Welche Regierungsform ist die beste?

Hierdurch kann man vielleicht auf die bekannte Frage: Welche Regierungsform ist die beste? eine befriedigende Antwort geben. Eine Frage, auf welche bisher sich widersprechende Antworten, mit gleichem Scheine der Wahrheit, gegeben worden sind. Im Grunde ist sie zu unbestimmt, fast so wie jene medizinische Frage von gleicher Art: Welche Speise ist die gesündeste? Jede Komplexion, jedes Klima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart usw. erfordert eine andere Antwort. Ebenso verhält es sich mit unserem politisch-philosophischen Problem. Für jedes Volk, auf jeder Stufe der Kultur, auf welcher es steht, ist eine andere Regierungsform die beste. Manche despotisch regierte Nationen würden höchst elend sein, wenn man sie sich selbst überließe, so elend als manche freigesinnten Republikaner, wenn man sie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja — , manche Nation wird, sowie sich Kultur, Lebensart und Gesinnung abändert, auch mit der Regierungsform ändern und in einer Folge von Jahrhunderten den ganzen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattierungen und Vermischungen, durchwandern und doch immer die Form gewählt haben, die in solchen Umständen für sie die beste war.

Unter allen Umständen und Bedingungen aber halte ich es für einen untrüglichen Maßstab von der Güte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen gewirkt, und also durch die Erziehung selbst regiert wird. Mit anderen Worten, je mehr dem Bürger Anlass gegeben wird, anschauend zu erkennen, dass er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu tun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Äußerung des Wohlwollens ebensoviel gewinnt, als er durch die Aufopferung verliert. Ja, dass er durch die Aufopferung selbst noch an innerer Glückseligkeit wuchere indem diese das Verdienst und die Würde der wohltätigen Handlung und also die wahre Vollkommenheit des Wohlwollenden vermehrt. Es ist zum Beispiel nicht ratsam, dass der Staat alle Pflichten der Menschenliebe, bis auf die Almosenpflege, übernehme, und in öffentliche Anstalten verwandele. Der Mensch fühlt seinen Wert, wenn er Mildtätigkeit ausübt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Not seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er gibt, weil er will. Gibt er aber, weil er muss, so fühlt er nur seine Fesseln.


Eine Hauptbemühung des Staats muss es sein, die Menschen durch Sitten und Gesinnungen zu regieren. Nun gibt es kein Mittel, die Gesinnungen, und vermittels derselben die Sitten der Menschen zu verbessern, als Überzeugung. Gesetze verändern keine Gesinnung, willkürliche Strafen und Belohnung erzeugen keine Grundsätze, veredeln keine Sitten. Furcht und Hoffnung sind keine Kriterien der Wahrheit. Erkenntnis, Vernunftgründe, Überzeugung, diese allein bringen Grundsätze hervor, die, durch Ansehen und Beispiel, in Sitten übergehen können. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zu Hilfe kommen, und die Kirche eine Stütze der bürgerlichen Glückseligkeit werden soll. Ihr kommt es zu, das Volk auf die nachdrücklichste Weise von der Wahrheit edler Grundsätze und Gesinnungen zu überführen; ihnen zu zeigen, dass die Pflichten gegen Menschen auch Pflichten gegen Gott seien, die zu übertreten schon an und für sich höchstes Elend sei: dass dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienst, Recht und Gerechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohltun sein allerheiligster Wille sei, und dass wahre Erkenntnis des Schöpfers keinen Menschenhass , in der Seele zurücklassen könne. Dieses zu lehren ist Amt und Pflicht und Beruf der Religion; dieses zu predigen Amt und Pflicht ihrer Diener. Wie hat es den Menschen beikommen können, jene das Gegenteil lehren, diese das Gegenteil predigen zu lassen?

Wenn aber der Charakter der Nation, der Grad der Kultur, auf welchen sie gestiegen, die mit dem Wohlstande der Nation gewachsene Volksmenge, vervielfältigte Verhältnisse und Verbindungen, überhand genommene Üppigkeit und andere Ursachen es unmöglich machen, die Nation bloß durch Gesinnungen zu regieren, so nimmt der Staat seine Zuflucht zu öffentlichen Anstalten, Zwangsgesetzen, Bestrafungen des Verbrechens und Belohnung des Verdienstes. Wenn der Bürger nicht aus innerem Gefühl seiner Schuldigkeit das Vaterland verteidigen will, so werde er durch Belohnung gelockt oder durch Gewalt gezwungen. Haben die Menschen keinen Sinn mehr für den inneren Wert der Gerechtigkeit, erkennen sie nicht mehr, dass Redlichkeit in Handel und Wandel wahre Glückseligkeit sei, so werde die Ungerechtigkeit gezüchtigt, der Betrug bestraft. Freilich erhält der Staat auf diese Weise den Endzweck der Gesellschaft nur zur Hälfte. Äußere Bewegungsgründe machen den, auf welchen sie auch wirken, nicht glücklich. Wer aus Liebe zur Rechtschaffenheit den Betrug meidet, ist glücklicher, als der nur die willkürlichen Strafen fürchtet, die der Staat mit dem Betrüge verbunden. Allein seinem Nebenmenschen kann es gleichviel gelten, aus welchen Bewegursachen das Unrecht unterbleibt, durch welche Mittel ihm sein Recht und Eigentum gesichert wird. Das Vaterland ist verteidigt; die Bürger mögen aus Liebe oder aus Furcht vor positiver Strafe für dasselbe fechten, obgleich die Verteidiger selbst in jenem Falle glücklich, in diesem aber unglücklich sind. Wenn innere Glückseligkeit der Gesellschaft nicht völlig zu erhalten steht, so werde wenigstens äußere Ruhe und Sicherheit allenfalls erzwungen.

Der Staat also begnügt sich allenfalls mit toten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Übereinstimmung im Tun, ohne Übereinstimmung in Gedanken. Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muss nach dem Gesetze tun, sobald es Sanktion erhalten hat. Er kann dem einzelnen Bürger das Recht lassen, über die Gesetze zu urteilen, aber nicht nach seinem Urteile zu handeln; denn hierauf hat er als Mitglied der Gesellschaft Verzicht tun müssen, weil ohne diesen Verzicht eine bürgerliche Gesellschaft ein Unding ist. — Nicht also die Religion! Diese kennt keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Übereinstimmung im Tun ohne Übereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlungen ohne religiöse Gedanken sind leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese müssen also an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft, noch durch Strafen erzwungen werden. Aber auch von bürgerlichen Handlungen zieht die Religion ihre Hand ab, insoweit sie nicht durch Gesinnung, sondern durch Macht hervorgebracht werden. Der Staat hat sich auch keine Hilfe mehr von der Religion zu versprechen, sobald er bloß durch Belohnung und Bestrafung wirken kann; denn insoweit dieses geschieht, kommen die Pflichten gegen Gott weiter in keine Betrachtung, sind die Verhältnisse zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer ohne Wirkung. Aller Beistand, den die Religion dem Staate leisten - kann, ist belehren und trösten, durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen beibringen, und durch ihre überirdische Trostgründe den Elenden aufrichten, der als ein Opfer für das gemeine Beste zum Tode verurteilt worden.

Hier zeigt sich schon ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Religion. Der Staat gebietet und zwingt, die Religion belehrt und überredet, der Staat erteilt Gesetze, die Religion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt und bedient sich derselben, wo es nötig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohltun. Jener gibt den Ungehorsamen auf und stößt ihn aus; diese nimmt ihn in ihren Schoß und sucht ihn noch in dem letzten Augenblicke seines gegenwärtigen Lebens, nicht ganz ohne Nutzen, zu belehren oder doch wenigstens zu trösten. Mit einem Worte: die bürgerliche Gesellschaft kann, als moralische Person, Zwangsrechte haben, und hat diese auch durch den gesellschaftlichen Vertrag wirklich erhalten. Die religiöse Gesellschaft macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Verträge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten. Der Staat besitzt vollkommene, die Kirche bloß unvollkommene Rechte. Um dieses gehörig ins Licht zu setzen, erlaube man mir zu den ersten Begriffen hinaufzusteigen und den Ursprung der Zwangsrechte und Gültigkeit der Verträge unter den Menschen etwas genauer zu untersuchen. Ich bin in Gefahr, für manche Leser zu spekulativ zu werden. Allein hat doch jeder die Freiheit das zu überschlagen, was nicht nach seinem Geschmacke ist. Den Freunden des Naturrechts dürfte es nicht unangenehm sein, zu sehen, wie ich mir die ersten Grundsätze desselben zu erörtern gesucht habe. —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum