Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum

Autor: Moses Mendelssohn (1729-1786) deutsch-jüdischer Philosoph, Erscheinungsjahr: 1919
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Jerusalem, religiöse Macht, Judentum, Moses Mendelssohn, gesellschaftliches Leben, bürgerliche Freiheit, Weisheit, Güte, Eigentum, Recht, Glückseligkeit, Ehestand, Judentum
            Die Stützen des gesellschaftlichen Lebens

Staat und Religion — bürgerliche und geistliche Verfassung — weltliches und kirchliches Ansehen — diese Stützen des gesellschaftlichen Lebens so gegeneinander zu stellen, dass sie sich die Wage halten, dass sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden und den Grund desselben stärker drücken, als was sie tragen helfen — dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzulösen bemüht ist, und hier und da vielleicht glücklicher praktisch beigelegt, als theoretisch aufgelöst hat. Man hat für gut befunden, diese verschiedenen Verhältnisse des geselligen Menschen in moralische Wesen abzusondern, und jedem derselben ein eigenes Gebiet, besondere Rechte, Pflichten, Gewalt und Eigentum zuzuschreiben.

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Aber der Bezirk dieser verschiedenen Gebiete und die Grenzen, die sie trennen, sind noch bis jetzt nicht genau bestimmt. Man sieht bald die Kirche das Markmal weit in das Gebiet des Staats hinübertragen, bald den Staat sich Eingriffe erlauben, die den angenommenen Begriffen zufolge ebenso gewaltsam scheinen. Und unermesslich sind die Übel, die aus der Misshelligkeit dieser moralischen Wesen bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Liegen sie gegeneinander zu Felde, so ist das menschliche Geschlecht das Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen sie sich, so ist es getan, um das edelste Kleinod der menschlichen Glückseligkeit; denn sie vertragen sich selten anders, als um ein drittes moralisches Wesen, die Freiheit des Gewissens, die von ihrer Uneinigkeit einigen Vorteil zu ziehen weiß, aus ihrem Reiche zu verbannen.

Der Despotismus hat den Vorzug, dass er bündig ist. So lästig seine Forderungen auch dem gesunden Menschenverstände sind, so sind sie doch unter sich zusammenhängend und systematisch. Er hat auf jede Frage seine bestimmte Antwort. Ihr dürft euch weiter um die Grenzen nicht bekümmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? — So auch nach römisch-katholischen Grundsätzen die kirchliche Verfassung. Sie ist auf jeden Umstand ausführlich und gleichsam aus einem Stücke. Räumt ihr alle ihre Forderungen ein, so wisst ihr wenigstens, woran ihr euch zu halten habt. Euer Gebäude ist aufgeführt, und in allen Teilen desselben herrscht vollkommene Ruhe. Freilich nur jene fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm übergehen soll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben für Glückseligkeit hält, findet sie dennoch nirgends gesicherter, als unter einem römisch-katholischen Despoten; oder weil auch hier die Macht noch zu sehr verteilt ist, unter der despotischen Herrschaft der Kirche selbst.

Sobald aber die Freiheit an diesem systematischen Gebäude etwas zu verrücken wagt, so droht Zerrüttung von allen Seiten, und man weiß am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben kann. Daher die außerordentliche Verwirrung, die bürgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen in den ersten Zeiten der Reformation und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbesserer selbst, sooft sie in dem Fall waren, in Absicht auf Gerechtsame, das wie weit? festzusetzen. Nicht nur praktisch war es schwer, den großen, seiner Fessel entbundenen Haufen innerhalb geziemender Schranken zu halten, sondern auch in der Theorie selbst findet man die Schriften jener Zeiten voller unbestimmter und schwankender Begriffe, so oft von Festsetzung der kirchlichen Gewalt die Rede ist. Der Despotismus der römischen Kirche war aufgehoben, aber — welche andere Form soll an ihrer Stelle eingeführt werden? — Noch jetzt in unseren aufgeklärteren Zeiten haben die Lehrbücher des Kirchenrechts von dieser Unbestimmtheit nicht befreit werden können. Allen Anspruch auf Verfassung will oder kann die Geistlichkeit nicht aufgeben, und gleichwohl weiß niemand recht, worin solche bestehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entscheiden, ohne einen obersten Richter zu erkennen. Man beruft sich noch immer auf eine unabhängige Kirche, ohne zu wissen, wo sie anzutreffen sei. Man macht Anspruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer sie handhaben soll?

Moses Mendelssohn (1729-1786) deutsch-jüdischer Philosoph

Moses Mendelssohn (1729-1786) deutsch-jüdischer Philosoph

Jerusalem from the Mount of Olives

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