Die Gestze der Weisheit und Güte. Das Recht

Die Befugnis (das sittliche Vermögen), sich eines Dinges als Mittels zu seiner Glückseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht. Das Vermögen aber heißt sittlich, wenn es mit den Gesetzen der Weisheit und Güte bestehen kann, und die Dinge, die als Mittel zur Glückseligkeit dienen können, werden Güter genannt. Der Mensch hat also ein Recht auf gewisse Güter oder Mittel zur Glückseligkeit, insoweit solches den Gesetzen der Weisheit und Güte nicht widerspricht.

Was nach den Gesetzen der Weisheit und der Güte geschehen muss, oder dessen Gegenteil den Gesetzen der Weisheit oder der Güte widersprechen würde: heißt sittlich notwendig. Die sittliche Notwendigkeit (Schuldigkeit), etwas zu tun oder zu unterlassen, ist eine Pflicht.


Die Gesetze der Weisheit und Güte können sich nicht einander widersprechen. Wenn ich also ein Recht habe etwas zu tun, so kann mein Nebenmensch kein Recht haben, mich daran zu verhindern, sonst wäre eben dieselbe Handlung zu einerlei Zeit sittlich möglich und sittlich unmöglich. Einem jeden Rechte entspricht also eine Pflicht; dem Rechte zu tun entspricht die Pflicht zu leiden, dem Rechte zu fordern, die Pflicht zu leisten usw. *). Weisheit mit Güte verbunden heißt Gerechtigkeit. — Das Gesetz der Gerechtigkeit, auf welches ein Recht sich gründet, ist entweder von der Beschaffenheit, dass alle Bedingungen, unter welchen das Prädikat dem Subjekte zukommt, dem Rechthabenden gegeben sind oder nicht. In dem ersten Falle ist es ein vollkommenes, in dem anderen ein unvollkommenes Recht. Bei dem unvollkommenen Rechte nämlich hängt ein Teil der Bedingungen, unter welchen das Recht zukommt, von dem Wissen und Gewissen des Pflichtträgers ab. Dieser ist also auch in dem ersten Falle vollkommen, in dem anderen aber nur unvollkommen zu der Pflicht verbunden, die jenem Rechte entspricht. — Es gibt vollkommene und unvollkommene, sowohl Pflichten als Rechte. Jene heißen Zwangsrechte und Zwangspflichten; diese hingegen Ansprüche (Bitten) und Gewissenspflichten. Jene sind äußerlich, diese aber nur innerlich. Zwangsrechte dürfen mit Gewalt erpresst, Bitten aber verweigert werden. Unterlassung der Zwangspflichten ist Beleidigung, Ungerechtigkeit, der Gewissenspflichten aber bloß Unbilligkeit.

*) Man macht den Einwurf: der Kriegsmann habe in währendem Kriege die Befugnis, den Feind umzubringen, ohne dass diesem die Pflicht obliege, solches zu leiden.

Allein der Kriegsmann hat diese Befugnis nicht als Mensch, sondern als Mitglied oder Söldner des kriegführenden Staats. Der Staat nämlich ist entweder wirklich beleidigt, oder gibt vor, beleidigt zu sein und seine Befriedigung nicht anders als durch die Gewalt erhalten zu können. Das Gefecht ist also eigentlich nicht zwischen Mensch und Mensch, sondern zwischen Staat und Staat; und unter den beiden kriegführenden Staaten hat doch offenbar nur einer das Recht auf seiner Seite. Dem Beleidiger liegt allerdings die Pflicht ob, den Beleidigten zu befriedigen und alles zu leiden, ohne welches jener nicht zu seinem gekränkten Rechte gelangen kann.

Die Güter, auf welche der Mensch ein ausschließendes Recht hat, sind 1. seine eigenen Fähigkeiten; 2. was er durch dieselben hervorbringt oder dessen Fortkommen er befördert, was er anbaut, hegt, schützt usw. (Produkte seines Fleißes); 3. Güter der Natur, die er mit den Produkten seines Fleißes so verbunden, dass sie von denselben ohne Zerstörung nicht mehr getrennt werden können, die er sich also zu eigen gemacht. Hierin besteht also sein natürliches Eigentum, und diese Güter sind auch im Stande der Natur, bevor noch irgendein Vertrag unter den Menschen stattgefunden, von der ursprünglichen Gemeinschaft der Güter ausgeschlossen worden. Die Menschen besitzen nämlich ursprünglich nur diejenigen Güter gemeinschaftlich, die von der Natur, ohne eines Menschen Fleiß und Beförderung, hervorgebracht werden. — Nicht alles Eigentum ist bloß konventionell.

Der Mensch kann ohne Wohltun nicht glücklich sein, nicht ohne leidendes, aber ebensowenig ohne tätiges Wohltun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beistand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch tätige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommen werden.

Wenn also der Mensch Güter besitzt oder Mittel zur Glückseligkeit in seinem Vermögen hat, die er entbehren kann, das ist die nicht notwendig zu seinem Dasein erforderlich sind und zu seinem Bessersein dienen, so ist er verpflichtet, solche zum Teil zum Besten seines Nebenmenschen, zum Wohlwollen anzuwenden; denn Bessersein ist von Wohlwollen unzertrennlich.

Er hat aber auch aus ähnlichen Ursachen ein Recht auf seines Nebenmenschen Wohlwollen. Er kann erwarten und Anspruch darauf machen, dass ihm andere mit ihren entbehrlichen Gütern beistehen und zu seiner Vollkommenheit beförderlich sein werden. Man erinnere sich nur immer, was wir unter dem Worte Güter verstehen. Alles innere und äußere Vermögen des Menschen, insoweit es ihm oder anderen ein Mittel zur Glückseligkeit werden kann. Was also der Mensch im Stande der Natur an Fleiß, Vermögen und Kräften besitzt, alles, was er sein nennen kann, ist teils zum Selbstgebrauch (eigenen Nutzen), teils zum Wohlwollen gewidmet.

Wie aber das Vermögen der Menschen eingeschränkt und also erschöpflich ist, so kann dasselbe Vermögen oder Gut zuweilen nicht mir und meinem Nebenmenschen zugleich dienen. So kann ich auch dasselbe Vermögen oder Gut nicht gegen alle meine Nebenmenschen, nicht zu allen Zeiten, auch nicht unter allen Umständen zum besten anwenden; und da ich schuldig bin, von meinen Kräften den bestmöglichsten Gebrauch zu machen, so kommt es auf die Auswahl und nähere Bestimmung an, wie viel von dem Meinigen ich zum Wohlwollen bestimmen soll? Gegen wen? Zu welcher Zeit, und unter welchen Umständen?

Wer soll dieses entscheiden? Wer die Kollisionsfälle schlichten? — Nicht mein Nächster, denn ihm sind nicht alle Gründe gegeben, aus welchen der Streit der Pflichten entschieden werden muss. Zu dem würde jeder andere eben das Recht haben, und wenn von meinen Nebenmenschen jeder zu seinem Vorteil entscheiden sollte, wie wahrscheinlicherweise geschehen dürfte, so wäre die Verlegenheit nicht gehoben.

Mir, und mir allein, kommt also im Stande der Natur das Entscheidungsrecht zu, ob und wie viel, wenn, wem und unter welchen Bedingungen ich zum Wohltun verbunden bin? Und ich kann im Stande der Natur durch keine Zwangsmittel, zu keinerlei Zeit, zum Wohltun angehalten werden. Meine Pflicht wohl zu tun, ist bloß Gewissenspflicht, davon ich äußerlich niemand Rechenschaft zu geben habe, sowie mein Recht auf anderer Wohltun bloß ein Recht zu bitten ist, das abgewiesen werden kann. — Im Stande der Natur sind alle positiven Pflichten der Menschen gegeneinander bloß unvollkommene Pflichten, sowie ihre positiven Rechte aufeinander bloß unvollkommene Rechte, keine Pflichten, die erpresst werden können, keine Rechte, die Zwang erlauben. — Bloß die Unterlassungspflichten und Rechte sind im Stande der Natur vollkommen. Ich bin vollkommen verpflichtet, niemand zu schaden, und vollkommen berechtigt, zu verhindern, dass niemand mir schade. Schaden aber heißt, wie bekannt, wider das vollkommene Recht eines anderen handeln.

Man könnte zwar glauben, die Pflicht zur Entschädigung sei eine positive Pflicht, zu der der Mensch auch im Stande der Natur verbunden ist. Wenn ich meinem Nächsten Schaden zugefügt habe, so bin ich, ohne allen Vertrag, bloß nach den Gesetzen der natürlichen Gerechtigkeit, auch äußerlich verpflichtet, ihm solchen zu ersetzen und kann von ihm mit Gewalt dazu angehalten werden.

Allein die Entschädigung ist zwar eine positive Handlung; die Verbindlichkeit aber zu derselben fließt im Grunde aus der Unterlassungspflicht; beleidige nicht! denn der Schaden, den ich meinem Nächsten zugefügt habe, ist, solange er seiner Wirkung nach nicht aufgehoben wird, als eine fortgesetzte Beleidigung anzusehen. Ich handele also eigentlich wider eine negative Pflicht, solange ich die Entschädigung unterlasse, denn ich fahre fort zu beleidigen. Die Entschädigungspflicht macht also keine Ausnahme von der Regel, dass der Mensch im Stande der Natur unabhängig, das ist niemand positiv verpflichtet sei. Niemand hat ein Zwangsrecht mir vorzuschreiben, wie viel ich von meinen Kräften zum Besten anderer anwenden und wem ich die Wohltat davon angedeihen lassen soll. Auf mein Gutdünken allein muss es ankommen, nach welcher Regel ich die Kollisionsfälle entscheiden will.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum