dieses neue Problem zu stillen. Es hat den Begriff des Provisorischen, den es selbst vernichtet hat, selbst wieder herzustellen; und zwar mit der ganzen Kraft seiner schicksalsmäßigen Berufungen: mit der eigenen Existenz, mit dem vollen Einsatz seiner Existenz als Judentum. Geistig und sozial. Und der einzige Dichter dieser geistigen und sozialen Schicksalsdiaspora scheint mir eben Hofmannsthal zu sein.


B. Die Situation and ihr dichterisches Bild.

Soviel Vorbereitung war notwendig, um den durch den Dichter Hofmannsthal in unvergleichlicherweise repräsentierten Problemkreis, den wir einstweilen den „Ahasverischen“ nannten, in sich zu begründen.

Die mythische Zusammenfassung der jüdischen Bestimmung nach Christus in der Gestalt des ewig lebenden, ewig wandernden jüdischen Schusters, der Christus verflucht hatte, ist ziemlich späten Ursprungs; aber sie hat die umfassende Ausdeutungsmöglichkeit eines jeden mythischen Gebildes. In jenem ersten Buche über den „Wandernden Juden“ aus dem Jahre 1602 sagt das in der Figur des Christus symbolisierte Christentum zu dem in Ahaverus versinnbildlichten Judentum: „Ich werde ruhen; aber du wirst wandern“ — und das überwältigende Nebeneinanderstehen jener beiden Sätze bekommt, wie aus sich selbst heraus, den tiefen Untersinn: „Du wirst wandern, damit ich ruhe.“

Der ahasverische Problemkreis ist also nichts anderes als der Problemkreis der jüdischen Bestimmung nach Jesus Christus.

*

Wie repräsentiert sich dieser Problemkreis in den Werken des Dichters Hofmannsthal?

Das Judentum erfüllt seine zeitliche Bestimmung zur Wiederherstellung des Provisorischen trotz und gegen die christliche Ideologie als der beste Kritiker, der witzigste Satiriker, der radikalste Kommunist, der fähigste Journalist, der lustigste Literatur-Improvisator, Glossator, Frondeur, Meister des Aperçus, als der destruktivste Operettenkomponist, den es in seinen temporären Verkörperungen der Welt hergibt. Aber schon der bloße Begriff der Provisorität scheint dem Begriff des Dichters und dem Begriff der Dichtung, als einer Formung des Endgültigen, die sie ist, zu widersprechen. Und wirklich: der seelische Kampf, der diesem jüdischen Dichtergenius den Weg in die Wirklichkeit bahnte, muss jedes Mal von einer unerhörten, an Wahnsinn grenzenden Grausamkeit gewesen sein. Hinter dem offiziösen Hofmannsthal, der der zarteste und soignierteste Zeichner neben Anatole France ist, verbirgt sich jener inoffiziöse, von vielen Krämpfen durch schulterte, der den „Brief“ des Lord Chandos, den Dialog „Furcht“, gewisse Partien der „Briefe des Zurückgekehrten“, der „Augenblicke in Griechenland“ wie mit geschlossenen Augen hingewühlt hat. Nicht das Problem irgendeiner Dichtergeneration von 1890 oder 1900, sondern das ganz subjektive Problem Hofmannsthals, übernommen nur, als Phrase übernommen von einer gewissen Generation, war jene ungeheure Annihilisierung des Subjektes und Objektes, von der wir gesprochen haben, und die der genau abgemessene Kaufpreis an das Schicksal für die eingetauschte Möglichkeit einer dichterischen Formung war.

Hofmannsthal hat jedes seiner Werke dem Nichts abringen müssen, jener absoluten Verneinung, die das Gebot der Provisorität allem Endgültigem, also auch der dichterischen Form, entgegenzusetzen hat. Sein Produktives ist eine Aufhebung, eine Selbst-Aufhebung; sein Vorgang der dichterischen Weltschöpfung ist der katastrophale, nicht der evolutionäre: auch hierin, wie in vielem Anderen, unterscheidet er sich wesentlich von Goethe, als dessen Epigone er oft bezeichnet wird. Er schafft Dichtung, wie das Judentum Religionen schuf: gegen sich selbst, gegen seine Bestimmung, als Sünde. Schon in diesem Punkt ist er repräsentativer Jude.

Doch war dieser dichterische Prozess eine immer wieder wiederholte Annihilisierung des Objektes und seiner Selbst, so war jene Dichtung der Krisenzeit ein immer wiederholtes, immer wieder geformtes, ungeheuer erschrockenes Sich-Wiederfinden mit der Realität und mit sich selbst; ein ungeheurer Schauder des Aug-in-Aug-stehens einer inneren mit einer äußeren Realität. Und dieser Schauder, bis zum pathologischen Ausbruch gesteigert, dies, und nichts anderes, sind die seltsam bekenntnishaften Krankheitsbulletins des Lord Chandos und des „Zurückgekehrten“; auf das großartigste zusammengefasst in jenem Erlebnis des Rama Krishna, das dem „Zurückgekehrten“ im Anblick der Gemälde von Van Gogh einfällt.

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Über allen jenen „krisenhaften“ Werken schwebt etwas, was wir mit irgendeiner beiläufigen Bezeichnung als „Unerlöstheit“ bezeichnen könnten; aber diese Unerlöstheit scheint sich mit einer übermenschlich-falalischen Kraft, mit jener rätselhaft gesteigerten Kraft, die überall und immer nur dem geistigen Existenzwillen selbst entspringt, gegen irgend eine seltsam nahe, seltsam mögliche Erlösung zu wehren. Ihr Symbol ist die „Elektra“, die bis zum Wahnsinn ihre Unerlöstheit gegen die überall und immer sie umschwebende natürliche und nächste Erlösungsmöglichkeit, die natürliche Erlösungsmöglichkeit der Jungfrau und des Christentums, die Erlösung durch die Liebe, verteidigt. „Und wirklich, welches deutlichere Bild könnte es geben für eine gegenwärtige seelische Volkssituation, die nichts anderes bedeutet als den Kampf gegen eine zu nahe, zu leichte, zu fiktive Erlösung, diesen tief durch eine Weltgerechtigkeit ihr zubestimmten Kampf, und vielleicht diesen Kampf bis zum eigenen Untergange? Welche andere Gestalt könnte den Ahasveros in dieser tragischen Schicksalsform vollkommener verkörpern, als die Frondeurin inmitten des Hauskreises, die geächtete, gehasste, die ihr Schicksal in jeder Minute aufruft, den König dieses Hauses zu ermorden? Bis zu jenem geweihten Augenblick des Mordes aber seinen Hausstand bis aufs Blut zu verhöhnen? Die Vereinsamte, fast mit Lust, mit einer unheimlichen Lust Vereinsamte, der die Schwester fremd und der helfende Bruder ferne ist? Welches deutlichere Bild gibt es für Ahasveros?

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Aber wir sprechen von Symbolen, wir sprechen von der Psychologie und haben von Problemen zu sprechen.

Der seelenhaft gegebene Problemkreis Ahasvers charakterisiert sich durch die zwei Merkmale Ahasvers: Ahasver ist der wandernde Jude und Ahasver ist der ewige Jude.

Dem wandernden Juden ist das Problem seiner Existenz: das Wandern, die Wege, die Begegnungen: sein Gleiten an der Welt vorüber und das Gleiten der Welt an ihm vorüber; dieses Gleitende wird an seine Seele anrühren mit der ganzen Faszination des Schicksalsproblems. Und vor diesem Gleitenden steht fast das gesamte Werk Hofmannsthals, beschwörend, wie der chinesische Kaiser vor den verschlossenen Toren der Unterwelt, aus der er die Weisheit aller Weisheiten zu holen gedenkt. Auf dieser problematischen Stelle gründet sich schon sein Erstlingswerk „Gestern“; auf ihr der Kampf um eine merkwürdig vertiefte Casanova-Figur, den Hofmannsthal augenscheinlich jahrzehntelang geführt hat, und dessen drei sichtbare Stadien der Baron Weidenstamm des „Abenteurers“ und der Florindo der beiden Cristina-Dramen bezeichnen. In einer absolut bezwingenden Formulierung ist fast alles Klingende, Verklingende des ahasverischen Problems im „Abenteurer“ klingend geworden; dem „Florindo“ hat die wundervolle, neue Kraft des Hofmannsthalschen Auges genau so viel von der Musikalität weggenommen, wie sie ihm von dem Zauber der Besonderheit, der besonderen Zeichnung und der besonderen Luft um diese Kontur zugegeben hat.

Wie jedes wahrhaft dem Schicksal entrungene Problem ist auch dieses durch alle dichterische Formung hindurch zur Form des Kunstwerkes selbst geworden: und diese neue Form ist jene fast panoramamäßige Fassung des Tragischen, jenes Reliefhafte, jene feierliche Bewegung der figures et choses, qui passent, die zuerst im „Tor und Tod“ zu finden ist, die im „kleinen Welttheater“ den ganzen Rahmen der Dichtung ausfüllt, die in den sonderbaren Waldbegegnungen des Kaisers in „der Kaiser und die Hexe“ und in den Visionen des sterbenden „Jedermann“ fortgeführt wird und noch in der letzten einaktigen Fassung des Florindo-Dramas ihren dramaturgisch-technischen Ausklang findet.

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Ahasverisch ist weiter der rein gegenständliche, nationale und landschaftliche Stoffkreis. Zwar hat der Mensch Hofmannsthal seine Wahlheimat: das venezianische Oberitalien: aber auch dieses Landschaftliche spiegelt sich im Kunstwerk kaum zweimal gleichartig wider. Die Luft um den sterbenden Tizian ist nicht die Luft, die um Baron Weidenstamm weht: denn jene ist malerisch, diese musikalisch gespiegelt; und das Atmosphärische um diese beiden wieder scheidet sich streng von der hellen, durchsichtigen Luft des Cristina-Dramas, die das neue Auge Hofmannsthal, das Auge des Zeichners, in ihm gespiegelt hat. Sonst aber gibt es, wenn wir die Prosaschriften einbeziehen, schlechtweg keinen Erdteil, ja vielleicht kein Land der Erde, über dem sich nicht irgendein dramatischer, erzählter oder im Essay angespielter Vorgang abwickelte.

Seine Helden sind ziemlich oft national identifiziert; aber nicht einer von denen, die das geringste Bekenntnishafte fühlen lassen, ist anders identifiziert wie als Heimatloser, als Reisender, Wandernder, ewig Heimkehrender, doch nie Heimgekehrter.

Auch der Orte seiner Handlungen sind viele; aber der Ort seiner Bekenntnisse ist nur einer: die Straße und der Kreuzungspunkt der Straße, der Kreuzweg des Ödipus, an welchem die Sphinx des Welträtsels gelagert ist:

„Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen.
Und drohende und totenhaft Verdorrte ...“

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Aber Ahasveros ist nicht nur der wandernde Jude, sondern auch der ewige, der Alterslose. Staunend öffnen sich die Augen des Alterslosen im Alternden vor dem Altern und Sterben, vor den Verwandlungen der organischen Natur im Altern und Sterben und Wiedergeborenwerden. An ihm, dem Alterslosen, gleitet das Alternde, Sichverwandelnde als großes Wunder vorüber; auch das Alternde, Sichverwandelnde des eigenen, körperlichen Ich:

„Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben.
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.“

(Ballade des äußeren Lebens.)



„Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als dass man klage:
Dass alles gleitet und vorüberrinnt.

Und dass mein eigenes Ich, durch nichts gehemmt.
Herüber glitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann: dass ich auch vor hundert Jahren war,
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eigenes Haar,
So eins mit mir, als wie mein eigenes Haar.“

(Terzinen über die Vergänglichkeit.)

Dieses Einssein von Ahnherr und Enkel, dialektisch aufzubauen als die Existenz des ewigen Juden im Zeitlichen, kann nur eine einzige Form der künstlerischen Gestaltung finden: die klassizistische. Denn die klassische Form ist ganz genau dieses und nichts anderes als die formale, sinnbildliche Identifikation von Ahnherr und Enkel.

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Das letzte und geheimnisvollste Problem Ahasvers ist: die Erde. Sie öffnet sich nur dem Sterblichen; dem Ahasveros, dem das Grab versagt ist, öffnet sie sich nicht. In ihr ruht für Ahasveros das letzte Wunder, das Wunder des Endgültigen, des Versagten, das Wunder des letzten Geheimnisses. Denn wo anders sollte für Ahasveros, dem seine provisorische Schicksalsbestimmung die Lust des letzten Geheimnisses verbietet, wo anders sollte ihm dieses Wunder aller Wunder ruhen, wenn nicht dort, wo es ihm unerreichbar ist? Und dieses bedeutet die dramatische Konzeption: „Die Bergwerke von Falun“: Der Seemann Elis, der Wandernde, ist heimgekehrt. Vater und Mutter ruhen im Grabe. Mit der letzten Erschütterung eines letzten Rätsels rührt ihn dieses an: dass sie in der Erde ruhen, und er über ihr weilt. Und mit der übermenschlichen Kraft des vom übermenschlichen Rätsel Berührten beschwört er diese Erde, ihm ihre Pforten zu öffnen. Die märchenmäßig gesehene Figur der Bergkönigin, in der ohne viel Umschweife und in der angemessenen kindlichen Form das Wunder der Erde ausgedrückt ist, schließt den Fragment gebliebenen Entwurf ab.

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Das Bild des heimkehrenden Elis scheint metaphorisch eine innere Epoche abzuschließen, eine neue und die letzte zu eröffnen.

Der heimgekehrte Ahasveros hat sich zu sich selbst gefunden: zu seiner Berufung. Mit seiner eigenen gesamten Existenz hat er den Begriff des „Provisorischen“ zumindest in sich hergestellt.

Diese Wiederherstellung des Provisorischen aber ist nichts anderes als die Wiederherstellung des Augenblicks, der Gegenwart, der Unmittelbarkeit, der Realpolitik des Lebens, der Anschauung, der Konzentration aller dichterischen Kraft im Auge. Das Auge ist das auserwählte Organ des Provisorischen: denn es vermittelt den Begriff der Verwandlung. Der neueste Hofmannsthal ist vor allem Augenkünstler.

Von großer Vollkommenheit ist die Sensitivität dieses Auges. Sie erblickt überall jenes zauberhafte Etwas-mehr und nicht Zuviel, das ganz genau die Zeichnung ist und nichts anderes.

Denn was ist „Zeichnung“? Zeichnung ist, etwas beiläufig ausgedrückt, ein Aperçu zur Wirklichkeit. Der Begriff der Zeichnung, und keine andere künstlerische Ausdrucksform außer dieser, wird präzise bezeichnet durch jene Definition der Provisorität, wie wir sie oben gegeben haben: Die Zeichnung ist die durch den Augenblick eines Kunstwollens und Kunstwerdens augenblicklich geforderte Antwort. Und so ist denn die Zeichnung, genau gesagt, jener Einfall zur Wirklichkeit, ganz genau jener augenblickliche Einfall zur Wirklichkeit von Sekunde zu Sekunde, dessen das Kunstwerk zu seiner transzendentalen Wirklichkeit als Kunstwerk der augenblicklichen Wahrheit und Weltharmonie bedarf.

Doch ebenso stark, wie die Sensitivität dieses Auges, ist auch die Klugheit dieses Auges. Die letzten Essays sind nichts anderes, als gesehene Situation, gesehene Beziehung des Menschen zum Menschen, wenn sie von Menschen, des Staates zum Staat, wenn sie von Politik sprechen; nichts anderes als gesehenes Kunstwerk, wenn sie das Kunstwerk analysieren. Überall scheinen sie ganz genau und unbestreitbar das entscheidende rationale Apercu zur Wirklichkeit zu sein, in demselben Sinne, in welchem das Zeichnerische das entscheidende überrationa1e Apercu zur Wirklichkeit ist.

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Kunstwerke, Kunstwerke: wir haben über sie gesprochen. Doch eine Vision steht hinter ihnen; und eine Vision steht für den, der zu lesen versteht, hinter jedem unserer Worte. Es ist die Vision von Agur, dem Sohne des Jake, die Vision der „Wege und Begegnungen“.

Hier ist alles vereinigt zu einem Bilde von unvergleichlicher Großartigkeit: alles, restlos.

Wer ist Agur? Aber wir wollen nicht antworten. Wer vermöchte zu antworten!

Ist er das Suchen selbst, jenes Vorwärtsgetriebenwerden nach einem Fernen, Unauffindbaren? Ist Agur das Suchen nach Agur? Ist Agur der ewig Ferne, der zum Ab- und Aufbruch befiehlt, der die Wanderung befiehlt? Denn er kennt ja das Geheimnis der Wege, er kennt das Geheimnis der Bahnen. Und er ahnt das Geheimnis des Paradieses, da er das Wunder des Vogelfluges ahnt, das Wunder der höheren Ordnung, jener Ordnung, die den Schwarm der Vögel ordnet, die dem Schwarm der Vögel zu fliegen befiehlt. Aber das Geheimnis dieser Ordnung ist zugleich das Geheimnis jener anderen, höheren, nach der die Sterne sich bewegen und die Gedanken einander befruchten.

Wer ist Agur? Ist er „Das Geheimnis der dunkelsten Träume, thronend bei dem Gedanken, die ich hinter meinem Rücken je gedacht habe?!“

Wer ist Agur?

Aber es gibt vielleicht nur eine Antwort — wenn wir diese Antwort überhaupt als Antwort gelten lassen wollen: Agur ist die offene Frage.
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Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur