John Locke, Bellarmin, Thomas Abbt

Locke [John L. (1632-1704) englischer Philosoph], der in denselben verwirrungsvollen Zeitläufen lebte, suchte die Gewissensfreiheit auf eine andere Weise zu schirmen. In seinen Briefen über die Toleranz legt er die Definition zugrunde: Ein Staat sei eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern. Hieraus folgt alsdann ganz natürlich, dass der Staat sich um die Gesinnungen der Bürger, ihre Glückseligkeit betreffend, gar nicht zu bekümmern, sondern jeden zu dulden habe, der sich bürgerlich gut aufführt, das heißt seinen Mitbürgern, in Absicht ihrer zeitlichen Glückseligkeit, nicht hinderlich ist. Der Staat, als Staat, hat auf keine Verschiedenheit der Religionen zu sehen; denn Religion hat an und für sich auf das Zeitliche keinen notwendigen Einfluss, und steht bloß durch die Willkür der Menschen mit demselben in Verbindung.

Sehr wohl! Ließe sich der Zwist durch eine Worterklärung entscheiden; so wüsste ich keine bequemere, und wenn sich die unruhigen Köpfe seiner Zeit hiermit hätten die Intoleranz ausreden lassen, so würde der gute Locke nicht nötig gehabt haben, sooft ins Elend zu wandern. Allein was hindert uns, fragen jene, dass wir nicht auch unsere ewige Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern suchen sollten? Und in der Tat, was für Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft bloß auf das Zeitliche einzuschränken? Wenn die Menschen ihre ewige Seligkeit durch öffentliche Vorkehrungen befördern können; so ist es ja ihre natürliche Pflicht es zu tun; ihre vernunftmäßige Schuldigkeit, dass sie sich auch in dieser Absicht zusammentun, und in gesellschaftliche Verbindung treten. Ist aber dieses, und der Staat, als Staat, will sich bloß mit dem Zeitlichen abgeben, so entsteht die Frage: wem sollen wir die Sorge für das Ewige antrauen? — Der Kirche? Nun sind wir auf einmal wieder da, wo wir ausgegangen waren. Staat und Kirche. — Sorge für das Zeitliche und Sorge für das Ewige — bürgerliche und kirchliche Autorität. Jene verhält sich zu dieser, wie die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit des Ewigen. Der Staat ist also der Religion untergeordnet; muss weichen, wenn eine Kollision entsteht. Nun widerstehe, wer da kann, dem Kardinal Bellarmin, mit dem fürchterlichen Gefolge seiner Argumente, dass das Oberhaupt der Kirche, zum Behuf des Ewigen, über alles Zeitliche zu befehlen und also, wenigstens indirekt *) ein Hoheitsrecht habe, über alle Güter und Gemüter der Welt; dass alle weltlichen Reiche indirekt unter der Botmäßigkeit des geistlichen Einzelherren stünden, und von ihm Befehle annehmen müßten, wenn sie ihre Regierungsform verändern, ihre Könige absetzen und andere an ihrer Stelle einsetzen müßten; weil sehr oft das ewige Heil des Staats auf keine andere Weise erhalten werden könne — und wie die Maximen seines Ordens alle heißen, die Bellarmin [Roberto Francesco Romolo Bellarmino (1542-1621) römischer Theologe und Jesuit] in seinem Werke de Romano Pontifice mit so vielem Scharfsinne festsetzt. Alles, was man den Trugschlüssen des Kardinals in sehr weitläufigen Werken entgegengesetzt hat, scheint nicht zum Ziel zu treffen, sobald der Staat die Sorge für die Ewigkeit aus den Händen gibt.


*) Bellarmin selbst ward beinahe von dem Papste Sixtus V. verketzert, weil er ihm bloß eine indirekte Macht über das Zeitliche der Könige und Fürsten zuschrieb. Sein Werk ward in das Verzeichnis der Inquisition gesetzt.

Von einer anderen Seite ist es im genausten Verstände weder der Wahrheit gemäß, noch dem Besten der Menschen zuträglich, dass man das Zeitliche von dem Ewigen so scharf abschneide. Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewigkeit zuteil werden: Sein Ewiges ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches. Sein Zeitliches nimmt nie ein Ende, ist also ein wesentlicher Teil seiner Fortdauer, und mit derselben aus einem Stücke. Man verwirrt die Begriffe, wenn man seine zeitliche Wohlfahrt der ewigen Glückseligkeit entgegensetzt. Und diese Verwirrung der Begriffe bleibt nicht ohne praktische Folgen. Sie verrückt den Wirkungskreis der menschlichen Fähigkeiten und spannt seine Kräfte über das Ziel hinaus, das ihm von der Vorsehung mit so vieler Weisheit gesetzt worden. „Auf dem dunkeln Pfade,“ man erlaube, dass ich meine eigenen Worte*) hier anführe, „auf dem dunkeln Pfade, den der Mensch hier zu wandeln hat, ist ihm gerade so viel Licht beschieden, als zu den nächsten Schritten, die er zu tun hat, nötig ist. Ein Mehreres würde ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht nur verwirren.“ Es ist nötig, dass der Mensch unaufhörlich erinnert werde, mit diesem Leben sei nicht alles aus für ihn; es stehe ihm eine endlose Zukunft bevor, zu welcher sein Leben hienieden eine Vorbereitung sei, so wie in der ganzen Schöpfung jedes Gegenwärtige eine Vorbereitung aufs Künftige ist. Dieses Leben, sagen die Rabbinen [(Plural) ist eine Bezeichnung für die jüdischen Gelehrten des Altertums], ist ein Vorgemach, in welchem man sich so anschicken muss, wie man im inneren Zimmer erscheinen will. Aber nun hütet euch auch, dieses Leben mit der Zukunft weiter in Gegensatz zu bringen, und die Menschen auf die Gedanken zu führen: ihre wahre Wohlfahrt in diesem Leben sei nicht einerlei mit ihrer ewigen Glückseligkeit in der Zukunft; ein anderes wäre es für ihr zeitliches, ein anderes für ihr ewiges Wohl sorgen, und es sei möglich, eines zu erhalten, und das andere zu vernachlässigen. Dem Blödsichtigen, der auf schmalem Steige wandeln soll, werden durch dergleichen Vorspiegelungen Standpunkt und Gesichtskreis verrückt, und er ist in Gefahr schwindlig zu werden, und auf ebenem Wege zu stolpern. So mancher getraut sich nicht die gegenwärtigen Wohltaten der Vorsehung zu genießen, aus Besorgnis ebensoviel von denselben dort zu verlieren, und mancher ist ein schlechter Bürger auf Erden geworden, in Hoffnung dadurch ein desto besserer im Himmel zu werden.

*) Siehe Anmerkung zu Abbts [Thomas Abbt (1738-1766) deutscher Schriftsteller und Philosoph] freundschaftlichen Korrespondenz.

Ich habe mir die Begriffe von Staat und Religion, von ihren Grenzen und wechselweisem Einfluss aufeinander, sowohl, als auf die Glückseligkeit des bürgerlichen Lebens, durch folgende Betrachtungen deutlich zu machen gesucht. Sobald der Mensch zur Erkenntnis kommt, dass er, außerhalb der Gesellschaft, so wenig die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Urheber seines Daseins, als die Pflichten gegen seinen Nächsten erfüllen, und also ohne Gefühl seines Elends nicht länger in seinem einsamen Zustande bleiben kann; so ist er verbunden, denselben zu verlassen, mit seinesgleichen in Gesellschaft zu treten, um durch gegenseitige Hilfe ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und durch gemeinsame Vorkehrungen ihr gemeinsames Beste zu befördern. Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwärtige sowohl als das Zukünftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich. Eins ist von dem anderen unzertrennlich. Ohne Erfüllung unserer Obliegenheiten ist für uns weder hier noch da, weder auf Erden noch im Himmel, ein Glück zu erwarten. Nun gehört zur wahren Erfüllung unserer Pflichten zweierlei: Handlung und Gesinnung. Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Gesinnung macht, dass es aus der wahren Quelle komme, das ist aus echten Bewegungsgründen geschehe.

Also Handlungen und Gesinnungen gehören zur Vollkommenheit des Menschen, und die Gesellschaft hat, soviel als möglich, durch gemeinschaftliche Bemühungen für beides zu sorgen; das ist die Handlungen der Mitglieder zum gemeinschaftlichen Besten zu lenken und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen führen. Jenes ist die Regierung, dieses die Erziehung des geselligen Menschen. Zu beiden wird der Mensch durch Gründe geleitet, und zwar zu den Handlungen durch Bewegungsgründe, und zu den Gesinnungen durch Wahrheitsgründe. Die Gesellschaft hat also beide durch öffentliche Anstalten so einzurichten, dass sie zum allgemeinen Besten übereinstimmen.

Die Gründe, welche den Menschen zu vernünftigen Handlungen und Gesinnungen leiten, beruhen zum Teil auf Verhältnissen der Menschen gegeneinander, zum Teil auf Verhältnissen der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter. Jene gehören für den Staat, diese für die Religion. Insoweit die Handlungen und Gesinnungen der Menschen durch Gründe, die aus ihren Verhältnissen gegeneinander fließen, gemeinnützig gemacht werden können, sind sie ein Gegenstand der bürgerlichen Verfassung; insoweit aber die Verhältnisse der Menschen gegen Gott als Quelle derselben angenommen werden, gehören sie für die Kirche, Synagoge oder Moschee. Man liest in so manchen Lehrbüchern des sogenannten Kirchenrechts ernsthafte Untersuchungen: ob auch Juden, Ketzer und Irrgläubige eine Kirche haben können. Nach den unermesslichen Vorrechten, die die sogenannte Kirche sich anzumaßen pflegt, ist die Frage so ungereimt nicht, als sie einem unbefangenen Leser scheinen muss. Mir kommt es aber, wie leicht zu erachten, auf diesen Unterschied der Benennung nicht an. Öffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche — zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnungen und Handlungen, so einzurichten, dass sie zur Glückseligkeit übereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren.

Heil dem Staat, dem es gelingt, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren; das heißt, ihm solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Handlungen führen, und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben zu werden brauchen. — Der Mensch im gesellschaftlichen Leben muss auf manches von seinen Rechten zum allgemeinen Besten Verzicht tun, oder wie man es nennen kann, sehr oft seinen eigenen Nutzen dem Wohlwollen aufopfern. Nun ist er glücklich, wenn diese Aufopferung eigenes Triebes geschieht, und er jedesmal wahrnimmt, dass sie bloß zum Behuf des Wohlwollens von ihm geschehen sei. Wohlwollen macht im Grunde glücklicher als Eigennutz; aber wir müssen uns selbst und die Äußerung unserer Kräfte dabei empfinden. Nicht wie einige Sophisten es auslegen, weil alles am Menschen Eigenliebe ist, sondern weil Wohlwollen kein Wohlwollen mehr ist, weder Wert noch Verdienst mit sich führt, wenn es nicht aus freiem Triebe des Wohlwollenden fließt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum