Theorie der Rechte, Pflichten und Verträge, die Anwendung auf den Unterschied zwischen Staat und Kirche

Lasst uns von dieser Theorie der Rechte, Pflichten und Verträge die Anwendung auf den Unterschied zwischen Staat und Kirche machen, davon wir ausgegangen sind. Beide, Staat und Kirche, haben sowohl Handlungen, als Gesinnungen zu ihrem Gegenstande: jene insoweit sie sich auf Verhältnisse zwischen Mensch und Natur, diese insoweit sie sich auf Verhältnisse zwischen Natur und Gott gründen. Die Menschen bedürfen einander, hoffen und versprechen, erwarten und leisten einer dem anderen Dienst und Gegendienst. Die Vermischung von Überfluss und Mangel, Kraft und Bedürfnis, Eigensucht und Wohlwollen, die ihnen die Natur gegeben, treibt sie an, in gesellschaftliche Verbindung zu treten, um ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen weiteren Spielraum zu verschaffen. Jedes Individuum ist verbunden, einen Teil seiner Fähigkeiten und der dadurch erworbenen Rechte, zum Besten der verbundenen Gesellschaft anzuwenden; aber welchen? wenn? und zu welchem Endzwecke? — An und für sich sollte dieses nur der bestimmen, der leisten soll. Man kann aber auch für gut finden, auf dieses Recht der Unabhängigkeit durch einen gesellschaftlichen Vertrag Verzicht zu tun, und durch Positivgesetze diese unvollkommene Pflichten in vollkommene verwandeln, das ist man kann die näheren Bestimmungen verabreden und festsetzen, wie viel jedes Mitglied von seinen Rechten zum Nutzen der Gesellschaft zu verwenden, soll gezwungen werden können. Der Staat, oder die den Staat vorstellen, werden als eine moralische Person betrachtet, die über diese Rechte zu schalten hat. Der Staat hat also Rechte und Gerechtsame auf Güter und Handlungen der Menschen. Er kann nach dem Gesetze geben und nehmen, vorschreiben und verbieten, und weil es ihm auch um Handlung als Handlung zu tun ist, bestrafen und belohnen. Der Pflicht gegen meinen Nächsten geschieht äußerlich Genüge, wenn ich ihm leiste, was ich soll; meine Handlung mag erzwungen oder freiwillig sein. Kann nun der Staat nicht durch innere Triebfedern wirken, und dadurch für mich mit sorgen, eo wirkt er wenigstens durch äußere, und verhilft meinem Nächsten zu dem Seinigen. Nicht also die Kirche! Sie beruht auf dem Verhältnis zwischen Gott und Menschen. Gott ist kein Weben, das unseres Wohlwollens bedarf, unseren Beistand fordert, auf irgendeines von unseren Rechten zu seinem Gebrauch Anspruch macht, oder dessen Rechte mit den unserigen je in Streit und Verwirrung geraten können. Auf diese irrigen Begriffe hat die in mancher Betrachtung unbequeme Einteilung der Pflichten gegen Gott und Pflichten gegen die Menschen, führen müssen. Man hat die Parallele zu weit gezogen. Gegen Gott — gegen Menschen — dachte man. So wie wir aus Pflicht gegen unseren Nächsten etwas von dem Unsrigen aufopfern und hingeben, so auch aus Pflicht gegen Gott. Die Menschen fordern Dienst, so auch Gott. Die Pflicht gegen mich selbst kann mit der Pflicht gegen meinen Nächsten in Streit und Gegenstoß geraten; eben also die Pflicht gegen mich selbst, mit der Pflicht gegen Gott. — Niemand wird sich ausdrücklich dazu verstehen, wenn ihm diese ungereimten Sätze in trockenen Worten vorgehalten werden, und gleichwohl hat jedermann mehr oder weniger davon gleichsam eingesogen, und seine inneren Säfte damit angesteckt. Aus dieser Quelle flössen alle ungerechten Anmaßungen, die sich sogenannte Diener der Religion, unter dem Namen der Kirche, von jeher erlaubt. Alle Gewalttätigkeit und Verfolgung, die sie ausgeübt, aller Zwist und Zwiespalt, Meuterei und Aufruhr, die sie angezettelt haben, und alle Übel, die von jeher unter dem Scheine der Religion, von ihren grimmigsten Feinden, von Heuchelei und Menschenfeindschaft, ausgeübt worden, sind einzig und allein Früchte dieser armseligen Sophisterei; eines vorgespiegelten Konfliktes zwischen Gott und Menschen, Rechten der Gottheit und Rechten des Menschen.

Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten die gegen Gott keine besondere Abteilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott uns seltne vernünftig lieben, seine Geschöpfe lieben; so wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben.


Das System unserer Pflichten hat ein doppeltes Prinzipium; das Verhältnis zwischen Menschen und Natur, und das Verhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer. Jenes ist Moralphilosophie, dieses Religion, und demjenigen, der von der Wahrheit überführt ist, dass die Naturverhältnisse nichts anderes sind, als Äußerungen des göttlichen Willens, dem fallen auch diese beiden Prinzipien ineinander, dem ist Sittenlehre der Vernunft heilig, wie Religion. Auch heischt die Religion, oder das Verhältnis zwischen Gott und Menschen keine anderen Pflichten; sondern gibt jenen Pflichten und Obliegenheiten nur erhabenere Sanktion. Gott bedarf unseres Beistandes nicht; verlangt keinen Dienst von uns *), keine Aufopferung unserer Rechte zu seinem Besten, keinen Verzicht auf unsere Unabhängigkeit zu seinem Vorteil. Seine Rechte können mit den unserigen nie in Streit und Irrung kommen. Er will nur unser Bestes, eines jeden einzelnen Bestes, und dieses muss ja mit sich selbst bestehen, kann sich ja selbst nicht widersprechen. —

*) Die Wörter Dienst, Ehre u. a. haben in Beziehung auf Gott eine ganz andere Bedeutung, als in Beziehung auf Menschen. Gottesdienst ist nicht Dienst, den ich Gott erzeige, Ehre Gottes nicht Ehre, die ich Gott antue. Man hat, um die Worte zu retten, ihre Bedeutung geändert. Der gemeine Mann aber klebt noch immer an der ihm gewöhnlichen Bedeutung, und hängt noch immer fest an seinem Sprachgebrauch, woraus in Religionssachen viele Verwirrungen entstanden sind.

Alle diese Gemeinörter sind so trivial, dass der gesunde Menschenverstand sich wundert, wie man je hat anderer Meinung sein können; und gleichwohl haben die Menschen von jeher wider diese einleuchtenden Grundsätze gehandelt; und wohl ihnen! wenn sie im Jahre 2240 aufhören werden, dawider zu handeln.

Die nächste Folge aus diesen Maximen ist, wie mich dünkt, offenbar, dass die Kirche kein Recht habe auf Gut und Eigentum, keinen Anspruch auf Beitrag und Verzicht; dass ihre Gerechtsame mit den unserigen niemals in Irrung geraten, dass also zwischen Kirche und Bürger nie Kollisionsfälle vorkommen können. Ist aber dieses, so findet auch zwischen Kirche und Bürger kein Vertrag statt; denn alle Verträge setzen Kollisionsfälle voraus, die zu entscheiden sind. Wo keine unvollkommene Rechte statthaben, entstehen keine Kollisionen der Ansprüche, und wo nicht Ansprüche gegen Ansprüche entschieden werden sollen, da ist Vertrag ein Unding.

Alle menschliche Verträge haben also der Kirche kein Recht auf Gut und Eigentum beilegen können, da sie ihrem Wesen nach auf keins derselben Anspruch machen, oder ein unvollkommenes Recht haben kann. Ihr kann also niemals ein Zwangsrecht zukommen, und den Mitgliedern kann keine Zwangspflicht gegen dieselbe aufgelegt werden. Alle Rechte der Kirche sind Vermahnen, Belehren, Stärken und Trösten, und die Pflichten der Bürger gegen die Kirche sind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz *). So hat auch die Kirche kein Recht Handlungen zu belohnen oder zu bestrafen. Die bürgerlichen Handlungen gehören dem Staat, und die eigentlichen religiösen Handlungen leiden, ihrer Natur nach, weder Zwang noch Bestechung. Sie fließen entweder aus freiem Antriebe der Seele, oder sind ein leeres Spiel, und dem wahren Geiste der Religion zuwider.

*) Der Psalmist singt:

Dir gefällt nicht Opfer, nicht Geschenk.
Ohren hast du mir gegraben!
(Ps. 40, 7.)


Wenn aber die Kirche kein Eigentum hat, wer besoldet die Lehrer der Religion? Wer lohnet die Prediger der Gottesfurcht ? — Religion und Sold — Lehren der Tugend und Bezahlung — Predigten der Gottesfurcht und Lohn. Die Begriffe scheinen sich einander zu fliehen.

Was verspricht sich der Lehrer der Weisheit und Tugend für Wirkung, sobald er bezahlt wird, und den Meistbietenden feil ist ? Was der Prediger der Gottesfurcht für Eindruck, wenn er nach Lohn ausgehet ? — Siehe, ich lehre euch Gesetze und Rechte, so wie mich der Ewige mein Gott usw. (V. B. M. C. 4, 5.) So wie mich mein Gott; erklären die Rabbinen, wie er mich, ohne Entgelt; so ich euch, und so auch ihr die Eurigen. Bezahlen, Lohnen, ist für diese erhabene Beschäftigung so unnatürlich mit der Lebensart, welche diese Beschäftigung erfordert, so unvereinbar, dass die mindeste Anhänglichkeit an Gewinnen und Erwerben diesen Stand zu erniedrigen scheint. Das Verlangen nach Reichtum, das man jedem anderen Stande gern zugute hält, scheint uns bei diesem Geiz und Habsucht, oder artet bei Männern, die sich diesem edlen Geschäfte widmen, wirklich gar bald in Geiz und Habsucht aus, weil es ihrem Berufe so widernatürlich ist. Höchstens kann ihnen Entschädigung für Zeitversäumnis eingeräumt werden, und diese auszumitteln und zu erteilen, ist ein Geschäft des Staats, nicht der Kirche. Was hat die Kirche mit Dingen zu schaffen, die feil sind, bedungen und bezahlt werden ? Die Zeit macht einen Teil von unserem Vermögen aus, und wer sie zum gemeinen Besten anwendet, darf hoffen, aus dem gemeinen Schatze dafür entschädigt zu werden. Die Kirche lohnt nicht, die Religion kauft nichts, bezahlt nichts, gibt keinen Sold.

Dieses sind, meinem Bedünken nach, die Grenzen zwischen Staat und Kirche, insoweit sie auf die Handlungen der Menschen Einfluss haben. In Absicht auf Gesinnungen treten sie schon etwas näher zusammen; denn hier hat der Staat keine anderen Wirkungsmittel, als die Kirche. Beide müssen unterrichten, belehren, aufmuntern, veranlassen; aber weder belohnen, noch bestrafen; weder zwingen noch bestechen; denn auch der Staat hat durch keinen Vertrag das mindeste Zwangsrecht über Gesinnungen erlangen können. Überhaupt kennen die Gesinnungen der Menschen kein Wohlwollen, leiden keinen Zwang. Ich kann auf keine meiner Gesinnungen, als Gesinnung betrachtet, aus Liebe zu meinem Nächsten Verzicht tun; kann ihm keinen Anteil an meiner Urteilskraft aus Wohlwollen überlassen und abtreten, und ebenso wenig ein Recht auf seine Gesinnungen mir anmaßen, oder auf irgendeine Weise erwerben. Das Recht auf unsere eigene Gesinnungen ist unveräußerlich, kann nicht von Person zu Person wandern; denn es gibt und nimmt keinen Anspruch auf Vermögen, Gut und Freiheit. Daher das mindeste Vorrecht, das ihr euern Religions- und Gesinnungsverwandten öffentlich einräumt, eine indirekte Bestechung; die mindeste Freiheit, die ihr den Dissidenten entzieht, eine indirekte Bestrafung zu nennen ist, und im Grunde dieselbe Wirkung hat, als eine direkte Belohnung des Einstimmens, und Bestrafung des Widerspruchs. Es ist armseliges Blendwerk, wenn in einigen Lehrbüchern des Kirchenrechts so sehr auf den Unterschied zwischen Belohnung und Vorrecht, Bestrafung und Einschränkung gedrungen wird. Den Sprachforschern kann diese Bemerkung nützlich sein; allein dem Elenden, der die Rechte der Menschheit entbehren muss, weil er nicht sagen kann: ich glaube, wo er nicht glaubt; nicht mit dem Munde Muselmann und im Herzen Christ sein will, dem bringt diese Distinktion nur leidigen Trost. Und welches sind die Grenzen der Vorrechte auf der einen, und der Einschränkung auf der anderen Seite ? Mit einer mäßigen Gabe von Dialektik erweitert man diese Begriffe, und dehnt sie so lange aus, bis sie auf der einen Seite bürgerliche Glückseligkeit, auf der anderen Unterdrückung, Verbannung und Elend werden *).

*) Ein Kollegium von gelehrten und angesehenen Männern, in einem übrigens ziemlich duldsamen Staate, ließ vor einiger Zeit gewisse Dissidenten für die Approbation doppelte Gebühren bezahlen, und als sie von der Obrigkeit deswegen zur Rede gestellt wurden, war die Entschuldigung, jene wären doch überall im bürgerlichen Leben deterioris Conditionis. Das Sonderbarste ist, dass es bis auf den heutigen Tag bei der Erhöhung der Gebühren geblieben sein soll.

Furcht und Hoffnung wirken auf den Begehrungstrieb der Menschen; Vernunftgründe auf sein Erkenntnisvermögen. Ihr ergreifet die unrechten Mittel, wenn ihr die Menschen durch Furcht und Hoffnung zur Annahme oder zur Verwerfung gewisser Lehrsätze führen wollt. Ja, wenn auch dieses geradezu eure Absicht nicht ist, so hindert ihr selbst doch eure besseren Absichten, wenn ihr Furcht und Hoffnung nicht so weit zu entfernen sucht, als nur immer möglich ist. Ihr bestechet und verführt euer eigenes Herz, oder euer Herz hat euch verführt, wenn ihr glaubt, Prüfung der Wahrheit könne bestehen, Freiheit der Untersuchung bleibe ungekränkt, wenn hier Stand und Würden, dort Verachtung und Dürftigkeit die Untersuchenden erwarten. Vorstellung des Guten und Bösen sind Werkzeug für den Willen; der Wahrheit und Unwahrheit für den Verstand. Wer auf den Verstand wirken will, lege jenes Werkzeug zuvörderst aus der Hand, sonst ist er in Gefahr, wider seinen eigenen Vorsatz, auszuglätten, wo er durchschneiden; zu befestigen, wo er einreißen soll.

Was wird also der Kirche für eine Regierungsform anzuraten sein? — keine! — Wer soll entscheiden, wenn in Religionssachen Streitigkeiten entstehen ? — Wem Gott die Fähigkeit gegeben, zu überzeugen. Was soll Regierungsform, wo nichts zu regieren ist; Obrigkeit, wo niemand Untertan sein darf; Richteramt, wo keine Rechte und Ansprüche zu entscheiden vorkommen ? Weder Staat noch Kirche sind in Religionssachen befugte Richter; denn die Glieder der Gesellschaft haben ihnen durch keinen Vertrag dieses Recht einräumen können. Der Staat hat zwar von ferne darauf zu sehen, dass keine Lehren ausgebreitet werden, mit denen der öffentliche Wohlstand nicht bestehen kann; die wie Atheisterei und Epikurismus den Grund untergraben, auf welchem die Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens beruht. Plutarch und Bayle mögen immer untersuchen: ob ein Staat bei der Atheisterei nicht besser bestehen könne, als beim Aberglauben? mögen immer die Plagen berechnen und vergleichen, die dem menschlichen Geschlechte aus diesen verschiedenen Quellen des Elends bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Im Grunde heißt dieses nichts anderes, als untersuchen: ob ein schleichendes oder ein hitziges Fieber tödlicher sei? Seinen Freunden wird man gleichwohl keines von beiden anwünschen. So wird eine jede bürgerliche Gesellschaft wohltun, wenn sie keines von beiden, weder Fanatismus noch Atheisterei Wurzel schlagen und sich ausbreiten lässt. Der Staatskörper siecht und ist elend, er mag vom Krebsschaden aufgerieben, oder von Fieberhitze verzehrt werden.

Aber nur von ferne her muss der Staat hierauf Rücksicht nehmen, und selbst die Lehren nur mit weiser Mäßigung begünstigen, auf welchen seine wahre Glückseligkeit beruht, ohne sich unmittelbar in irgendeine Streitigkeit zu mischen, und durch Autorität entscheiden zu wollen; denn er handelt offenbar wider seinen eigenen Endzweck, wenn er geradezu Untersuchung verbietet, oder Streitigkeiten anders als durch Vernunftgründe entscheiden lässt. Auch hat er sich nicht um alle Grundsätze zu bekümmern, die eine herrschende oder beherrschte Dogmatik annimmt oder verwirft. Die Rede ist nur von jenen Hauptgrundsätzen, in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist. Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborene Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerei, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Tor sich placke, und der Kluge sich gütlich tun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne.

Kaum wird es nötig sein, noch die Frage zu berühren: ob es erlaubt sei, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubenslehren zu beeidigen? Auf welche sollte dies geschehen? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorhin gesprochen worden, können durch keine Eidschwüre bekräftigt werden. Ihr müsst dem Schwörenden auf sein Wort glauben, dass er sie annimmt; oder sein Eid ist ein leerer Schall; Worte, die er in die Luft stößt, ohne dass sie ihn mehr Überwindung kosten, als eine bloße Versicherung; denn alles Zutrauen zu Eidschwüren, und das ganze Ansehen derselben beruht ja bloß auf diesen Grundlehren der Sittlichkeit. Sind es aber besondere Artikel dieser oder jener Religion, die ich beschwören oder abschwören soll; sind es Grundsätze, ohne welche Tugend und Wohlstand unter den Menschen bestehen können, und wenn sie auch nach der Meinung des Staats oder der Personen, die den Staat vorstellen, zu meinem ewigen Heile noch so notwendig sind; so frage ich: was hat der Staat für Recht in das Innerste der Menschen so zu wühlen, und sie zu Geständnissen zu zwingen, die der Gesellschaft weder Trost noch Frommen bringen? Eingeräumt hat ihm dieses nicht werden können; denn hier fehlen alle Bedingnisse des Vertrags, die im vorhergehenden ausgeführt worden. Es betrifft keines von meinen entbehrlichen Gütern, das ich meinem Nächsten überlassen soll; es betrifft keinen Gegenstand des Wohlwollens; und Kollisionsfälle können dabei zur Entscheidung nicht vorkommen. Wie kann sich aber der Staat eine Befugnis anmaßen, die durch keinen Vertrag eingeräumt, durch keine Willenserklärung von Person zu Person wandern und übertragen werden kann? Lasst uns indessen zum Überflusse untersuchen: ob überall Beeidigung über Glauben und Nichtglauben ein reeller Begriff sei? Ob die Meinungen der Menschen überhaupt, ihr Beistimmen und Nichtbeistimmen in Absicht auf Vernunftsätze, ein Gegenstand sind, über welche sie beeidigt werden können?

Eidschwüre erzeugen keine neuen Pflichten. Die feierlichste Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit gibt und nimmt kein Recht, das nicht ohne dieselbe schon dagewesen; legt dem Anrufenden auch keine Verbindlichkeit auf, die ihm nicht auch ohne dieselbe obliegt. Sie dienen bloß, das Gewissen der Menschen, wenn es etwa eingeschläfert sein sollte, aufzuwecken; und auf das aufmerksam zu machen, was der Wille des Weltrichters schon so von ihm fordert. Die Eidschwüre sind also eigentlich weder für den gewissenhaften Mann, noch für den entschlossenen Taugenichts. Jener muss ohnehin wissen, muss ohne Eid und Fluch von der Wahrheit innigst durchdrungen sein, dass Gott Zeuge sei, nicht nur aller Worte und Aussagen, sondern aller Gedanken und geheimsten Regungen des Menschen, und dass er die Übertretung seines allerheiligsten Willens nicht ungeahndet lasse; — und der entschlossene, gewissenlose Bösewicht?

Der fürchtet keine Götter,
Der keines Menschen schont.


Also bloß für den gemeinen Mittelschlag von Menschen, oder im Grunde für jeden von uns, insoweit wir alle, soviel unserer sind, in so manchen Fällen zu dieser Klasse zu zählen sind; für die schwachen, unschlüssigen und schwankenden Menschen, die Grundsätze haben, und sie nicht immer befolgen; die träge und lässig sind zum Guten, das sie erkennen und einsehen; die ihrer Laune nachgeben, einer Schwachheit zu gefallen, aufschieben, bemänteln, Entschuldigung suchen, und mehrenteils zu finden glauben. Sie wollen und haben die Festigkeit nicht, ihrem Willen treu zu bleiben. Diesen muss der Wille gestählt, das Gewissen rege gemacht werden. Der jetzt vor Gericht leugnet, besitzt vielleicht fremdes Gut, ohne die entschlossene Bosheit, ungerecht sein zu wollen. Er kann solches verzehrt, oder haben von Händen kommen lassen, und will vorjetzt durch das Ableugnen nur Zeit gewinnen; und so wird vielleicht der gute Geist, der für die Gerechtigkeit in ihm kämpft, von Tag zu Tag abgewiesen, bis er ermüdet und unterliegt. Man muss ihm also zu Hilfe eilen, und erstlich den Fall, der Aufschub leidet, in eine Handlung verwandeln, die jetzt geschieht, wo der Augenblick entscheidend ist, und alle Entschuldigung wegfällt; sodann aber auch alle Feierlichkeit aufbieten, alle die Kraft und den Nachdruck zusammennehmen, mit welchen die Erinnerung an Gott, den allgerechten Rächer und Vergelter, auf das Gemüt wirken kann.

Dieses ist die Bestimmung des Eides, und hieraus, dünkt mich, sei offenbar, dass man die Menschen nur über Dinge beschwören müsse, die in die äußeren Sinne fallen; davon sie mit der Überzeugung, welche die Evidenz der äußeren Sinne mit sich führt, die Wahrheit behaupten und aussagen können: ich habe gehört, gesehen, gesprochen, empfangen, gegeben, oder nicht gehört usw. Man bringt aber ihr Gewissen auf eine grausame Folter, wenn man sie über Dinge befragt, die bloß für den inneren Sinn gehören. Glaubst du? Bist du überführt? überredet? dünkt es dir? Ist irgend in einem Winkel deines Geistes oder deines Herzens noch einiger Zweifel zurück, so zeige an, oder Gott wird den Mißbrauch seines Namens rächen. — Um des Himmels willen, schonet der zarten, gewissenhaften Unschuld! Und wenn sie einen Satz aus dem ersten Buche des Euklides zu behaupten hätte, so müsste sie in diesem Augenblicke zagen, und unaussprechliche Marter leiden.

Die Wahrnehmungen des inneren Sinnes sind an und für sich selbst selten so handgreiflich, dass der Geist sie mit Sicherheit festhalten, und so oft es verlangt wird, von sich geben könne. Sie entschlüpfen ihm zuweilen, indem er sie zu fassen glaubt. Wovon ich jetzt versichert zu sein glaube, darüber schleicht oder stiehlt sich in dem nächsten Augenblicke ein kleiner Zweifel ein, und lauert in einer Falte meiner Seele, ohne dass ich ihn gewahr worden. Viele Behauptungen, über die ich heute zum Märtyrer werden möchte, können mir morgen vielleicht problematisch vorkommen. Soll ich diese inneren Wahrnehmungen gar durch Worte und Zeichen von mir geben, oder auf Worte und Zeichen schwören, die andere Menschen mir vorlegen; so ist die Unsicherheit noch weit größer. Ich und mein Nächster, wir können unmöglich mit eben denselben Worten eben dieselben inneren Empfindungen verbinden; denn wir können diese nicht anders gegeneinanderhalten, miteinander vergleichen und berichtigen, als wiederum durch Worte. Wir können die Worte nicht durch Sachen erläutern, sondern müssen wiederum zu Zeichen und Worten unsere Zuflucht nehmen, und am Ende zu Metaphern, weil wir, durch Hilfe dieses Kunstgriffs, die Begriffe des inneren Sinnes auf äußere sinnliche Wahrnehmungen gleichsam zurückführen. Was für Verwirrung und Undeutlichkeit muss aber nicht auf solche Weise in der Bedeutung der Worte zurückbleiben, und wie sehr müssen die Ideen verschieden sein, die verschiedene Menschen, in verschiedenen Zeiten und Jahrhunderten, mit denselben äußerlichen Zeichen und Worten verbinden?

Wer du auch seiest, lieber Leser! so beschuldige mich hier nicht der Zweifelsucht oder der bösen List, dich zum Skeptizisten machen zu wollen. Ich bin vielleicht einer von denjenigen, die am weitesten von dieser Krankheit der Seele entfernt sind, und sie an allen ihren Nebenmenschen kurieren zu können, am sehnlichsten wünschen. Aber eben deswegen, weil ich diese Kur so oft an mir selbst verrichtet, und an anderen versucht habe, bin ich gewahr geworden, wie schwer sie sei, und wie wenig man den Erfolg in Händen habe. Mit meinem besten Freunde, mit dem ich noch so einhellig zu denken glaubte, konnte ich mich sehr oft über Wahrheiten der Philosophie und Religion nicht vereinigen. Nach langem Streit und Wortwechsel ergab sich zuweilen, dass wir mit denselben Worten jeder andere Begriffe verbunden hatten. Nicht selten dachten wir einerlei, und drückten uns nur verschiedentlich aus; aber ebenso oft glaubten wir übereinzustimmen, und waren in Gedanken noch weit voneinander entfernt. Gleichwohl waren wir beiderseits im Denken nicht ungeübt, gewohnt, mit abgesonderten Begriffen umzugehen, und beiden schien es um die Wahrheit im Ernst, mehr um sie, als ums Rechthaben zu tun zu sein. Dem ungeachtet mussten sich unsere Begriffe lange Zeit aneinanderreiben, bevor sie ineinander sich wollten fügen lassen; bevor wir mit einiger Zuverlässigkeit sagen konnten: hierin kommen wir überein! O! wer diese Erfahrung in seinem Leben gehabt hat, und noch intolerant sein, noch seinen Nächsten hassen kann, weil dieser in Religionssachen nicht denkt, oder sich nicht so ausdrückt wie er, den möchte ich nie zum Freunde haben; denn er hat alle Menschheit ausgezogen.

Und ihr, Mitmenschen! Ihr nehmt einen Mann, mit dem ihr euch vielleicht niemals über dergleichen Dinge besprochen habt, ihr legt ihm die subtilsten Sätze der Metaphysik und Religion, wie sie vor Jahrhunderten in Worte eingekleidet worden sind, in sogenannten Symbolen vor; ihr lasst ihm bei jenem allerheiligsten Namen beteuern, dass er bei diesen Worten ebenso denkt, wie ihr, und beide ebenso, wie jener, der sie vor Jahrhunderten niedergeschrieben hat; beteuern, dass er diese Sätze von ganzem Herzen annehme, und an keinem derselben Zweifel hege; mit dieser beschworenen Übereinstimmung verbindet ihr Amt und Würden, Macht und Einfluss, deren Reizung gar wohl fähig ist, so manchen Widerspruch zu heben, so manchen Zweifel zu unterdrücken, und wenn sich denn am Ende hervortut, dass es so nicht ist mit des Mannes Überzeugung, wie er vorgegeben; so beschuldigt ihr ihn des grässlichsten aller Verbrechen, ihr klagt ihn des Meineides an und lasset erfolgen, was auf diese Untat erfolgen soll. Ist hier die Schuld nicht, am gelindesten davon zu urteilen, auf beiden Seiten gleich?

„Ja!“ sprechen die Billigsten unter euch, „wir beeidigen nicht auf den Glauben. Wir lassen dem Gewissen seine Freiheit, und beschwören den Mitbürger nur, den wir mit einem Amte bekleiden, dass er dieses Amt, welches ihm, unter der Bedingung der Übereinstimmung anvertraut wird, nicht ohne Übereinstimmung annehme. Dieses ist ein Vertrag, den wir mit ihm eingehen. Finden sich nachher Zweifel, die diese Übereinstimmung aufheben, so steht es ja bei ihm, seinem Gewissen treu zu sein, und das Amt niederzulegen. Welche Gewissensfreiheit, welche Rechte der Menschheit erlauben, wider einen Vertrag zu handeln?“

Nun wohl! Ich will diesem Schein von Gerechtigkeit nicht alle die Gründe entgegensetzen, die nach oben ausgeführten augenscheinlichen Grundsätzen, entgegengesetzt werden können. Wozu unnötige Wiederholungen? Aber um der Menschheit willen! Bedenket den Erfolg, den diese Einrichtung bisher unter den gesittesten Menschenkindern gehabt hat. Zählt die Männer alle, die eure Lehrstühle und eure Kanzeln besteigen, und so manchen Satz, den sie bei der Übernehmung ihres Amts beschworen, in Zweifel ziehen; die Bischöfe alle, die im Oberhause sitzen; die wahrhaftig großen Männer alle, die in England Amt und Würden begleiten, und jene 39 Artikel, die sie beschworen, nicht mehr so unbedingt annehmen, als sie ihnen vorgelegt worden. Zählet sie, und sagt alsdann noch, man könne meiner unterdrückten Nation keine bürgerliche Freiheit einräumen, weil so viele unter ihnen die Eide gering achteten! — Ach! Gott bewahre mein Herz vor menschenfeindlichen Gedanken! Sie könnten bei dieser traurigen Betrachtung gar leicht überhandnehmen.

Nein! Aus Achtung für die Menschheit bin ich vielmehr überredet, alle diese Männer erkennen das nicht für Meineid, was man ihnen unter diesem Namen Schuld gibt. Die gesunde Vernunft sagt ihnen vielleicht, dass niemand, weder Staat noch Kirche, ein Recht gehabt, sie über Glaubenssachen zu beeidigen; weder Staat noch Kirche ein Recht gehabt, mit dem Glauben und Schwören auf gewisse Sätze, Amt, Ehre und Würden zu verbinden, oder den Glauben an gewisse Sätze zur Bedingung zu machen, unter welchen diese verliehen werden. Eine solche Bedingung, glauben sie vielleicht, sei an und für sich null, weil sie niemanden zum besten gereicht; weil keines Menschen Recht und Eigentum darunter leidet, wenn sie gebrochen wird *). Wenn also, wie sie nicht in Abrede sein können. Böses getan worden ; so sei es damals geschehen, als ihnen die versprochenen Vorteile einen so unzulässigen Eid abgelockt haben. Diesem Übel sei aber nunmehr nicht abzuhelfen; am wenigsten durch das Niederlegen ihres auf diese Weise erlangten Amts abzuhelfen. Damals habe man, um erlaubte irdische Vorteile zu erhalten, freilich auf eine vor Gott unverantwortliche Weise, sich seines allerheiligsten Namens bedient; allein dieses Geschehene wird dadurch nicht ungeschehen, wenn sie jetzt auf die Früchte Verzicht tun, die sie davon genießen; ja die Unordnung, das Ärgernis und andere böse Folgen, die das Aufgeben ihres Amts, verbunden mit einem öffentlichen Bekenntnis ihrer Abweichung, nach sich ziehen dürfte, könnte das Übel nur vermehren. Es sei also allen ihren Mitmenschen, sowohl als ihnen selbst und den Ihrigen besser geraten, wenn sie es dabei bewenden lassen, und fortfahren, den Staaten und der Kirche die Dienste zu leisten, zu welchen ihnen die Vorsehung Trieb und Fähigkeit verliehen. Hierin liege ihr Beruf zur öffentlichen Bedienung, nicht in ihrer Gesinnung in Absicht auf ewige Wahrheiten und Vernunftsätze, die im Grunde nur sie selbst und keinen ihrer Nebenmenschen angeht. — Wenngleich mancher zu gewissenhaft ist, sein Glück solchen überfeinen Entschuldigungsgründen zu verdanken zu haben, so sind doch auch diejenigen nicht völlig zu verdammen, die schwach genug sind, ihnen nachzugeben; wenigstens ist es nicht Meineid, sondern menschliche Schwachheit, die ich Männern von ihrem Werte möchte zuschulden kommen lassen.

*) Eine Bedingung nämlich ist gültig und bindet den Vertrag, wenn eine Möglichkeit zu erdenken, unter welcher sie in Bestimmung der Kollisionsfälle hat Einfluss haben können. Meinungen aber können nicht anders als durch ein irriges Gewissen mit äußerlichen Vorteilen in Verbindung gebracht werden, und ich zweifle, ob sie je eine rechtskräftige Bedingung machen können.

Zum Beschlüsse dieses Abschnitts will ich das Resultat wiederholen, auf das mich meine Betrachtungen geführt haben.

Staat und Kirche haben zur Absicht, die menschliche Glückseligkeit in diesem und jenem Leben, durch öffentliche Vorkehrungen, zu befördern.

Beide wirken auf Gesinnung und Handlung der Menschen, auf Grundsätze und Anwendung: der Staat, vermittels solcher Gründe, die auf Verhältnissen zwischen Mensch und Mensch, oder Mensch und Natur, und die Kirche, die Religion des Staats, vermittels solcher Gründe, die auf Verhältnissen zwischen Mensch und Gott beruhen. Der Staat behandelt den Menschen als unsterblichen Sohn der Erde; die Religion als Ebenbild seinem Schöpfers.

Grundsätze sind frei. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Bestechung. Sie gehören für das Erkenntnisvermögen des Menschen, und müssen nach dem Richtmaß von Wahrheit und Unwahrheit entschieden werden. Gutes und Böses wirkt auf seine Billigungs- und Missbilligungsvermögen. Furcht und Hoffnung lenken seine Triebe. Belohnung und Strafe richten seinen Willen, spornen seine Tatkraft, ermuntern, locken, schrecken ab.

Aber wenn Grundsätze glückselig machen sollen, so müssen sie weder eingeschreckt, noch eingeschmeichelt, so muss bloß das Urteil der Verstandeskräfte für gültig angenommen werden. Ideen vom Guten und Bösen mit einmischen, heißt die Sachen von einem unbefugten Richter entscheiden lassen.

Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht, die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgendeinem Zwange zu unterwerfen. Weder Kirche noch Staat sind berechtigt, mit Grundsätzen und Gesinnungen Vorzüge, Rechte und Ansprüche auf Personen und Dinge zu verbinden, und den Einfluss, den die Wahrheitskraft auf das Erkenntnisvermögen hat, durch fremde Einmischung zu schwächen.

Selbst der gesellschaftliche Vertrag hat weder dem Staate noch der Kirche ein solches Recht einräumen können. Denn ein Vertrag über Dinge, die ihrer Natur nach unveräußerlich sind, ist an und für sich ungültig, hebt sich von selbst auf.

Auch die heiligsten Eidschwüre können hier die Natur der Sachen nicht verändern. Eidschwüre erzeugen keine neuen Pflichten, sind bloß feierliche Bekräftigungen desjenigen, wozu wir ohnehin, von Natur oder durch Vertrag, verpflichtet sind. Ohne Pflicht ist der Eidschwur eine leere Anrufung Gottes, die lästerlich sein kann, aber an und für sich zu nichts verbindet.

Zudem können die Menschen nur dasjenige beeidigen, was die Evidenz der äußeren Sinne hat, was sie gesehen, gehört, betastet haben. Wahrnehmungen des inneren Sinnes sind keine Gegenstände der Eidesbekräftigung.

Alles Beschwören und Abschwören in Absicht auf Grundsätze und Lehrmeinungen sind diesem nach unzulässig, und wenn sie geleistet worden, so verbinden sie zu nichts, als zur Reue, über den sträflich begangenen Leichtsinn. Wenn ich jetzt eine Meinung beschwöre, so bin ich Augenblicks darauf nichtsdestoweniger frei, sie zu verwerfen. Die Untat eines vergeblichen Eides ist begangen, wenn ich sie auch beibehalte; und Meineid ist nicht geschehen, wenn ich sie verwerfe.

Man vergesse nicht, dass nach meinen Grundsätzen der Staat nicht befugt sei, mit gewissen bestimmten Lehrmeinungen, Besoldung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden. Was das Lehramt betrifft, so ist es seine Pflicht, Lehrer zu bestellen, die Fähigkeit haben, Weisheit und Tugend zu lehren, und solche nützliche Wahrheiten zu verbreiten, auf denen die Glückseligkeit der menschlichen Gesellschaft unmittelbar beruht. Alle nähere Bestimmungen müssen ihrem besten Wissen und Gewissen überlassen werden, wo nicht unendliche Verwirrungen und Kollisionen der Pflichten entstehen sollen, die am Ende den Tugendhaften selbst oft zur Heuchelei oder Gewissenlosigkeit führen. Jede Vergehung wider die Vorschrift der Vernunft bleibt nicht ungerochen.

Wie aber? Wenn das Übel nun einmal geschehen ist : der Staat bestellt und besoldet einen Lehrer auf gewisse bestimmte Lehrmeinungen. Der Mann findet nachher diese Lehrmeinungen ohne Grund; was hat er zu tun? Wie sich zu verhalten, um den Fuß aus der Schlinge herauszuwinden, in welche ihn ein irriges Gewissen verwickelt hat?

Drei verschiedene Wege stehen hier vor ihm offen. Er verschließt die Wahrheit in seinem Herzen, und fährt fort, wider sein besseres Wissen, die Unwahrheit zu lehren; oder er legt sein Amt nieder, ohne die Ursachen anzugeben, warum dies geschehe; oder endlich gibt er der Wahrheit ein lautes Zeugnis, und lässt es auf den Staat ankommen, was mit seinem Amte und mit der ihm ausgesetzten Besoldung werden, oder was er sonst für seine unüberwindliche Wahrheitsliebe leiden soll.

Mich dünkt, keiner von diesen Wegen sei unter allen Umständen schlechterdings zu verwerfen. Ich kann mir eine Verfassung denken, in welcher es vor dem Richterstuhle des allgerechten Richters zu entschuldigen ist, wenn man fortfährt, seinem sonst heilsamen Vortrage gemeinnütziger Wahrheiten, eine Unwahrheit mit einzumischen, die der Staat, vielleicht aus irrigem Gewissen geheiligt hat. Wenigstens würde ich mich hüten, einen übrigens rechtschaffenen Lehrer dieserhalb der Heuchelei oder des Jesuitismus zu beschuldigen, wenn mir nicht die Umstände und die Verfassung des Mannes sehr genau bekannt sind; so genau, als vielleicht die Verfassung eines Menschen niemals seinem Nächsten bekannt sein kann. Wer sich rühmt, nie in solchen Dingen anders gesprochen, als gedacht zu haben, hat entweder überall nie gedacht, oder findet vielleicht für gut, in diesem Augenblicke selbst, mit einer Unwahrheit zu prahlen, der sein Herz widerspricht.

Also in Absicht auf Gesinnungen und Grundsätze kommen Religion und Staat überein, müssen beide allen Schein des Zwanges und der Bestechung vermeiden, und sich auf Lehren, Vermahnen, Bereden und Zurechtweisen einschränken. Nicht also in Absicht auf Handlung. Die Verhältnisse von Mensch zu Menschen erfordern Handlung, als Handlung; die Verhältnisse zwischen Gott und Menschen, bloß insoweit sie zu Gesinnungen führen. Eine gemeinnützige Handlung hört nicht auf, gemeinnützig zu sein, wenn sie auch erzwungen wird; eine religiöse Handlung hingegen ist nur in dem Maße religiös, in welcher sie aus freier Willkür und in gehöriger Absicht geschieht.

Daher kann der Staat zu gemeinnützigen Handlungen zwingen; belohnen, bestrafen; Amt und Ehren, Schande und Verweisung austeilen, um die Menschen zu Handlungen zu bewegen, deren innere Güte nicht kräftig genug auf ihre Gemüter wirken will. Daher hat dem Staate, durch den gesellschaftlichen Vertrag, auch das vollkommenste Recht und das Vermögen, dieses zu tun, eingeräumt werden können und müssen. Daher ist der Staat eine moralische Person, die ihre eigenen Güter und Gerechtsame hat, und damit nach Gutfinden schalten kann.

Fern von allem diesen ist die göttliche Religion. Sie verhält sich gegen Handlung nicht anders, als gegen Gesinnung; weil sie Handlung bloß als Zeichen der Gesinnung befiehlt. Sie ist eine moralische Person; aber ihre Rechte kennen keinen Zwang. Sie treibt nicht mit eisernem Stabe, sondern leitet am Seile der Liebe. Sie zückt kein Racheschwert, spendet kein zeitliches Gut aus; maßt sich auf kein irdisches Gut ein Recht, auf kein Gemüt äußerliche Gewalt an. Ihre Waffen sind Gründe und Überführung; ihre Macht die göttliche Kraft der Wahrheit; die Strafen, die sie androht, sind so wie die Belohnungen, Wirkungen der Liebe; heilsam und wohltätig für die Person selbst, die sie leidet. An diesen Merkmalen erkenne ich dich, Tochter der Gottheit! Religion! die du in Wahrheit allein die seligmachende bist, auf der Erde, sowie im Himmel.

Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, sind dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider. Verbannen, ausschließen, den Bruder abweisen, der an meiner Erbauung teilnehmen, und sein Herz in wohltätiger Mitteilung, mit dem meinigen zugleich zu Gott erheben will! — Wenn sich die Religion keine willkürlichen Strafen erlaubt, am wenigsten diese Seelenqual, die ach! nur dem empfindlich ist, der wirklich Religion hat. Geht die Unglücklichen alle durch, die von jeher durch Bann und Verdammnis haben gebessert werden sollen; Leser! welcher äußerlichen Kirche, Synagoge oder Moschee du auch anhängst! untersuche, ob du nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wahre Religion antreffen wirst, als in dem ungleich größeren Haufen ihrer Verbanner? — Nun hat die Verbannung entweder bürgerliche Folgen, oder sie hat keine. Zieht sie bürgerliches Elend nach sich, so fällt sie nur dem Edelmütigen zur Last, der dieses Opfer der göttlichen Wahrheit schuldig zu sein glaubt. Wer keine Religion hat, ist ein Wahnwitziger, wenn er sich einer vermeinten Wahrheit zu gefallen, der mindesten Gefahr aussetzt. Soll sie aber, wie man sich bereden will, bloß geistige Folgen haben, so drücken sie abermals nur denjenigen, der für diese Art von Empfindnis noch Gefühl hat. Der Irreligiöse lacht ihrer und bleibt verstockt.

Und wo ist die Möglichkeit, sie von allen bürgerlichen Folgen zu trennen? Kirchenzucht einführen, habe ich an einem anderen Orte, wie mich dünkt, mit Recht gesagt, Kirchenzucht einführen, und die bürgerliche Glückseligkeit ungekränkt erhalten, gleicht dem Bescheide des allerhöchsten Richters an den Ankläger: Er sei in deiner Hand, doch schone seines Lebens! Zerbrich das Fass, wie die Ausleger hinzusetzen; doch lass den Wein nicht auslaufen! Welche kirchliche Ausschließung, welcher Bann ist ohne alle bürgerliche Folgen, ohne allen Einfluss auf die bürgerliche Achtung wenigstens, auf den guten Leumund des Ausgestoßenen und auf das Zutrauen bei seinen Mitbürgern, ohne welches doch niemand seines Berufes warten, und seinen Mitmenschen nützlich, das ist, bürgerlich glückselig sein kann?

Man beruft sich immer noch auf das Naturgesetz. Jede Gesellschaft, spricht man, hat das Recht auszuschließen: Warum nicht auch die religiöse?

Allein ich erwidere: gerade hier macht die religiöse Gesellschaft eine Ausnahme; vermöge eines höheren Gesetzes kann keine Gesellschaft ein Recht ausüben, das der ersten Absicht der Gesellschaft selbst schnurstracks entgegengesetzt ist. Einen Dissidenten ausschließen, sagt ein würdiger Geistlicher aus dieser Stadt, einen Dissidenten aus der Kirche verweisen, heißt einem Kranken die Apotheke verbieten. In der Tat, die wesentlichste Absicht religiöser Gesellschaften ist gemeinschaftliche Erbauung. Man will durch die Zauberkraft der Sympathie die Wahrheit aus dem Geiste in das Herz übertragen, die zuweilen tote Vernunfterkenntnis durch Teilnehmung zu hohen Empfindnissen beleben. Wenn das Herz allzusehr an sinnlichen Lüsten klebt, um der Vernunft Gehör zu geben; wenn es auf dem Punkte ist, die Vernunft selbst mit ins Garn zu locken; so werde es hier vom Schauer der Gottseligkeit ergriffen, vom Feuer der Andacht entflammt, und lerne Freuden höherer Art kennen, die auch hienieden schon den sinnlichen Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Tür abweisen, der dieser Arzenei am meisten bedarf; destomehr bedarf, je weniger er dieses Bedürfnis empfindet, und in seinem Irrsinne, sich gesund zu sein einbildet? Muss nicht vielmehr eure erste Bemühung sein, ihm diese Empfindung wiederzugeben, und den gleichsam vom kalten Brande bedrohten Teil seiner Seele ins Leben zurückzurufen? Statt dessen verweigert ihr ihm alle Hilfe, und lasst den Ohnmächtigen den moralischen Tod dahinsterben, dem ihr ihn vielleicht würdet entrissen haben.

Weit edler und dem Zwecke seiner Schule gemäßer handelte jener Weltweise zu Athen. Ein Epikurer kam von seinem Gelage, die Sinne von nächtlicher Wollust benebelt, und das Haupt von Rosen umwunden. Er trat in den Hörsaal der Stoiker, um sich in der Frühstunde noch das letzte Vergnügen entnervter Wollüstlinge zu verschaffen, das Vergnügen zu spotten. Der Weltweise lässt ihn ungehindert, verdoppelt das Feuer seiner Beredsamkeit wider die Verführung der Wollust, und schildert die Seligkeit der Tugend mit unwiderstehlicher Gewalt. Der Schüler Epikurs hört, wird aufmerksam, schlägt die Augen nieder, reißt die Kränze von seinem Haupte, und wird selbst ein Anhänger der Stoa.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum