Von der Macht in Religionssachen

Das Wesentliche dieser Behauptung, das einem sonst allgemein herrschenden Grundsatze so schnurstracks entgegensteht, habe ich bereits bei einer anderen Gelegenheit auszuführen gesucht. Herrn Dohms vortreffliche Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ veranlasste die Untersuchung: inwieweit einer aufgenommenen Kolonie eigene Gesetzverwesung in kirchlichen und bürgerlichen Sachen überhaupt, und insbesondere ein Bann- und Ausschließungsrecht nachzulassen sei? — Gesetzliche Macht der Kirche — Bannrecht — wenn die Kolonie diese haben soll, so muss sie von dem Staate, oder von der Mutterkirche damit gleichsam belehnt werden. Jemand, der dieses Recht, vermöge des gesellschaftlichen Vertrages, besitzt, muss ihr einen Teil davon, insoweit es sie selbst angeht, abgetreten und überlassen haben. Wie aber? Wenn niemand ein solches Recht besitzen kann? Wenn weder dem Staate, noch der Mutterkirche selbst irgendein Zwangsrecht in Religionssachen zukäme? Wenn nach den Grundsätzen der gesunden Vernunft, deren Göttlichkeit wir alle anerkennen müssen, weder Staat noch Kirche befugt wäre, sich in Glaubenssachen ein anderes Recht anzumaßen, als das Recht zu belehren; eine andere Macht, als die Macht der Überführung, eine andere Zucht, als die Zucht durch Vernunft und Grundsätze? Kann dieses erweislich, und dem gesunden Menschenverstände einleuchtend gemacht werden; so ist kein ausdrücklicher Vertrag, noch viel weniger Herkommen und Verjährung mächtig genug, ein Recht geltend zu machen, das ihm entgegengesetzt ist; so ist aller kirchliche Zwang widerrechtlich, alle äußere Macht in Religionssachen gewaltsame Anmaßung, und wenn dieses ist, so darf, so kann die Mutterkirche kein Recht verleihen, das ihr selber nicht zukommt, keine Macht vergeben, die sie sich mit Unrecht angemaßt hat. Es kann sein, dass der Missbrauch, durch irgendein allgemeines Vorurteil, so um sich gegriffen, so sehr in den Gemütern der Menschen Wurzel gefasst hat, dass es nicht tunlich, oder nicht ratsam wäre, ihn mit einem Male, ohne weise Vorbereitung abzuschaffen; aber in diesem Falle ist es doch wenigstens unsere Schuldigkeit, ihm von ferne her entgegenzuarbeiten, und vorerst seiner ferneren Ausbreitung einen Damm entgegenzusetzen. Können wir ein Übel nicht völlig ausrotten, so müssen wir ihm wenigstens die Wurzel abstechen.

Dieses war das Resultat meiner Betrachtungen, und ich wagte es, meine Gedanken dem Publikum *) zur Beurteilung vorzulegen; wiewohl ich meine Gründe damals nicht so ausführlich angeben konnte, als hier in dem vorigen Abschnitte geschehen.


*) In der Vorrede zu Manasseh Ben Israels Rettung der Juden.

Ich habe das Glück, in einem Staate zu leben, in welchem diese meine Begriffe weder neu, noch sonderlich auffallend sind. Der weise Regent, von dem er beherrscht wird, hat es, seit Anfang seiner Regierung, beständig sein Augenmerk sein lassen, die Menschheit in Glaubenssachen in ihr volles Recht einzusetzen. Er ist der Erste unter den Regenten unseres Jahrhunderts, der die weise Maxime, in ihrem ganzen Umfange, niemals aus den Augen gelassen: die Menschen sind für einander geschaffen: belehre deinen Nächsten, oder ertrage ihn! *) Mit weiser Mäßigung hat er zwar die Vorrechte der äußeren Religion geschont, in deren Besitz er sie gefunden. Noch gehören vielleicht Jahrhunderte von Kultur und Vorbereitung dazu, bevor die Menschen begreifen werden, dass Vorrechte um der Religion willen weder rechtlich, noch im Grunde nützlich seien, und dass es also eine wahre Wohltat sein würde, allen bürgerlichen Unterschied um der Religion willen schlechterdings aufzuheben. Indessen hat sich die Nation unter der Regierung dieses Weisen so sehr an Duldung und Vertragsamkeit in Glaubenssachen gewöhnt, dass Zwang, Bann und Ausschließungsrecht wenigstens aufgehört haben, populäre Begriffe zu sein.

*) Worte meines verewigten Freundes, Herrn Iselin, in einem seiner letzten Aufsätze in den Ephemeriden der Menschheit. Das Andenken dieses wahren Weisen sollte jedem seiner Zeitgenossen, der Tugend und Wahrheit wertschätzt, unvergesslich sein. Desto unbegreiflicher ist es mir selbst, wie ich ihn habe übergehen können, als ich die wohltätigen Männer nannte, die in Deutschland zuerst die Grundsätze der uneingeschränkten Toleranz auszubreiten suchten, ihn, der sie in unserer Sprache sicherlich früher und lauter, als irgendeiner, in ihrem weitesten Umfange lehrte. Mit Vergnügen schreibe ich hier die Stelle aus der Anzeige meiner Vorrede R. Manasse, in den Ephemeriden (Zehntes Stück. Oktober 1782. Seite 429), ab, wo dieses erinnert wird, um einem Manne nach seinem Tode Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der in seinem Leben so allgemein gerecht gewesen. „Der Verfasser der Ephemeriden der Menschheit stimmt auch mit Herrn Mendelssohn gänzlich in demjenigen überein, was er von den gesetzgebenden Rechten der Obrigkeit über die Meinung der Bürger und von den Vorkommnissen sagt, welche einzelne Menschen untereinander über solche Meinungen eingehen können. Und diese Denkungsart hat er nicht erst seit Herrn Dohm und Herrn Lessing angenommen, sondern er hat sich schon vor mehr als dreißig Jahren dazu bekannt. Auf die gleiche Weise hat er auch schon lange anerkannt, dass dasjenige, was man Religionsduldung nennt, nicht eine Gnade, sondern eine Pflicht der Regierung sei. Deutlicher konnte man sich nicht ausdrücken, als folgendermaßen (Träume eines Menschenfreundes, Band 2, S. 12 u. 13): Wenn also eine oder mehrere Religionen in seinem Staate eingeführt sind, so erlaubt ein weiser und gerechter Landesherr sich nicht, die Rechte derselben zu dem Besten der seinigen anzugreifen. Jede Kirche, jede Vereinigung, welche den Gottesdienst zur Absicht hat, ist eine Gesellschaft, der der Landesherr Schutz und Gerechtigkeit schuldig ist. Ihnen diese versagen, um auch die beste Religion zu begünstigen, wäre wider den Geist der wahren Gottseligkeit.“

„In Rücksicht auf die bürgerlichen Rechte sind alle Religionsgenossen einander gleich, diejenigen allein ausgenommen, deren Meinungen den Grundsätzen der menschlichen und der bürgerlichen Pflichten zuwider laufen. Eine solche Religion kann in dem Staate auf keine Rechte Anspruch machen. Diejenigen, welche das Unglück haben, ihr zugetan zu sein, können nur Duldung erwarten, solange sie nicht durch ungerechte und schädliche Handlungen die gesellschaftliche Ordnung stören. Wenn sie dieses tun, müssen sie gestraft werden, nicht für ihre Meinungen, sondern für ihre Taten.“ Was aber im Vorhergehenden von einer falschen Meinung, in Absicht auf die Zwischenhände in der Handlung, gesagt wird, die ich dem Verfasser der Ephemeriden mit Unrecht zuschreiben soll, verhält sich in Wahrheit ganz anders. Nicht Herr Iselin, sondern ein anderer, sonst einsichtsvoller Schriftsteller, hat in den Ephemeriden einen Aufsatz einrücken lassen, in welchem er die Schädlichkeit der Zwischenhände behauptet, und ward von dem Herausgeber vielmehr widerlegt. — Die Erinnerungen, welche in derselben Anzeige wider meine Glaubensgenossen gemacht werden, übergehe ich mit Stillschweigen. Es ist hier der Ort nicht, sie zu verteidigen, und ich überlasse dieses Geschäft dem Herrn Dohm, der es mit weniger Parteilichkeit verrichten kann. Man vergibt übrigens einem Baseler sehr leicht ein Vorurteil wider ein Volk, das er nur aus dem herumstreifenden Teile desselben oder aus den Observations d'un Alsacien zu kennen Gelegenheit haben kann.


Was aber einem jeden Rechtschaffenen wahre Freude ins Herz bringen muss, ist der Ernst und Eifer, mit welchem einige würdige Glieder der hiesigen Geistlichkeit selbst diese Grundsätze der Vernunft, oder vielmehr der wahren Gottesfurcht, unter dem Volke auszubreiten suchen. Ja, einige derselben haben kein Bedenken getragen, meinen Gründen wider das allgemein angebetete Idol des Kirchenrechts überhaupt beizutreten, und dem Resultate derselben öffentlich Beifall zu geben. Welche hohe Begriffe müssen diese Männer von ihrer Bestimmung haben, da sie so willig sind, alle Nebenabsicht davon zu entfernen; welch edles Zutrauen zu der Kraft der Wahrheit, da sie sich getrauen, sie, ohne alle Stützen, auf ihrem eigenen Postamente sicherzustellen! Wenn wir übrigens in den Grundsätzen auch noch so verschieden wären, so könnte ich nicht umhin, ihnen, wegen dieser erhabenen Gesinnungen, meine ganze Bewunderung und Ehrerbietung zu bezeugen.

Manche andere Leser und Bücherrichter haben sich gar sonderbar dabei benommen. Meine Gründe haben sie zwar nicht bestritten, sondern vielmehr gelten lassen. Niemand hat es versucht, zwischen Lehrmeinung und Recht den mindesten Zusammenhang zu zeigen. Niemand hat einen Fehler in der Schlussfolge aufgedeckt, dass mein Beistimmen oder Nichtbeistimmen in gewisse ewige Wahrheiten mir kein Recht über Dinge, keine Befugnis erteilen, über Güter- und Gemüter nach eigenem Belieben zu schalten. Und gleichwohl haben sie bei dem unmittelbaren Resultate derselben, wie bei einer unerwarteten Erscheinung, gestutzt. Wie? So gibt es überall kein Kirchenrecht? So beruht alles, was so viele Schriftsteller, was wir selbst vielleicht über das Kirchenrecht geschrieben, gelesen, gehört und disputiert haben, auf grundlosem Boden? — Dieses schien ihnen zu weit zu gehen, und gleichwohl muss in der Schlussfolge ein verborgener Fehler liegen, wenn das Resultat nicht notwendig wahr sein soll.

In den Göttingischen Anzeigen führt der Rezensent meine Behauptung an, dass es kein Recht auf Personen und Dinge gebe, welches mit Lehrmeinungen zusammenhänge, und dass alle Verträge und Abkommnisse der Menschen kein solches Recht möglich machen können, und setzt hinzu: „dieses alles ist neu und hart. Die ersten Grundsätze werden weggeleugnet, und aller Streit hat ein Ende.“

Jawohl, geht es um die ersten Grundsätze, die nicht anerkannt werden wollen. — Soll aber deswegen aller Streit ein Ende haben? Sollen denn Grundsätze niemals in Zweifel gezogen werden? So können Männer aus der pythagorischen Schule in Ewigkeit streiten, woher ihr Lehrer zur güldenen Hüfte gekommen, wenn es niemand wagen darf, zu untersuchen: ob auch Pythagoras überall eine güldene Hüfte habe?

Jedes Spiel hat seine Gesetze, jeder Wettkampf seine Regeln, nach welchen der Kampfrichter urteilt. Willst du den Einsatz, oder den Kampfpreis davontragen; so unterwirf dich den Grundsätzen. Wer aber über die Theorie der Spiele nachdenken will, kann allerdings die Grundbegriffe selbst in Augenschein nehmen. So auch vor Gericht. Jener Kriminalrichter, der einen Mörder zu richten hatte, brachte ihn zum Geständnisse seines Verbrechens. Allein der Ruchlose behauptete, er wisse keinen Grund, warum es nicht ebenso gut erlaubt sei, einen Menschen zu ermorden, als ein Tier, um seines Vorteils willen, umzubringen. Diesem Unmenschen konnte der Richter mit Recht antworten: „Du leugnest die Grundsätze, Bursche! Mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirst wenigstens einsehen, dass es auch uns erlaubt sei, um unseres Vorteils willen, die Erde von einem solchen Ungeheuer zu befreien.“ So aber durfte ihm der Priester schon nicht antworten, der ihn zum Tode vorbereiten sollte. Dieser war verbunden sich mit ihm über die Grundsätze selbst einzulassen, und ihm, wenn sein Zweifel ihm ein Ernst war, solchen zu benehmen. Nicht anders verhält es sich in Künsten und Wissenschaften. Jede derselben setzt gewisse Grundbegriffe voraus, von denen sie weiter keine Rechenschaft gibt. Deswegen aber ist in dem ganzen Inbegriff der menschlichen Erkenntnisse kein Punkt über allen Anspruch hinwegzusetzen, kein Titel, der nicht zur Untersuchung gezogen werden darf. Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieses Gerichtshofes; so muss ich vor einen anderen verwiesen werden. Irgendwo muss ich gehört und zurechtgewiesen werden.

Der Fall, den der Rezensent zum Beispiel anführt, um mich zu widerlegen, trifft vollends nicht zum Ziele. Er spricht: „Wir wollen sie (die geleugneten Grundsätze) indessen auf einen bestimmten Fall anwenden. Die Judenschaft in Berlin bestellt eine Person, die nach den Gesetzen ihrer Religion die Kinder männlichen Geschlechts beschneiden soll; diese Person erhält durch ein Faktum gewisse Rechte auf soviel Einkünfte, auf diesen bestimmten Rang in der Gemeine usw. Nach einiger Zeit kommen ihr Bedenklichkeiten über die Lehrmeinung oder das Gesetz von der Beschneidung bei; sie weigert sich den Vertrag zu erfüllen. Bleiben ihr denn nun auch die Rechte, die sie durch den Vertrag erhielt? So überall.“ —

Und wie überall? Ich will die Möglichkeit des Falls zugeben, der sich hoffentlich nie zutragen wird *). Was soll diese mir so nahegelegte Instanz beweisen? Doch wohl nicht, dass nach der Vernunft Rechte auf Personen und Güter mit Lehrmeinungen zusammenhängen, und auf derselben beruhen? oder dass positive Gesetze und Verträge ein solches Recht möglich machen können? Auf diese beiden Punkte kommt es, nach dem eigentlichen Anführen des Rezensenten hauptsächlich an, und beide finden in dem erdichteten Fall nicht statt, denn der Beschneider würde ja die Einkünfte und den Rang nicht für den Beifall zu genießen haben, den er der Lehrmeinung gibt, sondern für die Operation, die er an der Stelle der Hausväter verrichtet. Verhindert ihn nun sein Gewissen, diese Mühwaltung ferner zu übernehmen, so wird er allerdings auf die Belohnung Verzicht tun müssen, die er dafür sich ausbedungen. Was hat dieses aber mit den Vorrechten gemein, die man einer Person einräumt, weil sie dieser oder jener Lehre beistimmt, diese oder jene ewige Wahrheit annimmt oder verwirft? — Alles, womit die erdichtete Instanz einige Ähnlichkeit haben könnte, wäre etwa der Fall, da der Staat Lehrer bestellt und besoldet, die gewisse Lehren so und nicht anders ausbreiten sollen; diese aber nachher sich im Gewissen verbunden erachteten, von den ihnen vorgeschriebenen Lehren abzuweichen. Diesen Fall, der so oft zu lauten und hitzigen Streitigkeiten Gelegenheit gegeben, habe ich im vorigen Abschnitte umständlich berührt, und nach meinen Grundsätzen zu erörtern gesucht. Auf das angeführte Gleichnis aber scheint er mir ebensowenig zu passen. Man erinnere sich des Unterschiedes, den ich gemacht, zwischen Handlungen, die als Handlungen verlangt werden, und solchen, die bloß als Zeichen der Gesinnung gelten. Eine Vorhaut ist abgeschnitten, der Beschneider mag von dem Gebrauche selbst denken und glauben, was er will; so wie ein Schuldherr, dem die Gerichte zu seiner Befriedigung verholfen, bezahlt ist, der Schuldner mag von der Pflicht zu bezahlen, denken, wie er will. Wie kann aber hiervon die Anwendung auf den Lehrer der Religionswahrheiten gemacht werden, dessen Lehren sicherlich wenig Frommen bringen, wenn nicht Geist und Herz damit übereinstimmen; wenn sie nicht aus innerer Überzeugung fließen? — Ich habe bereits an dem angeführten Orte zu erkennen gegeben, dass ich mich nicht getraue, einem auf diese Weise in die Enge getriebenen Lehrer vorzuschreiben, wie er sich als rechtschaffener Mann zu verhalten habe; oder Vorwürfe zu machen, wenn er sich anders verhält; und dass nach meinem Bedünken alles auf Zeit, Umstände und Verfassung ankomme, in welchen er sich befindet. Wer darf hier über die Gewissenhaftigkeit seines Nächsten den Stab brechen? Wer ihr zu einer so kritischen Entscheidung eine Wage aufdringen, die sie vielleicht nicht für die richtige erkennt?

*) Man genießt unter den Juden, für das Amt der Beschneidung, weder Einkünfte, noch einen bestimmten Rang in der Gemeinde. Wer die Geschicklichkeit besitzt, verrichtet vielmehr dieses verdienstliche Werk mit Vergnügen. Ja dem Vater, dem eigentlich die Pflicht, seinen Sohn zu beschneiden, obliegt, hat mehrenteils unter verschiedenen Mitwerbern, die darum anhalten, zu wählen. Alle Belohnung, die der Beschneider für seine Verrichtung zu erwarten hat, besteht etwa darin, dass er beim Beschneidungsmahle obenan sitzt, und nach der Mahlzeit den Segen spricht. — So sollten nach meiner neu und hart scheinenden Theorie alle religiösen Ämter besetzt werden!

Indessen liegt diese Untersuchung nicht so ganz auf meinem Wege, und hat wenig mit den beiden Fragen gemein, auf welche alles ankommt, und die ich hier abermals wiederhole.

1. Gibt es, nach dem Gesetze der Vernunft, Rechte auf Personen und Dinge, die mit Lehrmeinungen zusammenhängen, und durch das Einstimmen in dieselben erworben werden?

2. Können Verträge und Abkommnisse vollkommene Rechte erzeugen, Zwangspflichten hervorbringen, wo nicht, ohne allen Vertrag, schon unvollkommene Rechte und Gewissenspflichten da gewesen sind?

Einer von diesen Sätzen muss aus dem Naturrechte, erwiesen werden, wenn ich eines Irrtums überführt werden soll. Dass man meine Behauptung neu und hart findet, tut nichts zur Sache, wenn ihr die Wahrheit nur nicht widerspricht. Noch ist mir kein Schriftsteller bekannt, der diese Fragen berührt und in Anwendung auf Kirchenmacht und Bannrecht untersucht hätte. Sie gehen alle von dem Punkte aus, dass es ein Jus circa sacra gebe; nur modelt es ein jeder nach seiner Weise, und belehnt damit bald eine unsichtbare, bald diese oder jene sichtbare Person. Selbst Hobbes, der hierin sich am weitesten von den eingeführten Begriffen zu entfernen wagt, hat sich von dieser Idee nicht völlig loswinden können. Er gibt ein solches Recht zu, und sucht nur die Person auf, der man es mit dem geringsten Schaden zutrauen darf. Alle glauben, das Meteor sei sichtbar, und bemühen sich nur, nach verschiedenen Systemen, die Höhe desselben zu bestimmen. Es wäre nichts Unerhörtes, wenn ein Unbefangener, der gerade auf den Ort hinschaute, wo es erscheinen soll, mit weit geringerer Fähigkeit sich von der Wahrheit überführte: es sei überall kein solches Meteor zu sehen.

Ich komme zu einem weit wichtigeren Einwurfe, der mir gemacht worden, und der hauptsächlich diese Schrift veranlasst hat. Abermals ohne meine Gründe zu widerlegen, hat man ihnen die geheiligte Autorität der mosaischen Religion, zu welcher ich mich bekenne, entgegengesetzt. Was sind die Gesetze Moses anderes, als ein System von religiöser Regierung, von Macht und Recht der Religion? „Die Vernunft mag es gutheißen“, drückt sich ein ungenannter Schriftsteller *) hierüber aus, „dass alles Kirchenrecht und die Macht eines geistlichen Gerichts, wodurch Meinungen erzwungen oder eingeschränkt werden, eine begrifflose Sache ist; dass kein Fall zu erdenken, wodurch so ein Gesetz begründet sei, dass die Kunst nichts schaffen könne, wozu die Natur nicht den Keim hervorgebracht habe — aber so vernunftmäßig dieses alles sein mag, was Sie darüber sagen,“ redet er mich an, „so geradezu widerspricht es dem Glauben ihrer Väter im engeren Verstände, und den Grundsätzen der Kirche, welche nicht bloß von den Kommentaristen angenommen; sondern selbst in den Büchern Mose ausdrücklich festgesetzt sind. Nach der gesunden Vernunft findet gar kein Gottesdienst ohne Überzeugung statt, und jede erzwungene gottesdienstliche Handlung hört das auf zu sein. Befolgung göttlicher Gebote aus Furcht vor der daraufgesetzten Strafe ist Sklavendienst, der nach reinen Begriffen nimmermehr Gott gefällig sein kann. Indessen ist es wahr, dass Moses Zwang und positive Strafen — an Nichtbeobachtung gottesdienstlicher Pflichten bindet. Sein statuarisches Kirchenrecht befiehlt den Sabbatsübertreter, den Lästerer des göttlichen Namens und andere Abweichende von seinem Gesetze mit Steinigung und Tode zu bestrafen.“ „Das ganze Kirchensystem Mose,“ spricht er an einer anderen Stelle, „war nicht nur Unterricht und Anweisung zu Pflichten, sondern es war zugleich mit dem strengsten Kirchenrechte verbunden. Der Arm der Kirche war mit dem Schwert des Fluchs bewaffnet. — Verflucht, heißt es, wer nicht hält alle Worte dieses Gesetzes, dass er darnach tue usw. — Und dieser Fluch war in den Händen der ersten Diener der Kirche. — Das bewaffnete Kirchenrecht ist immer einer der vorzüglichsten Grundsteine der jüdischen Religion selbst, und ein Hauptartikel in dem Glaubenssystem Ihrer Väter. Inwiefern können Sie, mein teurer Herr Mendelssohn, bei dem Glauben Ihrer Väter beharren, und durch Wegräumung seiner Grundsteine das ganze Gebäude erschüttern, wenn Sie das durch Mosen gegebene, auf göttliche Offenbarung sich berufende Kirchenrecht bestreiten?“

*) Das Forschen nach Licht und Recht, in einem Schreiben an Herrn M. Mendelssohn. Berlin 1782.

Dieser Einwurf dringt an das Herz. Ich muss gestehen, dass die Begriffe, die hier vom Judentume gegeben werden, bis auf einige Unbehutsamkeit im Ausdrucke, selbst von vielen meiner Religionsbrüder dafür angenommen werden. Wäre nun dem in Wahrheit also, und ich davon überführt, so würde ich allerdings meine Sätze mit Beschämung zurücknehmen, und die Vernunft unter dem Joche des Glaubens — doch nein! was sollte ich heucheln? Autorität kann demütigen, aber nicht belehren; sie kann die Vernunft niederschlagen, aber nicht fesseln. Stünde das Wort Gottes mit meiner Vernunft in einem so offenbaren Widerspruche, so würde ich der letzteren höchstens Stillschweigen gebieten können; aber meine nicht widerlegten Gründe würden im geheimsten Winkel meines Herzens nichtsdestoweniger wiederkehren, sich in beunruhigende Zweifel verwandeln, und die Zweifel sich in kindliche Gebete, in inbrünstiges Flehen um Erleuchtung auflösen. Ich würde mit dem Psalmist anrufen:

Herr! sende mir dein Licht, deine Wahrheit,
Dass sie mich leiten, und bringen
Zu deinem heiligen Berge, zu deinem Ruhesitze!


Hart und kränkend aber ist es in allen Fällen, wenn man mit dem ungenannten Forscher nach Licht und Wahrheit, und dem sich nennenden Herrn Mörschel, der die Schrift des Forschers mit einer Nachschrift begleitet hat, mir die gehässige Absicht zuschreibt, die Religion, zu welcher ich mich bekenne, umzustoßen, und ihr, wo nicht ausdrücklich, doch gleichsam unter der Hand zu entsagen. Dergleichen Konsequenzerei sollte aus dem Umgange der Gelehrten auf ewig verbannt sein. Nicht jeder, der sich zu einer Meinung versteht, versteht sich zugleich zu allen Folgen derselben, und wenn sie auch noch so richtig aus derselben hergeleitet werden. Aufbürdungen von dieser Art sind gehässig, und führen nur zu Verbitterung und Streitsucht, dabei die Wahrheit selten gewinnt.

Ja, der Forscher geht so weit, mich folgendergestalt anzureden: „Sollte der jetzt von Ihnen getane gar merkwürdige Schritt wohl wirklich ein Schritt zur Erfüllung der ehemals an Sie ergangenen Lavaterschen Wünsche sein? Unstreitig haben Sie nach jener Veranlassung der Sache des Christentums näher gedacht, und den Wert der in mannigfaltigen Gestalten und Modifikationen vor ihren Augen liegenden christlichen Religionssysteme mit der Unparteilichkeit eines unbestechbaren Wahrheitsforschers genauer gewogen. Vielleicht sind Sie jetzt dem Glauben der Christen näher getreten, indem Sie der Knechtschaft eiserner Kirchenbande sich entreißen, und das Freiheitssystem des vernünftigeren Gottesdienstes nunmehr selbst lehren, welches das eigentliche Gepräge der christlichen Gottesverehrung ausmacht, nach welchem wir dem Zwange und lästigen Zeremonien entronnen sind, und den wahren Gottesdienst weder an Samaria noch an Jerusalem binden, sondern das Wesen der Religion darin setzen, dass nach den Worten unseres Lehrers die wahrhaftigen Anbeter Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

Feierlich und pathetisch genug ist diese Ansinnung vorgebracht. — Allein, Lieber! soll ich diesen Schritt tun, ohne vorher zu überlegen, ob er mich auch wirklich aus der Verwirrung ziehen wird, in welcher ich mich Ihrer Meinung nach befinde? Wenn es wahr ist, dass die Ecksteine meines Hauses austreten, und das Gebäude einzustürzen droht, ist es wohlgetan, wenn ich meine Habseligkeit aus dem untersten Stockwerke in das oberste rette? Bin ich da sicherer? Nun ist das Christentum, wie Sie wissen, auf dem Judentume gebaut, und muss notwendig, wenn dieses fällt, mit ihm über einen Haufen stürzen. Sie sagen, meine Schlussfolge untergrabe den Grund des Judentums, und bieten mir die Sicherheit Ihres obersten Stockwerks an; muss ich nicht glauben, dass Sie meiner spotten? Sicherlich! Der Christ, dem es um Licht und Wahrheit im Ernste zu tun ist, wird beim Anscheine eines Widerspruchs zwischen Wahrheit und Wahrheit, zwischen Schrift und Vernunft, nicht den Juden zum Kampfe auffordern, sondern mit ihm gemeinschaftlich den Ungrund des Widerspruchs zu entdecken suchen. Es geht ihrer beiden Sache an. Was sie unter sich auszumachen haben, mag auf eine andere Zeit ausgesetzt bleiben. Vorerst müssen sie mit vereinigten Kräften die Gefahr abwenden, und entweder, den Fehlschluss der Vernunft entdecken oder zeigen, dass es bloß ein Scheinwiderspruch sei, der sie erschreckt hat.

So könnte ich nun der Schlinge ausweichen, ohne mich mit dem Forscher in weitere Untersuchung einzulassen. Allein was würde mir der Winkelzug helfen? Sein Gefährte, Herr Mörschel, hat, ohne mich persönlich zu kennen, mir allzutief ins Spiel gesehen. „Er hat,“ wie er versichert, „in der gerügten Vorrede bloß Merkmale entdeckt, um welcher willen er mich ebenso weit entfernt von der Religion, in welcher ich geboren worden, als von der, die er von seinen Vätern empfing, halten zu können glaubt.“ Zum Beweise seiner Vermutung führt er aus derselben, außer der Hinweisung auf S. IV, Z. 21 (wo ich Heiden, Juden, Mohammedaner und Anhänger der natürlichen Religion in einer Zeile zusammen nenne, und für alle Toleranz fordere) — S. V, Z. 8 (in welcher ich abermals von Duldung der Naturalisten rede), und endlich S. XXXVII, Z. 13 (wo ich von ewigen Wahrheiten rede, die die Religion lehren soll), folgende Stelle wörtlich an: „Das Andachtshaus der Vernunft bedarf keiner verschlossenen Türen. Sie hat von innen nichts zu verwahren, und von außen niemanden den Eingang zu verhindern. Wer einen ruhigen Zuschauer abgeben, oder gar Anteil nehmen will, ist dem Gottseligen in der Stunde seiner Erbauung höchst willkommen.“ Man sieht, dass, nach Herrn M.'s Meinung, kein Anhänger der Offenbarung so laut um Duldung der Naturalisten anhalte, so laut von ewigen Wahrheiten sprechen würde, die die Religion lehren soll, und dass ein wahrer Christ oder Jude Bedenken tragen müsse, sein Bethaus ein Andachtshaus der Vernunft zu nennen. Was ihn auf diese Gedanken gebracht haben könne, begreife ich nun zwar nicht; indessen enthalten sie doch den ganzen Grund zu seiner Vermutung, und veranlassen ihn, wie er sich ausdrückt, nicht mich aufzufordern, mich zu der Religion zu bekennen, die er bekennt, oder sie zu widerlegen, wofern ich ihr nicht beizutreten imstande bin; sondern mich im Namen aller, denen Wahrheit am Herzen liegt, zu bitten, mich in Ansehung dessen, was immer dem Menschen das Wichtigste sein muss, deutlich und bestimmt zu erklären.“ Er hat zwar, wie er versichert, die Absicht nicht, mich zu bekehren, möchte auch nicht gern Veranlassung zu Einwürfen gegen die Religion sein, von der er Zufriedenheit in diesem Leben, und unbegrenztes Glück nach derselben erwartet; aber er möchte doch gern. — Was weiß ich's, was der liebe Mann alles nicht möchte, und indessen doch möchte. — Vorerst also zur Beruhigung dieses gutherzigen Briefschreibers: ich habe die christliche Religion niemals öffentlich bestritten, und werde mich auch mit wahren Anhängern derselben niemalen in Streit einlassen. Und damit man mir nicht abermals Schuld gebe, ich wolle durch dergleichen Erklärung gleichsam zu verstehen geben, ich hätte gar wohl siegreiche Waffen in Händen, diesen Glauben, wenn ich wollte, zu bestreiten; die Juden besäßen etwa geheime Nachrichten, unbekannt gewordene Aktenstücke, wodurch die Tatsachen in einem anderen Lichte erscheinen, als sie von Christen vorgetragen werden, und dergleichen Vorspiegelungen, die man uns hat zutrauen oder andichten wollen; um allen Verdacht von dieser Art ein für allemal zu entfernen, so bezeuge ich hiermit vor den Augen des Publikums, dass ich wenigstens nichts Neues wider den Glauben der Christen vorzubringen habe; dass wir, soviel ich weiß, keine andere Nachrichten von der Geschichtssache wissen, keine andere Aktenstücke aufzuweisen haben, als die allgemein bekannt sind; dass ich also von meiner Seite nichts vorzubringen habe, das nicht schon unzählige Male von Juden und Naturalisten gesagt und wiederholt, und von der Gegenpartei beantwortet und wiederholt worden sei. Mich dünkt, es sei in so vielen Jahrhunderten, und insbesondere in unserem schreibseligen Jahrhunderte, genug in der Sache repliziert und dupliziert worden. Es ist einmal Zeit, da die Parteien nichts Neues mehr anzubringen haben, die Akten zu schließen. Wer Augen hat, der sehe; wer Vernunft hat, der prüfe, und lebe nach seiner Überzeugung. Was nützt es, dass die Rüstigen am Wege stehen, und jedem Vorübergehenden den Kampf anbieten? Allzuvieles Gerede von einer Sache klärt in derselben nichts auf, und verdunkelt vielmehr noch den schwachen Schein der Wahrheit. Ihr dürft von welchem Satze ihr wollt, nur oft und lange dafür und dawider reden und schreiben und streiten, und könnt versichert sein, dass er von seiner etwaigen Evidenz immer mehr und mehr verlieren wird. Das allzu große Detail verhindert das Überschauen des Ganzen, Herr M. hat also nichts zu besorgen. Durch mich soll er sicherlich nicht die Veranlassung zu Einwürfen gegen eine Religion werden, von der so viele meiner Nebenmenschen Zufriedenheit in diesem Leben und unbegrenztes Glück nach demselben erwarten.

Ich muss aber auch seinem spähenden Blick Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat zum Teil nicht unrecht gesehen. Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könne dieses nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion und glaube, dass diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstände, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbart worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbart der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.

Ich besorge, dass dieses auffallen, und manchem Leser abermals neu und hart scheinen dürfte. Man hat auf diesen Unterschied immer wenig acht gehabt; man hat übernatürliche Gesetzgebung für übernatürliche Religionsoffenbarung genommen, und vom Judentume so gesprochen, als sei es bloß eine frühere Offenbarung religiöser Sätze und Lehren, die zum Heile des Menschen notwendig sind. Ich werde mich also etwas weitläufig zu erklären haben, und um nicht missverstanden zu werden, zu früheren Begriffen hinaufsteigen müssen, um mit meinem Leser aus demselben Standpunkte auszugehen und gleichen Schritt halten zu können.

Man nennt ewige Wahrheiten diejenigen Sätze, welche der Zeit nicht unterworfen sind, und in Ewigkeit dieselben bleiben. Diese sind entweder notwendig, an und für sich selbst unveränderlich, oder zufällig; das heißt, ihre Beständigkeit gründet sich entweder auf ihr Wesen, sie sind deswegen so und nicht anders wahr, weil sie so und nicht anders denkbar sind, oder auf ihre Wirklichkeit: sie sind deswegen allgemein wahr, deswegen so und nicht anders, weil sie so und nicht anders wirklich geworden, weil sie, unter allen möglichen ihrer Art, so und nicht anders die besten sind. Mit anderen Worten: sowohl die notwendigen als zufälligen Wahrheiten fließen aus einer gemeinschaftlichen Quelle, aus der Quelle aller Wahrheit: jene aus dem Verstände, diese aus dem Willen Gottes. Die Sätze der notwendigen Wahrheiten sind wahr, weil sie Gott so und nicht anders sich vorstellt; der zufälligen, weil sie Gott so und nicht anders gut gefunden, und seiner Weisheit gemäß betrachtet hat. Beispiele der ersteren Gattung sind die Sätze der reinen Mathematik und der Vernunftkunst; Beispiele der letzteren die allgemeinen Sätze der Physik und Geisterlehre, die Gesetze der Natur, nach welchen dieses Weltall, Körper und Geisterwelt regiert wird. Die ersten sind auch der Allmacht unveränderlich, weil Gott selbst seinen unendlichen Verstand nicht veränderlich machen kann; die letzteren hingegen sind dem Willen Gottes unterworfen, und nur insoweit unveränderlich, als es seinem heiligen Willen gefällt, das heißt, insoweit sie seinen Absichten entsprechen. Seine Allmacht konnte andere Gesetze an ihrer Stelle einführen, und kann, sooft es nützlich ist, Ausnahmen stattfinden lassen.

Außer diesen ewigen Wahrheiten gibt es noch zeitliche, Geschichtswahrheiten; Dinge, die sich zu einer Zeit zugetragen, und vielleicht niemals wiederkommen; Sätze, die durch einen Zusammenfluss von Ursachen und Wirkungen in einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr geworden, und also von diesem Punkte der Zeit und des Raumes nur als wahr gedacht werden können. Von dieser Art sind alle Wahrheiten der Geschichte, in ihrem weitesten Umfange. Dinge der Vorwelt, die sich einst zugetragen, und uns erzählt werden, die wir aber selbst nie wahrnehmen können.

So wie diese Klassen der Sätze und Wahrheiten ihrer Natur nach verschieden sind, so sind sie es auch in Ansehung ihrer Überzeugungsmittel, oder in der Art und Weise, wie die Menschen sich und andere davon überführen. Die Lehren der ersten Gattung, oder die notwendigen Wahrheiten gründen sich auf Vernunft, das ist auf unveränderlichen Zusammenhang, und wesentliche Verbindung zwischen den Begriffen, vermöge welcher sie sich einander entweder voraussetzen, oder ausschließen. Von dieser Art sind alle mathematische und logische Beweise. Sie zeigen alle die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, gewisse Begriffe in Verbindung zu denken. Wer seinen Nebenmenschen davon unterrichten will, muss sie nicht seinem Glauben empfehlen, sondern seiner Vernunft gleichsam aufdringen; nicht Autoritäten anführen, und sich auf die Glaubwürdigkeit der Männer berufen, die eben dasselbe behauptet haben; sondern die Begriffe selbst in ihre Merkmale zerlegen, und seinem Lehrling stückweise so lange vorhalten, bis sein innerer Sinn ihre Fugen und Verbindungen wahrnimmt. Der Unterricht, den wir hierin anderen geben können, besteht, wie Sokrates gar wohl gesagt, bloß in einer Art von Geburtshilfe. Wir können nichts in ihren Geist hineinlegen, das er nicht schon wirklich hat; aber wir können ihm die Anstrengung erleichtern, die es kostet, das Verborgene an das Licht zu bringen; das heißt, das Unbemerkte bemerkbar und anschaulich zu machen.

Zu den Wahrheiten der zweiten Klasse wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wissen, welche Gesetze der Schöpfer seiner Schöpfung vorgeschrieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Veränderungen in derselben vorgehen: so müssen wir einzelne Fälle erfahren, beobachten, versuchen, das heißt, zuvörderst die Evidenz der Sinne brauchen, und hernach durch die Vernunft, aus mehreren besonderen Fällen dasjenige herausbringen, was sie gemein haben. Hier werden wir zwar manches schon auf Glauben und Ansehen von anderen annehmen müssen. Unsere Lebenszeit reicht nicht hin, alles selbst zu erfahren, und wir müssen in vielen Fällen uns auf glaubhafte Nebenmenschen verlassen: die Beobachtungen und Versuche, die sie angestellt zu haben vorgeben, als wahr voraussetzen. Wir trauen ihnen aber nur, insoweit wir wissen und überführt sind, dass die Gegenstände noch immer vorhanden sind, und die Versuche und Beobachtungen von uns oder von anderen, die Gelegenheit und Fähigkeit dazu haben, wiederholt und geprüft werden können. Ja, wenn das Resultat wichtig wird, und einen merklichen Einfluss auf unsere oder anderer Glückseligkeit hat; so beruhigen wir uns schon weit weniger bei der Aussage der glaubhaftesten Zeugen, die uns die Versuche und Beobachtungen erzählen, sondern suchen Gelegenheit, sie selbst zu wiederholen und uns durch ihre eigene Evidenz von denselben zu überführen. So können die Siameser zum Beispiel allerdings dem Berichte der Europäer trauen, dass in ihrer Weltgegend das Wasser zu gewissen Zeiten hart werde, und schwere Lasten trage. Sie können dieses auf Glauben annehmen, und allenfalls in ihren Lehrbüchern der Physik als ausgemacht vortragen; in der Voraussetzung, dass die Beobachtung noch immer wiederholt und bewährt werden kann. Wenn es indessen zur Lebensgefahr käme, wenn sie jetzt diesem hartgewordenen Elemente sich selbst oder die Ihrigen anvertrauen sollten; so würden sie sich bei dem Zeugnisse schon weit weniger beruhigen können, sondern durch mancherlei eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Versuche von der Wahrheit zu überführen haben.

Hingegen die Geschichtswahrheiten, die Stellen, die gleichsam im Buche der Natur nur einmal vorkommen, müssen durch sich selbst erläutert werden, oder bleiben unverständlich, das heißt, sie können nur von denjenigen vermittels der Sinne wahrgenommen werden, die zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewesen, als sie sich in der Natur zugetragen haben. Von jedem anderen müssen sie auf Autorität und Zeugnis angenommen werden; und zwar die zu einer anderen Zeit leben, müssen sich schlechterdings auf die Glaubhaftigkeit des Zeugnisses verlassen. Denn das Bezeugte ist nicht mehr. Der Gegenstand und dessen unmittelbare Beobachtung, an der sie etwa appellieren wollen, sind in der Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne können sich von der Wahrheit nicht überführen. Das Ansehen des Erzählers und seine Glaubhaftigkeit machen die einzige Evidenz in historischen Dingen. Ohne Zeugnis können wir von keiner Geschichtswahrheit überführt werden. Ohne Autorität verschwindet die Wahrheit der Geschichte mit dem Geschehenen selbst.

Sooft es nun den Absichten Gottes gemäß ist, dass die Menschen von irgendeiner Wahrheit überführt sein sollen; so verleiht ihnen seine Weisheit auch die schicklichsten Mittel, zu derselben zu gelangen. Ist es eine notwendige Wahrheit, so verleiht sie den dazu erforderlichen Grad der Vernunft. Soll ihnen ein Naturgesetz bekannt werden, so gibt sie ihnen den Geist der Beobachtung; und soll eine Geschichtswahrheit der Nachwelt aufbehalten werden, so bestätigt sie ihre historische Gewissheit, und setzt die Glaubwürdigkeit der Erzähler über alle Zweifel hinweg. Bloß in Absicht auf Geschichtswahrheiten, dünkt mich, sei es der allerhöchsten Weisheit anständig, die Menschen auf menschliche Weise, das ist durch Worte und Schrift zu unterrichten, und wo es zur Bewährung des Ansehens und der Glaubwürdigkeit erforderlich war, außerordentliche Dinge und Wunder in der Natur geschehen zu lassen. Jene ewigen Wahrheiten hingegen, insoweit sie zum Heile und zur Glückseligkeit der Menschen nützlich sind, lehrt Gott auf eine der Gottheit gemäßere Weise: nicht durch Laut und Schriftzeichen, die hier und da, diesem und jenem verständlich sind, sondern durch die Schöpfung selbst und ihre innerlichen Verhältnisse, die allen Menschen leserlich und verständlich sind. Er bestätigt sie auch nicht durch Wunder, die nur historischen Glauben bewirken; sondern erweckt den von ihm erschaffenen Geist, und gibt ihm Gelegenheit, jene Verhältnisse der Dinge zu beobachten, sich selbst zu beobachten, und von den Wahrheiten zu überzeugen, die er hienieden zu erkennen bestimmt ist.

Ich glaube also nicht, dass die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlich sind, und dass Gott ihnen solche auf eine übernatürliche Weise habe offenbaren müssen. Die dieses behaupten, sprechen der Allmacht oder der Güte Gottes auf der anderen Seite ab, was sie auf der einen Seite seiner Güte zuzulegen glauben. Er war, nach ihrer Meinung, gütig genug, den Menschen diejenigen Wahrheiten zu offenbaren, von welchen ihre Glückseligkeit abhängt; aber nicht allmächtig, oder nicht gütig genug, ihnen selbst die Kräfte zu verleihen, solche zu entdecken. Zudem macht man durch diese Behauptung die Notwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung allgemeiner, als die Offenbarung selbst. Wenn denn das menschliche Geschlecht ohne Offenbarung verderbt und elend sein müsste; warum hat denn der bei weitem größere Teil desselben von jeher ohne wahre Offenbarung gelebt, oder warum müssen beide Indien warten, bis es den Europäern gefällt, ihnen einige Tröster zuzusenden, die ihnen Botschaft bringen sollen, ohne welche sie, dieser Meinung nach, weder tugendhaft, noch glückselig leben können? ihnen Botschaft zu bringen, die sie ihren Umständen, und der Lage ihrer Erkenntnis nach, weder recht verstehen, noch gehörig brauchen können?

Nach den Begriffen des wahren Judentums sind alle Bewohner der Erde zur Glückseligkeit berufen, und die Mittel derselben so ausgebreitet, als die Menschheit selbst, so milde ausgespendet, als die Mittel sich des Hungers und anderer Naturbedürfnisse zu erwehren. Hier der rohen Natur überlassen, die ihre Kraft innerlich empfindet, und sich derselben bedient, ohne sich in Wort und Vortrag anders, als höchst mangelhaft, und gleichsam stammelnd, auslassen zu können; dort durch Wissenschaft und Kunst unterstützt, hellglänzend durch Worte, Bilder und Gleichnisse, durch welche die Wahrnehmungen des inneren Sinnes in deutliche Zeichenerkenntnis verwandelt und aufgestellt werden. Sooft es nützlich war, hat die Vorsehung unter jeder Nation der Erde weise Männer aufstehen lassen, und ihnen die Gabe verliehen, mit hellerem Auge in sich selbst, und um sich her zu schauen, die Werke Gottes zu betrachten, und ihre Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Aber nicht zu allen Zeiten ist dieses nötig oder nützlich. Sehr oft reicht, wie der Psalmist sagt, das Lallen der Kinder und Säuglinge hin, den Feind zu beschämen. Der einfältig lebende Mensch hat sich die Einwürfe noch nicht erkünstelt, die den Sophisten so sehr verwirren. Ihm ist das Wort Natur, der bloße Schall noch nicht zu einem Wesen geworden, das die Gottheit verdrängen will. Er weiß sogar noch wenig von dem Unterschiede zwischen mittelbarer und unmittelbarer Wirkung, und hört und sieht vielmehr die alles belebende Kraft der Gottheit überall: in jeder aufgehenden Sonne, in jedem Regen, der niederfällt, in jeder Blume, die aufblüht, und in jedem Lamme, das auf der Wiese weidet und sich seines Daseins freut. Diese Vorstellungsart hat etwas Fehlerhaftes; allein sie führt unmittelbar zur Erkenntnis eines unsichtbaren allmächtigen Wesens, dem wir alles Gute, das wir genießen, zu verdanken haben. Sobald aber ein Epikur [(341 v. Chr.- 271 v. Chr.) griechischer Philosoph] oder Lukrez [Titus Lucretius Carus (vermutl. 97 v. Chr. – vermutl. 55 v. Chr.) römischer Dichter und Philosoph], ein Helvétius [Claude Adrien H. (1715-1771) französischer Philosoph] oder Hume [David H. (1711-1776) schottischer Philosoph, Ökonom und Historiker] das Unvollständige in dieser Vorstellungsart rügt, und (welches der menschlichen Schwachheit zugute zu halten ist) auf der anderen Seite ausschweift, und mit dem Worte Natur ein täuschendes Spiel treiben will; so erweckt die Vorsehung wiederum andere Männer im Volke, die Vorurteil von Wahrheit trennen, das Übertriebene von beiden Seiten berichtigen, und zeigen, dass die Wahrheit Bestand habe, wenn auch das Vorurteil verworfen wird. Im Grunde ist es immer noch derselbe Stoff; dort mit allen rohen aber kraftvollen Säften, die ihm die Natur gibt; hier mit dem verfeinerten Wohlgeschmacke der Kunst, zur Verdauung leichter, aber auch nur für Schwächliche. Das Tun und Lassen der Menschen und die Sittlichkeit ihres Lebenswandels hat sich von jener rohen Vorstellungsart, im ganzen genommen, vielleicht ebenso gute Folge zu versprechen, als von diesen verfeinerten und gereinigten Begriffen. Manches Volk ist von der Vorsehung bestimmt, diesen Kreislauf der Begriffe durchzuwandern; ja zuweilen mehr als einmal durchzuwandern; aber vielleicht bleibt das Maß und Gewicht ihrer Sittlichkeit in allen diesen mannigfaltigen Epochen, im ganzen genommen, ungefähr dasselbe.

Ich für meinen Teil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weiß nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit, hat einbilden lassen. Man stellt sich das kollektive Ding, das menschliche Geschlecht, wie eine einzige Person vor, und glaubt, die Vorsehung habe sie hierher gleichsam in die Schule geschickt, um aus einem Kinde zum Manne erzogen zu werden. Im Grunde ist das menschliche Geschlecht fast in allen Jahrhunderten, wenn die Metapher gelten soll, Kind und Mann und Greis zugleich, nur an verschiedenen Orten und Weltgegenden. Hier in der Wiege, saugt an der Brust, oder lebt von Rahm und Milch; dort in männlicher Rüstung und verzehrt das Fleisch der Rinder; und an einem anderen Orte am Stabe und schon wieder ohne Zähne. Der Fortgang ist für den einzelnen Menschen, dem die Vorsehung beschieden, einen Teil seiner Ewigkeit hier auf Erden zuzubringen. Jeder geht das Leben hindurch seinen eigenen Weg; diesen führt der Weg über Blumen und Wiesen, jenen über wüste Ebenen oder über steile Berge und gefahrvolle Klüfte. Aber alle kommen auf der Reise weiter, und gehen ihres Weges zur Glückseligkeit, zu welcher sie beschieden sind. Aber dass auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken, und sich vervollkommnen soll, dieses scheint mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu sein; wenigstens ist dieses so ausgemacht, und zur Rettung der Vorsehung Gottes bei weitem so notwendig nicht, als man sich vorzustellen pflegt.

Dass wir doch immer wider alle Theorie und Hypothesen uns sträuben, und von Tatsachen reden, nichts als von Tatsachen hören wollen, und uns gerade da am wenigsten nach Tatsachen umsehen, wo es am meisten darauf ankommt. Ihr wollt erraten, was für Absichten die Vorsehung mit der Menschheit hat? Schmiedet keine Hypothesen; schaut nur umher auf das, was wirklich geschieht, und, wenn ihr einen Überblick auf die Geschichte aller Zeiten werfen könnt, auf das, was von jeher geschehen ist. Dieses ist Tatsache, dieses muss zur Absicht gehört haben, muss in dem Plane der Weisheit genehmigt oder wenigstens mit aufgenommen worden sein. Die Vorsehung verfehlt ihres Endzweckes nie. Was wirklich geschieht, muss von jeher ihre Absicht gewesen sein, oder dazu gehört haben. Nun findet ihr, in Absicht auf das gesamte Menschengeschlecht, keinen beständigen Fortschritt in der Ausbildung, der sich der Vollkommenheit immer näherte. Vielmehr sehen wir das Menschengeschlecht im ganzen kleine Schwingungen machen, und es tat nie einige Schritte vorwärts, ohne bald nachher, mit gedoppelter Geschwindigkeit, in seinen vorigen Stand zurückzugleiten. Die meisten Nationen der Erde leben viele Jahrhunderte auf derselben Stufe von Kultur, in demselben dämmernden Lichte, das unseren verwöhnten Augen viel zu schwach scheint. Je zuweilen entzündet sich ein Punkt in der großen Masse, wird zum glänzenden Gestirne und durchwandelt eine Laufbahn, die ihn nach einer bald kurzen, bald längeren Periode zurückführt, und wiederum an seinen Ort des Stillstandes, oder nicht weit davon, absetzt. Der Mensch geht weiter; aber die Menschheit schwankt beständig zwischen festgesetzten Schranken auf und nieder, behält aber, im ganzen betrachtet, in allen Perioden der Zeit ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion und Irreligion, von Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Elend; dasselbe Resultat, wenn Gleiches mit Gleichem in Berechnung gebracht wird; von allen diesen Gütern und Übeln so viel, als zum Durchgange der einzelnen Menschen erforderlich war, damit diese hienieden erzogen werden, und sich der Vollkommenheit so viel nähern mögen, als einem jeden beschieden und zugeteilt worden. Ich komme wieder zu meiner vorigen Bemerkung. Das Judentum rühmt sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind; keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstände, in welchem man dieses Wort zu nehmen gewohnt ist. Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung. Die Stimme, die sich an jenem großen Tage, auf Sinai hören ließ, rief nicht: „Ich bin der Ewige, dein Gott! das notwendige, selbständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt, nach ihrem Tun.“ Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Judentum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft sind, noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden. Konnte im Grunde nicht; denn wen sollte die Donnerstimme und der Posaunenklang von jenen ewigen Heilslehren überführen? Sicherlich den gedankenlosen Tiermenschen nicht, den seine eigene Betrachtung noch nicht auf das Dasein eines unsichtbaren Wesens geführt hat, dass dieses Sichtbare regiert. Diesem würde die Wunderstimme keine Begriffe eingegeben, also nicht überzeugt haben. Den Sophisten noch weniger, dem so viele Zweifel und Grübeleien vor dem Gehöre sausen, dass er die Stimme des gesunden Menschenverstandes nicht mehr wahrnimmt. Dieser fordert Vernunftgründe, keine Wunderdinge. Und wenn der Religionslehrer alle Toten aus dem Staube erweckt, die jemals auf demselben gestanden haben, um eine ewige Wahrheit dadurch zu bestätigen; der Zweifler spricht: der Lehrer hat viele Tote erweckt, aber von der ewigen Wahrheit weiß ich nicht mehr als vorhin. Ich weiß nunmehr, dass jemand außerordentliche Dinge tun und hören lassen kann, aber dergleichen Wesen kann es mehrere geben, die sich eben jetzt zu offenbaren, nicht für gut finden, und wie weit ist alles dieses noch von der unendlich erhabenen Idee einer einzigen, ewigen Gottheit, die dieses ganze Weltall, nach ihrem unumschränkten Willen regiert, und die geheimsten Gedanken der Menschen durchschaut, um ihre Handlungen, wo nicht hier, doch in jener Zukunft, nach Verdienst zu belohnen? — Wer dieses nicht wusste, wer von diesen zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlichen Wahrheiten nicht durchdrungen, und so vorbereitet zum heiligen Berge hintrat, den konnten die großen wundervollen Anstalten betäuben und niederschlagen, aber nicht eines besseren belehren. — Nein! Alles dieses ward vorausgesetzt, ward vielleicht in den Vorbereitungstagen gelehrt, erörtert und durch menschliche Gründe außer Zweifel gesetzt, und nun rief die göttliche Stimme: „Ich bin der Ewige, dein Gott! der dich aus dem Lande Mizraim [hebräische Name für Ägypten] geführt, aus der Sklaverei befreit hat usw.“ Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volkes gründen sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbart werden; Gebote, Verordnungen, keine ewigen Religionswahrheiten. „Ich bin der Ewige, dein Gott, der mit deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob einen Bund gemacht, und ihnen zugeschworen hat, aus ihrem Samen eine mir eigene Nation zu bilden. Der Zeitpunkt ist endlich gekommen, da diese Verheißung in Erfüllung gehen soll. Ich habe euch zu dem Ende aus der Sklaverei der Ägypter erlöst, mit unerhörten Wundern und Zeichen erlöst. Ich bin euer Erretter, euer Oberhaupt und König, mache auch mit euch einen Bund, und gebe euch Gesetze, nach welchen ihr in dem Lande, das ich euch eingeben werde, leben und eine glückliche Nation sein sollt.“ Alles dieses sind Geschichtswahrheiten, die ihrer Natur nach, auf historischer Evidenz beruhen, durch Autorität bewährt werden müssen, und durch Wunder bekräftigt werden können.

Wunder und außerordentliche Zeichen sind nach dem Judentume keine Beweismittel für oder wider ewige Vernunftwahrheiten. Daher sind wir in der Schrift selbst angewiesen, wenn ein Prophet Dinge lehrt oder anrät, die ausgemachten Wahrheiten zuwider sind, und wenn er seine Sendung auch durch Wunder bekräftigt, ihm nicht zu gehorchen; ja den Wundertäter zum Tode zu verurteilen, wenn er zur Abgötterei verleiten will. Denn Wunder können nur Zeugnisse bewähren, Autoritäten unterstützen; Glaubhaftigkeit der Zeugen und Überlieferer bekräftigen; aber alle Zeugnisse und Autoritäten können keine ausgemachte Vernunftwahrheit umstoßen, keine zweifelhafte über Zweifel und Bedenklichkeit hinwegsetzen.

Ob nun gleich dieses göttliche Buch, das wir durch Mosen empfangen haben, eigentlich ein Gesetzbuch sein, und Verordnungen, Lebensregeln und Vorschriften enthalten soll; so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen unergründlichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Religionslehren mit ein, die mit den Gesetzen so innigst verbunden sind, dass sie nur eins ausmachen. Alle Gesetze beziehen oder gründen sich auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern und erwecken zum Nachdenken über dieselben; so dass unsere Rabbinen mit Recht sagen: die Gesetze und Lehren verhalten sich gegeneinander wie Körper und Seele. Ich werde hiervon weiter unten ein mehreres zu sagen Gelegenheit haben, und begnüge mich dieses hier bloß als eine Tatsache vorauszusetzen, davon sich ein jeder überführen kann, der die Gesetze Moses auch nur in irgendeiner Übersetzung zu dieser Absicht in die Hand nimmt. Die Erfahrung vieler Jahrhunderte lehrt auch, dass dieses göttliche Gesetzbuch einem großen Teil des menschlichen Geschlechts Quelle des Erkenntnisses geworden, aus welcher sie neue Begriffe schöpfen oder die alten berichtigen. Je mehr ihr in demselben forscht, desto mehr erstaunt ihr über die Tiefe der Erkenntnisse, die darin verborgen liegen. Die Wahrheit bietet sich zwar in demselben, in der einfachsten Bekleidung, gleichsam ohne Anspruch, auf den ersten Anblick dar. Allein je näher ihr hinzudringt, je reiner, unschuldiger, hebe- und sehnsuchtsvoller der Blick ist, mit welchem ihr auf sie hinschaut, desto mehr entfaltet sie euch von ihrer göttlichen Schönheit, die sie mit leichtem Flor verhüllt, um nicht von gemeinen unheiligen, Augen entweiht zu werden. Allein alle diese vortrefflichen Lehrsätze werden der Erkenntnis dargestellt, der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorschriften und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes lautet kein einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben; sondern alle heißen: du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die den Weg der Überzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Tatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprache, das man durch Glauben zu übersetzen pflegt, heißt an den meisten Stellen eigentlich Vertrauen, Zuversicht, getroste Versicherung auf Zusage und Verheißung. Abraham vertraute dem Ewigen, und es ward ihm zur Gottseligkeit gerechnet (i. B. M. 15, 6): die Israeliten sahen, und hatten Zutrauen zu dem Ewigen und zu Mosen, seinem Diener (2. B. M. 14, 31). Wo von ewigen Vernunftwahrheiten die Rede ist, heißt es nicht glauben, sondern erkennen und wissen. Damit du erkennst, dass der ewige wahre Gott und außer ihm keiner sei (5. B. M. 4, 39.) Erkenne also und nimm dir zu Sinne, dass der Herr allein Gott sei, oben im Himmel, sowie unten auf der Erde, und sonst niemand (daselbst). Vernimmt Israel! der Ewige, unser Gott ist ein einziges, ewiges Wesen! (5. B. M. 6, 4). Nirgends wird gesagt: glaube Israel, so wirst du gesegnet sein; zweifle nicht, Israel! oder diese und jene Strafe wird dich verfolgen. Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen sind nur für Handlungen, für Tun und Lassen, die in des Menschen Willkür stehen, und durch Begriffe vom Guten und Bösen, also auch von Hoffnung und Furcht gelenkt werden. Glaube und Zweifel, Beifall und Widerspruch hingegen, richten sich nicht nach unserem Begehrungsvermögen, nicht nach Wunsch und Verlangen, nicht nach Fürchten und Hoffen; sondern nach unserer Erkenntnis von Wahrheit und Unwahrheit.

Daher hat auch das alte Judentum keine symbolischen Bücher, keine Glaubensartikel. Niemand durfte Symbola beschwören, niemand ward auf Glaubensartikel beeidigt; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennt, gar keinen Begriff, und müssen sie, nach dem Geiste des echten Judentums, für unstatthaft halten. Majemonides kam zuerst auf den Gedanken, die Religion seiner Väter auf eine gewisse Anzahl von Grundsätzen einzuschränken; damit die Religion, wie er zu verstehen gibt, sowie alle Wissenschaften, ihre Grundbegriffe habe, aus welchen alles übrige hergeleitet wird. Aus diesem bloß zufälligen Gedanken sind die dreizehn Artikel des jüdischen Katechismus entstanden, denen wir das Morgenlied Jigdal, und einige gute Schriften von Chisdai, Albo und Abarbanell zu verdanken haben. Dieses sind auch alle Folgen, die sie bisher gehabt haben. Zu Glaubensfesseln sind sie, gottlob! noch nicht geschmiedet worden. Chisdai bestreitet sie und schlägt Abänderungen vor; Albo schränkt ihre Anzahl ein und will nur von drei Grundartikeln wissen, die mit denen, welche Herbert von Cherbury in späteren Zeiten zum Katechismus vorgeschlagen, ziemlich übereintreffen, und noch andere, hauptsächlich Lorja und seine Schüler, die neueren Kabbalisten, wollen gar keine bestimmte Anzahl von Fundamentallehren gelten lassen und sprechen: in unserer Lehre ist alles fundamental. Indessen ward dieser Streit geführt, wie alle Streitigkeiten dieser Art geführt werden sollten: mit Ernst und Eifer, aber ohne Hass und Bitterkeit; und ob schon die dreizehn Artikel des Majemonides [Moses Maimonides (1135-1204) jüdischer Philosoph] von dem größten Teile der Nation angenommen worden sind; so hat doch meines Wissens noch niemand den Albo verketzert, dass er sie hat einschränken und auf weit allgemeinere Vernunftsätze zurückführen wollen. Hierin haben wir den wichtigen Ausspruch unserer Weisen noch nicht aus der Acht gelassen: „Obgleich dieser löst, jener bindet, so lehren sie doch beide Worte des lebendigen Gottes *).“

Im Grunde kommt auch hier alles auf den Unterschied zwischen Glauben und Wissen, Religionslehren und Religionsgeboten an. Alles menschliche Wissen lässt sich allerdings auf wenige Fundamentalbegriffe einschränken, die zu Grunde gelegt werden. Je weniger, desto fester steht das Gebäude. Aber Gesetze leiden keine Abkürzung. In ihnen ist alles fundamental, und insoweit können wir mit Grunde sagen: Uns sind alle Worte der Schrift, alle Gebote und Verbote Gottes fundamental. Wollt ihr gleichwohl die Quintessenz daraus haben; so hört, wie jener größere Lehrer der Nation, Hillel der Ältere [oder der Alte (ca. 30 v. Chr – 9 n. Chr.) der bedeutendste pharisäische Rabbiner], der vor der Zerstörung des zweiten Tempels lebte, sich dabei genommen. Ein Heide sprach: Rabbi, lehret mich das ganze Gesetz, indem ich auf einem Fuße stehe! Samai, an den er diese Zumutung vorher ergehen ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewiesen; allein der durch seine unüberwindliche Gelassenheit und Sanftmut berühmte Hillel sprach: Sohn! liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses ist der Text des Gesetzes; alles übrige ist Kommentar. Nun gehe hin und lerne!

*) Ich habe so manchen Pedanten diesen Spruch zum Beweise anführen sehen, dass die Rabbinen den Satz des Widerspruchs nicht glauben. Ich wünsche die Tage zu erleben, da alle Völker der Erde diese Ausnahme von dem allgemeinen Satze des Widerspruchs werden gelten lassen: der Fasttag des vierten und der Fasttag des zehnten Monats mag in Wonne- und Freudentag verwandelt werden, nur liebet Wahrheit und Frieden. (Zachar. 8, 19.)

Ich habe nunmehr, zum Grundrisse des alten, ursprünglichen Judentums, wie ich mir solches vorstelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Gesetze; Gesinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die für alle Menschen und Zeiten, unter allen Revokationen der Sprachen, Sitten, Lebensart und Verhältnisse immer dieselben bleiben, uns immer dieselben steifen Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwängen können, ohne sie zu zerstümmeln. Sie wurden dem lebendigen, geistigen Unterrichte anvertraut, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände gleichen Schritt halten und nach dem Bedürfnis, nach der Fähigkeit und Fassungskraft des Lehrlings abgeändert und gemodelt werden kann. Die Veranlassung zu diesem väterlichen Unterrichte fand man in dem geschriebenen Gesetzbuche, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhörlich zu beobachten hatte. Es war anfangs ausdrücklich verboten, über die Gesetze mehr zu schreiben, als Gott der Nation durch Mosen hat verzeichnen lassen. „Was mündlich überliefert worden,“ sagen die Rabbinen, „ist dir nicht erlaubt, niederzuschreiben.“ Mit vielem Widerwillen entschlossen sich die Häupter der Synagoge in den folgenden Zeiten zu der notwendig gewordenen Erlaubnis, über die Gesetze schreiben zu dürfen. Sie nannten diese Erlaubnis eine Zerstörung des Gesetzes und sagten mit dem Psalmisten: „Es ist eine Zeit, da man um des Ewigen willen das Gesetz zerstören muss.“ So sollte es aber, der ursprünglichen Verfassung nach, nicht sein. Das Zeremonialgesetz selbst ist eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist, und ohne Unterlass zu Betrachtungen erweckt, und zum mündlichen Unterrichte Anlass und Gelegenheit gibt. Was der Schüler vom Morgen bis Abend tat und tun sah, war ein Fingerzeig auf religiöse Lehren und Gesinnungen, trieb ihn an, seinem Lehrer zu folgen, ihn zu beobachten, alle seine Handlungen zu bemerken, den Unterricht zu holen, dessen er durch seine Anlagen fähig war, und sich durch sein Betragen würdig gemacht hatte. Die Ausbreitung der Schriften und Bücher, die durch die Erfindung der Druckerei in unseren Tagen ins Unendliche vermehrt worden sind, hat den Menschen ganz umgeschaffen. Die große Umwälzung des ganzen Systems der menschlichen Erkenntnisse und Gesinnungen, die sie hervorgebracht, hat von der einen Seite zwar ersprießliche Folgen für die Ausbildung der Menschheit, dafür wir der wohltätigen Vorsehung nicht genug danken können; indessen hat sie, wie alles Gute, das dem Menschen hienieden werden kann, so manches Übel nebenher zur Folge, das zum Teil dem Missbrauche, zum Teil auch der notwendigen Bedingung der Menschlichkeit zuzuschreiben ist. Wir lehren und unterrichten einander nur in Schriften; lernen die Natur und die Menschen kennen nur aus Schriften; arbeiten und erholen, erbauen und ergötzen uns durch Schreiberei; der Prediger unterhält sich nicht mit seiner Gemeinde, er liest oder deklamiert ihr eine aufgeschriebene Abhandlung vor. Der Lehrer auf dem Katheder liest seine geschriebenen Hefte ab. Alles ist toter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unterhaltung. Wir lieben und zürnen in Briefen, zanken und vertragen uns in Briefen, unser ganzer Umgang ist Briefwechsel, und wenn wir zusammenkommen, so kennen wir keine andere Unterhaltung als spielen oder vorlesen.

Daher ist es gekommen, dass der Mensch für den Menschen fast seinen Wert verloren hat. Der Umgang des Weisen wird nicht gesucht; denn wir finden seine Weisheit in Schriften. Alles was wir tun, ist ihn zum Schreiben aufzumuntern, wenn wir etwa glauben, dass er noch nicht genug hat drucken lassen. Das graue Alter hat seine Ehrwürdigkeit verloren; denn der unbärtige Jüngling weiß mehr aus Büchern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlverstanden, oder übelverstanden, darauf kommt es nicht an; genug er weiß es, trägt es auf den Lippen und kann es dreister an den Mann bringen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr die Begriffe, als die Worte zu Gebote stehen. Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es hat für ein so erschreckliches Übel halten können, dass der Jüngling sich erhebe über den Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe den Untergang prophezeihen können, weil in einer öffentlichen Versammlung sich eine mutwillige Jugend über einen Alten lustig gemacht hatte. Wir brauchen des erfahrenen Mannes nicht, wir brauchen nur seine Schriften. Mit einem Worte, wir sind literati, Buchstabenmenschen. Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab, und wir können kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden und vervollkommnen kann ohne Buch.

So war es nicht in den grauen Tagen der Vorwelt. Kann man nun schon nicht sagen, es war besser; so war es doch sicherlich anders. Man schöpfte aus anderen Quellen, sammelte und erhielt in anderen Gefäßen, und vereinzelte das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel. Der Mensch war dem Menschen notwendiger; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrachtung inniger mit Handlung verbunden. Der Unerfahrene musste dem Erfahrenen, der Schüler seinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, seinen Umgang suchen, ihn beobachten und gleichsam ausholen, wenn er seine Wissbegierde befriedigen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was dieser Umstand für Einfluss auf Religion und Sitten gehabt, muss ich mir abermals eine Abschweifung von meinem Wege erlauben, von der ich aber gar bald wieder einlenken werde. Meine Materie grenzt an so mannigfache andere Materien an, dass ich mich nicht immer auf demselben Gange erhalten kann, ohne in Nebenwege auszuweichen.

Mich dünkt, die Veränderung, die in den verschiedenen Zeiten der Kultur mit den Schriftzeichen vorgegangen, habe von jeher an den Revolutionen der menschlichen Erkenntnisse überhaupt, und insbesondere an den mannigfaltigen Abänderungen ihrer Meinungen und Begriffe in Religionssachen sehr wichtigen Anteil, und wenn sie dieselben nicht völlig allein verursacht, doch wenigstens mit anderen Nebensachen auf eine merkliche Weise mitgewirkt. Kaum hört der Mensch auf, sich mit den ersten Eindrücken der äußeren Sinne zu begnügen, und welcher Mensch kann es lange dabei bewenden lassen? Kaum fühlt er den seiner Seele eingesenkten Sporn, aus diesen äußeren Eindrücken sich Begriffe zu bilden, so wird er die Notwendigkeit gewahr, sie an sinnliche Zeichen zu binden; nicht nur, um sie anderen mitteilen, sondern um sie für sich selbst festhalten, und sooft es nötig ist, wieder beachten zu können. Die ersten Schritte zur Absonderung allgemeiner Merkmale wird er zwar ohne Zeichen tun können und tun müssen; denn noch jetzt müssen alle neue abstrakte Begriffe ohne Hilfe der Zeichen gebildet und sodann erst mit einem Namen belegt werden. Das gemeinsame Merkmal muss zuvörderst durch die Kraft der Aufmerksamkeit, aus dem Gewebe, in welchem es verflochten ist, herausgehoben und hervorstechend gemacht werden. Hierzu verhilft von der einen Seite die objektive Gewalt des Eindrucks, den dieses Merkmal auf uns zu machen fähig ist; sowie von unserer Seite das subjektive Interesse, das wir an demselben haben. Aber dieses Herausheben und Beachten des gemeinsamen Merkmals kostet der Seele einige Anstrengung. Nicht lange, so verschwindet das Licht wieder, das die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt des Gegenstandes gesammelt hatte, und er verliert sich in den Schatten der ganzen Masse, mit welcher er vereinigt ist. Die Seele ist nicht imstande viel weiter zu kommen, wenn diese Anstrengung eine Zeitlang anhalten, und gar zu oft wiederholt werden muss. Sie hat angefangen abzusondern; aber sie kann nicht denken. Wie ist ihr zu raten? — Die weise Vorsehung hat ihr ein Mittel sehr nahe gelegt, dessen sie sich zu allen Zeiten bedienen kann. Sie heftet das abgezogene Merkmal entweder durch eine natürliche oder willkürliche Ideenverbindung an ein sinnliches Zeichen, das, sooft sein Eindruck erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet. So sind, wie bekannt, die aus natürlichen und willkürlichen Zeichen zusammengesetzten Sprachen der Menschen entstanden, ohne welche sie sich nur wenig vom unvernünftigen Tiere hätten unterscheiden können; weil der Mensch, ohne Hilfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann. Sowie die ersten Schritte zur vernünftigen Erkenntnis getan werden mussten, auf eben die Weise werden die Wissenschaften noch jetzt erweitert und mit Erfindungen bereichert, und daher ist zuweilen die Erfindung eines Wortes in den Wissenschaften von großer Wichtigkeit. Der erste, der das Wort Natur erfunden, scheint eben keine große Entdeckung gemacht zu haben. Gleichwohl hatten es seine Zeitgenossen ihm zu verdanken, dass sie den Gaukler, der sie eine Erscheinung in der Luft sehen lies, beschämen, und sagen konnten, sein Spiel sei nichts Übernatürliches, sondern eine Wirkung der Natur. Gesetzt, sie wussten noch nichts Deutliches von den Eigenschaften gebrochener Strahlen, und wie durch dieselben ein Bild in der Luft hervorgebracht werden könne, — und wie weit reicht denn noch jetzt unsere Erkenntnis hierin? Kaum um einen Schritt weiter; denn von der Natur des Lichts selbst und von seinen inneren Bestandteilen sind wir noch wenig unterrichtet; — so wussten sie doch wenigstens eine einzelne Erscheinung auf ein allgemeines Naturgesetz zurückzubringen, und waren nicht genötigt, jedem Spiele eine besondere, freiwillige Ursache zuzuschreiben. So war es auch mit der neueren Entdeckung, dass die Luft eine Schwere habe. Wissen wir schon nicht die Schwere selbst zu erklären, so sind wir doch wenigstens imstande, die Beobachtung, dass die flüssigen Materien in luftleeren Röhren in die Höhe steigen, auf das allgemeine Gesetz der Schwere zu reduzieren, das dem ersten Anscheine nach, vielmehr die Flüssigkeit sinken machen sollte. Wir können begreiflich machen, wie durch das allgemeine Sinken, das wir nicht erklären können, in diesem Falle hat ein Steigen hervorgebracht werden müssen; und auch dieses ist ein Schritt weiter in der Erkenntnis. Es ist also nicht jedes Wort in den Wissenschaften sogleich für leeren Schall zu erklären, wenn es nicht aus früheren Elementarbegriffen hergeleitet werden kann. Genug, wenn es eine allgemeine Eigenschaft der Dinge nur in ihrem wahren Umfange bezeichnet. Der Ausdruck fuga vacui würde nicht zu tadeln gewesen sein, wenn er nicht allgemeiner gewesen wäre als die Beobachtung. Man fand, dass es Fälle gebe, wo die Natur nicht sogleich das Leere anzufüllen eile; daher die Redensart nicht als leer, sondern als falsch zu verwerfen gewesen. — So bleiben die Wörter: Kohäsion der Körper und allgemeine Gravitation in den Wissenschaften noch immer von großer Wichtigkeit; ob wir sie gleich noch nicht aus früheren Grundbegriffen abzuleiten wissen.

Bevor der Herr von Haller das Gesetz der Reizbarkeit entdeckte, wird so mancher Beobachter die Erscheinung selbst in der organischen Natur lebendiger Geschöpfe wahrgenommen haben. Allein sie verschwand in dem ersten Augenblick wieder, und zeichnete sich nicht genug von Nebenerscheinungen aus, um die Aufmerksamkeit des Beobachters festzuhalten. Sooft die Bemerkung wiederkam, war sie ihm eine einzelne Wirkung der Natur, die ihn an die Menge der Fälle nicht erinnern konnte, in welchen er dasselbe wahrgenommen hatte; sie verlor sich also gar bald wieder, sowie die vorhergegangenen, und ließ weiter kein merkliches Andenken in der Seele zurück. Nur Hallern gelang es, diesen Umstand aus der Verbindung herauszuheben, seine Allgemeinheit gewahr zu werden, ihn mit einem Worte zu bezeichnen, und nunmehr hat er unsere Aufmerksamkeit rege gemacht, und wir wissen jeden besonderen Fall, in welchem wir etwas ähnliches inne werden, auf ein allgemeines Naturgesetz hinzuleiten.

Die Bezeichnung der Begriffe ist also doppelt notwendig: einmal für uns selbst, gleichsam als ein Gefäß, worinnen sie verwahrt, und zum Gebrauch bei der Hand bleiben mögen, und sodann um unsere Gedanken anderen mitteilen zu können. Nun haben die Laute oder die hörbaren Zeichen in letzterer Rücksicht einigen Vorzug; denn wenn wir unsere Gedanken anderen mitteilen wollen, so sind die Begriffe schon in der Seele gegenwärtig und wir können, nach Erfordern, die Laute hervorbringen, durch welche sie bezeichnet und unseren Nebenmenschen vernehmlich werden. So aber nicht in Absicht auf uns selbst. Wollen wir die abgesonderten Begriffe zu einer anderen Zeit wieder in der Seele erwecken und vermittels der Zeichen in Erinnerung bringen können; so müssen die Zeichen sich von selbst darbieten, und nicht erst auf unsere Willkür warten, die sie hervorrufe; indem diese schon die Ideen voraussetzt, deren wir uns erinnern wollen. Diesen Vorteil verschaffen die sichtbaren Zeichen, weil sie fortdauernd sind, und nicht immer wieder hervorgebracht werden müssen, um Eindruck zu machen.

Die ersten sichtbaren Zeichen, deren sich die Menschen zu Bezeichnung ihrer abgesonderten Begriffe bedient haben, werden vermutlich die Dinge selbst gewesen sein. Wie nämlich jedes Ding in der Natur einen eigenen Charakter hat, mit welchem es sich von allen übrigen Dingen auszeichnet, so wird der sinnliche Eindruck, den dieses Ding auf uns macht, unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf dieses Unterscheidungszeichen lenken, die Idee desselben rege machen, und also zur Bezeichnung desselben gar füglich dienen können. So kann der Löwe ein Zeichen der Tapferkeit, der Hund ein Zeichen der Treue, der Pfau ein Zeichen der stolzen Schönheit geworden sein, und so haben die ersten Ärzte lebendige Schlangen mit sich geführt, zum Zeichen, dass sie das Schädliche unschädlich zu machen wüssten.

Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden haben, anstatt der Dinge selbst, ihre Bildnisse in Körpern oder auf Flächen zu nehmen; endlich der Kürze halber sich der Umrisse zu bedienen, sodann einen Teil des Umrisses statt des Ganzen gelten zu lassen, und endlich aus heterogenen Teilen ein unförmliches, aber bedeutungsvolles Ganze zusammenzusetzen; und diese Bezeichnungsart ist die Hieroglyphik.

Alles dieses hat, wie man sieht, sich ganz natürlich so entwickeln können; aber von der Hieroglyphik bis zu unserer alphabetischen Schrift — dieser Übergang scheint einen Sprung, und der Sprung mehr als gemeine Menschenkräfte zu erfordern.

Dass zwar, wie einige glauben, unsere alphabetische Schrift bloß Zeichen der Laute, und nicht anders, als vermittels der Laute, auf Sachen und Begriffe anzuwenden sein sollte, ist völlig ohne Grund. Uns, die wir von den hörbaren Zeichen lebhaftere Vorstellungen haben, bringt allerdings die Schrift auf die vernehmlichen Worte zuerst. Uns also geht der Weg von Schrift auf Sache über und durch die Sprache; aber deswegen ist es nicht notwendig also. Dem Taubgeborenen ist die Schrift unmittelbar Bezeichnung der Sachen, und wenn er sein Gehör erlangt, werden ihn in den ersten Zeiten sicherlich die Schriftzeichen zuerst auf die unmittelbar mit ihnen verbundenen Dinge, und sodann erst vermittels derselben auf die Laute bringen, die ihnen entsprechen. Die Schwierigkeit, die ich mir beim Übergänge auf unsere Schrift vorstelle, ist eigentlich diese, dass man ohne Vorbereitung und Anlass hat den überdachten Vorsatz fassen müssen, durch eine geringe Anzahl von Elementarzeichen und ihre möglichen Versetzungen eine Menge von Begriffen zu bezeichnen, die weder zu übersehen, noch dem ersten Anscheine nach in Klassen zu bringen, und dadurch zu umfassen scheinen mussten.

Indessen ist auch hier der Gang des Verstandes nicht ganz ohne Leitung gewesen. Da man sehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede und Rede in Schrift zu verwandeln, und also die hörbaren Zeichen mit den sichtbaren zu vergleichen; so kann man gar bald bemerkt haben, dass sowohl in der Redesprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Bildern dieselben Teile öfters wiederkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeutung vervielfältigen. Endlich wird man gewahr worden sein, dass die Laute, die der Mensch hervorbringen und vernehmlich machen kann, so unendlich an der Zahl nicht sind, als die Dinge, welche durch sie bezeichnet werden, dass man den ganzen Umfang aller vernehmlichen Laute gar bald umfassen und in Klassen abteilen könne. Und sonach kann man diese Einteilung, anfangs unvollständig versucht, mit der Zeit ergänzt und immer verbessert, und jeder Klasse ein ihr entsprechendes Schriftzeichen aus der Hieroglyphik zugeeignet haben. Es bleibt zwar auch so noch eine der herrlichsten Entdeckungen des menschlichen Geistes; allein man sieht doch wenigstens, wie die Menschen haben allmählich, ohne Flug der Erfindungskraft, darauf geführt werden können, sich das unermessliche als messbar zu denken, gleichsam den gestirnten Himmel in Figuren abzuteilen, und so jedem Sterne seinen Ort anzuweisen, ohne die Anzahl der Sterne zu wissen. Ich glaube, bei den hörbaren Zeichen war die Spur leichter zu entdecken, der man nur nachgehen durfte, um die Figuren wahrzunehmen, in welche sich das unermessliche Heer der menschlichen Begriffe bringen ließe; und sodann war es so schwer nicht mehr, die Anwendung davon auf die Schrift zu machen, und auch diese zu schlichten, und in Klassen abzuteilen. Mich dünkt daher, ein Volk von Taubgeborenen würde mehr Erfindungskraft anzustrengen haben, von der Hieroglyphik auf die alphabetische Schrift zu kommen; weil sich's bei den Schriftzeichen nicht so leicht einsehen lässt, dass sie einen fasslichen Umfang haben und in Klassen zu bringen seien. Ich bediene mich des Wortes Klassen, sooft von den Elementen der lautbaren Sprachen die Rede ist; denn noch jetzt in unseren lebendigen, ausgebildeten Sprachen ist die Schrift bei weitem so mannigfaltig nicht, als die Rede, und wird dasselbe Schriftzeichen in verschiedener Verbindung und Stellung verschiedentlich gelesen und ausgesprochen. Gleichwohl ist es offenbar, dass wir durch den häufigen Gebrauch der Schrift unsere Redesprache eintöniger, und nach Anleitung und Bedürfnis der Schrift elementarischer gemacht haben. Daher die Nationen, die der Schrift nicht kundig sind, eine weit größere Mannigfaltigkeit in ihrer Redesprache haben, und viele Laute in derselben so unbestimmt sind, dass wir sie durch unsere Schriftzeichen nur sehr unvollkommen anzudeuten imstande sind. Man wird also anfangs die Sachen haben im ganzen nehmen, und eine Menge ähnlicher Laute durch ein und eben dasselbe Schriftzeichen bezeichnen müssen. Mit der Zeit aber werden feinere Unterschiede wahrgenommen, und zu ihrer Bezeichnung mehrere Buchstaben angenommen worden sein. Dass aber unser Alphabet aus einer Art von hieroglyphischer Schrift entlehnt worden, ist noch jetzt an den meisten Zügen und Namen des hebräischen Alphabets [siehe Abbildung 2] zu erkennen, und aus diesen sind, wie aus der Geschichte offenbar ist, alle übrigen uns bekannten Schriftarten entstanden. Ein Phönizier war es, der die Griechen in der Kunst zu schreiben unterrichtete.

Alle diese verschiedenen Modifikationen der Schrift und Bezeichnungsarten müssen auch auf den Fortgang und Verbesserung der Begriffe, Meinungen und Kenntnisse verschiedentlich gewirkt haben. Von der einen Seite zu ihrem Vorteil. Die Beobachtungen, Versuche und Betrachtungen in astronomischen, ökonomischen, moralischen und religiösen Dingen wurden vervielfältigt, ausgebreitet, erleichtert und den Nachkommen aufbehalten. Sie sind die Zellen, in welche die Bienen ihren Honig sammeln, und zum Genüsse für sich und andere aufbewahren. — Allein, wie es in menschlichen Dingen allezeit geht. Was die Weisheit hier baut, sucht die Torheit dort schon wieder einzureißen, und meistenteils bedient sie sich derselben Mittel und Werkzeuge. Missverstand von der einen und Missbrauch von der anderen Seite verwandelten das, was Verbesserung des menschlichen Zustandes sein sollte, in Verderben und Verschlimmerung. Was Einfalt und Unwissenheit war, ward nunmehr Verführung und Irrtum. Von der einen Seite Missverstand: der große Haufe war von den Begriffen, die mit diesen sinnlichen Zeichen verbunden sein sollten, gar nicht oder nur halb unterrichtet. Sie sahen die Zeichen nicht als bloße Zeichen an, sondern hielten sie für die Dinge selbst. Solange man sich noch der Dinge selbst oder ihrer Bildnisse und Umrisse statt der Zeichen bediente, war dieser Irrtum leicht möglich. Die Dinge hatten außer ihrer Bedeutung auch ihre eigene Realität. Die Münze war zugleich Ware, die ihren eigenen Gebrauch und Nutzen hat; daher der Unwissende desto leichter ihren Wert als Münze verkennen und unrichtig angeben konnte. Die hieroglyphische Schrift konnte zwar zum Teil diesen Irrtum benehmen oder begünstigte ihn wenigstens so sehr nicht, als die Umrisse; denn diese waren aus heterogenen und übel passenden Teilen zusammengesetzt; unförmliche und widersinnige Gestalten, die kein eigenes Dasein in der Natur haben und also, wie man denken sollte, nicht für Schrift genommen werden konnten. Allein dieses rätselhafte und fremde in der Zusammensetzung selbst gab dem Aberglauben Stoff zu mancherlei Erdichtung und Fabel. Heuchelei und mutwilliger Missbrauch waren von der anderen Seite geschäftig, und gaben ihm Märchen an die Hand, die er zu erfinden nicht sinnreich genug war. Wer einmal Gewicht und Ansehen sich erworben, möchte solches, wo nicht vermehren, doch wenigstens gern erhalten. Wer einmal auf eine Frage eine befriedigende Antwort gegeben, möchte solche gern niemals schuldig bleiben. Da ist keine Fratze so ungereimt, keine Posse so possenhaft, zu der man nicht seine Zuflucht nimmt, keine Fabel so vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubilden sucht, um nur auf jedes Warum? also fort mit einem Darum zur Hand sein zu können. Unaussprechlich bitter wird das Wort: ich weiß nicht! wenn man sich erst als ein Vielwissender oder gar Alleswissender angekündigt hat; insbesondere, wenn Stand und Amt und Würde von uns zu fordern scheint, dass wir wissen sollen. Ach! wie manchem mag das Herz schlagen, wenn er jetzt auf dem Punkte ist, Gewicht und Ansehen zu verlieren, oder an der Wahrheit zum Verräter zu werden; und wie wenige besitzen die Klugheit des Sokrates, selbst in den Fällen, wo man etwas mehr weiß, als sein Nächster, immer noch die erste Antwort sein zu lassen: ich weiß nichts! damit man sich selbst Verlegenheit erspare, und auf den Fall, da ein solches Bekenntnis nötig sein würde, die Selbstdemütigung zum voraus leichter gemacht habe.

Indessen sieht man, wie hieraus hat Tierdienst und Bilderdienst, Götzen- und Menschendienst, Fabeln und Märchen entstehen können, und wenn ich dieses schon nicht für die einzige Quelle der Mythologie ausgebe; so glaube ich doch, dass es zur Entstehung und Fortpflanzung aller dieser Albernheiten sehr viel hat beitragen können. Insbesondere lässt sich hieraus eine Bemerkung erklären, die Herr Pr. Meiners irgendwo in seinen Schriften gemacht hat. Er will durchgehends bemerkt haben, dass bei den ursprünglichen Nationen, solchen nämlich, die sich selbst gebildet, und ihre Kultur keiner anderen Nation zu verdanken haben, mehr Tierdienst als Menschendienst im Schwünge gewesen, ja leblose Dinge weit eher als Menschen göttlich verehrt und angebetet worden seien. Ich setze die Richtigkeit der Bemerkung voraus, und lasse den philosophischen Geschichtsforscher dafür die Gewähr leisten. Ich will versuchen sie zu erklären!

Wenn die Menschen die Dinge selbst oder ihre Bildnisse und Umrisse Zeichen der Begriffe sein lassen, so können sie zur Bezeichnung moralischer Eigenschaften keine Dinge bequemer und bedeutender finden als die Tiere. Die Ursachen sind eben dieselben, die mein Freund Lessing in seiner Abhandlung von der Fabel angibt, warum Äsop die Tiere zu seinen handelnden Wesen in der Apologie gewählt hat. Jedes Tier hat seinen bestimmten, auszeichnenden Charakter, und kündigt sich dem ersten Anblicke gleich von dieser Seite an, indem die ganze Bildung desselben meistenteils auf dieses eigentümliche Unterscheidungszeichen hinweist. Dieses Tier ist behende, jenes scharfsichtig; dieses stark, jenes gelassen; dieses treu und den Menschen ergeben, jenes falsch oder liebt die Freiheit usw. Ja die leblosen Dinge selbst haben in ihrem Äußeren mehr Bestimmtheit als der Mensch dem Menschen. Dieser sagt, dem ersten Anblicke nach, nichts, oder vielmehr alles. Er besitzt diese Eigenschaften alle, schließt keine derselben wenigstens völlig aus, und das Mehr oder Weniger davon zeigt er nicht sogleich an der Oberfläche. Sein unterscheidender Charakter fällt also nicht in die Augen, und er ist zur Bezeichnung moralischer Begriffe und Eigenschaften das unbequemste Ding in der Natur.

Noch jetzt können in den bildenden Künsten die Personen der Götter und Helden nicht besser angedeutet werden, als vermittels der tierischen oder leblosen Bilder, die man ihnen zugesellt. Ist schon eine Minerva von einer Juno der Bildung nach unterschieden, so zeichnen sie sich gleichwohl durch die tierischen Merkmale, die ihnen zugegeben werden, weit besser aus. Auch der Dichter, wenn er von sittlichen Eigenschaften in Metaphern und Allegorien reden will, nimmt meistenteils seine Zuflucht zu den Tieren. Löwe, Tiger, Adler, Stier, Fuchs, Hund, Bär, Wurm, Taube, alles dieses spricht, und die Bedeutung springt in die Augen. Daher wird man zuerst auch die Eigenschaften des Anbetungswürdigsten durch dergleichen Zeichen haben anzudeuten und sinnlich zu machen gesucht. In der Notwendigkeit, diese abgezogensten Begriffe an sinnliche Dinge zu heften, und an solche sinnlichen Dinge, die am wenigsten vieldeutig sind, wird man tierische Bilder haben wählen oder aus ihnen welche zusammensetzen müssen. Und wir haben gesehen, wie ein so unschuldiges Ding, eine bloße Schriftart, in den Händen der Menschen gar bald ausarten und in Abgötterei übergehen kann. Natürlich also wird alle ursprüngliche Abgötterei mehr Tierdienst als Menschendienst sein. Menschen konnten zur Bezeichnung göttlicher Eigenschaften gar nicht gebraucht werden, und die Vergötterung derselben musste von einer ganz anderen Seite kommen. Es mussten etwa Helden und Eroberer, oder Weise, Gesetzgeber und Propheten aus einer glücklichen und früher gebildeten Weltgegend herübergekommen sein, und sich durch außerordentliche Talente so hervorgetan, so erhaben gezeigt haben, dass man sie als Boten der Gottheit oder als die Gottheit selbst verehrte. Dass dieses aber weit füglicher bei Nationen eintreffen kann, die ihre Kultur nicht sich selbst, sondern anderen zu verdanken haben, lässt sich leicht begreifen, weil, wie das gemeine Sprichwort lautet, ein Prophet in seiner Heimat selten zu außerordentlichem Ansehen gelangt. — Und sonach wäre die Bemerkung des Herrn Meiners eine Art von Bestätigung für meine Hypothese, dass das Bedürfnis der Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgötterei gewesen.

Bei Beurteilung der Religionsbegriffe einer sonst noch unbekannten Nation muss man sich, aus eben der Ursache, hüten, nicht alles mit eigenen heimischen Augen zu sehen, um nicht Götzendienst zu nennen, was im Grunde vielleicht nur Schrift ist. Man stelle sich vor, ein zweiter Omhya [Omai, ein Südsee-Insulaner, lebte 1774 - 1776 in England und überraschte durch seine Intelligenz und seine guten Manieren], der von dem Geheimnis der Schreibkunst nichts wüsste, würde plötzlich, ohne sich nach und nach an unsere Ideen zu gewöhnen, aus seinem Weltteile in irgendeinen der bilderfreiesten Tempel von Europa — um das Beispiel auffallender zu machen — in den Tempel der Providenz versetzt. Er fände alles leer von Bildern und Verzierung; nur dort auf der weißen Wand einige schwarze Züge *), die vielleicht das Ungefähr dahingestrichen. Doch nein! die ganze Gemeinde schaut auf diese Züge mit Ehrfurcht, faltet die Hände zu ihnen, richtet zu ihnen die Anbetung. Nun führt ihn ebenso schnell und ebenso plötzlich nach Othaiti zurück, und lässt ihn seinen neugierigen Landsleuten von den Religionsbegriffen des D. Philantropins Bericht abstatten. Werden sie den abgeschmackten Aberglauben ihrer Mitmenschen nicht zugleich belachen und bedauern, die so tief gesunken sind, schwarzen Zügen auf weißem Grunde göttliche Ehre zu erzeigen? — Ähnliche Fehler mögen unsere Reisenden sehr oft begehen, wenn sie uns von der Religion entfernter Völker Nachricht erteilen. Sie müssen sich die Gedanken und Meinungen einer Nation sehr genau bekannt machen, bevor sie mit Zuverlässigkeit sagen können, ob die Bilder bei ihr noch den Geist der Schrift haben oder schon in Abgötterei ausgeartet sind. Die Eroberer Jerusalems fanden bei Plünderung des Tempels die Cherubim auf der Lade des Bundes und hielten sie für die Götzenbilder der Juden. Sie sahen alles mit barbarischen Augen und aus ihrem Gesichtspunkte. Ein Bild der göttlichen Vorsehung und obwaltenden Gnade nahmen sie, ihrer Sitte nach, für Bild der Gottheit, für Gottheit selber, und freuten sich ihrer Entdeckung. So lachen die Leser noch jetzt über die indianischen Weltweisen, die dieses Weltall von Elefanten tragen lassen; die Elefanten auf eine große Schildkröte stellen, diese von einem ungeheuren Bären halten, und den Bär auf einer unermesslichen Schlange ruhen lassen. Die guten Leute haben wohl an die Frage nicht gedacht: worauf ruht denn die unermessliche Schlange?

*) Die Worte: Gott, allweise, allmächtig, allgütig, belohnt das Gute.

Nun lest in der Schasta der Gentoos selbst die Stelle, in welcher ein Sinnbild dieser Art beschrieben wird, das wahrscheinlicherweise zu dieser Sage Gelegenheit gegeben hat. Ich entlehne sie aus dem zweiten Teil der Nachrichten von Bengalen und dem Kaisertum Indostan von J. Z. Hollwell, der sich in den heiligen Büchern der Gentoos hat unterrichten lassen und imstande war mit den Augen eines eingeborenen Brahminen zu sehen. So lauten die Worte im achten Abschnitte:

„Modu und Kytu (zwei Ungeheuer, Zwietracht und Aufruhr) waren überwunden, und nun trat der Ewige aus der Unsichtbarkeit hervor und Glorie umgab ihn von allen Seiten.

Der Ewige sprach: du Birma (Schöpfungskraft)! erschaffe und bilde alle Dinge der neuen Schöpfung mit dem Geiste, den ich dir einhauche. — Und du, Bistnu (Erhaltungskraft)! beschütze und erhalte die erschaffenen Dinge und Formen nach meiner Vorschrift. — Und du, Sieb (Zerstörung, Umbildung)! verwandle die Dinge der neuen Schöpfung und bilde sie um, mit der Kraft, die ich dir verleihen werde.

Birma, Bistnu und Sieb vernahmen die Worte des Ewigen, bückten sich und bezeigten Gehorsam.

Also fort schwamm Birma auf die Oberfläche des Johala (Meerestiefe), und die Kinder Modu und Kytu flohen und verschwanden, als er erschien.

Als durch den Geist des Birma die Bewegungen der Tiefen sich legten, verwandelte sich Bistnu in einen mächtigen Bär (Zeichen der Stärke bei den Gentoos, weil er in Verhältnis seiner Größe das stärkste Tier ist), stieg hinab in die Tiefen des Johala und zog mit seinen Hauern Murto (die Erde) ans Licht. — Sodann entsprangen aus ihm freiwillig eine mächtige Schildkröte (Zeichen der Beständigkeit bei den Gentoos) und eine mächtige Schlange (derselben Zeichen der Weisheit). Und Bistnu richtete die Erde auf dem Rücken der Schildkröte auf und setzte Murto auf das Haupt der Schlange usw.“

Alles dieses findet man bei ihnen auch in Bildern vorgestellt, und man sieht, wie leicht solche Sinnbilder und Bilderschrift zu Irrtümern verleiten können.

Die Geschichte der Menschheit hat wirklich, wie bekannt, einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten zurückgelegt, in welchen ein wirklicher Götzendienst fast auf dem ganzen Erdboden zur herrschenden Religion geworden. Die Bilder hatten ihren Wert als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbewahrt werden sollte, war verduftet und das schale Vehikulum, das zurückblieb, in verderbliches Gift verwandelt. Die Begriffe von der Gottheit, die in den Volksreligionen sich noch erhielten, waren von Aberglauben so entstellt, von Heuchelei und Pfaffenlist so verderbt, dass man mit Grund zweifeln konnte: ob nicht Ungötterei der menschlichen Glückseligkeit weniger schädlich, ob sozusagen, die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sei, als eine solche Religion. Menschen, Tiere, Pflanzen, die scheußlichsten und verächtlichsten Dinge in der Natur wurden angebetet und als Gottheiten verehrt; oder vielmehr als Gottheiten gefürchtet. Denn von der Gottheit hatten die öffentlichen Volksreligionen der damaligen Zeiten keinen anderen Begriff als von einem furchtbaren Wesen, das uns Erdbewohnern an Macht überlegen, leicht zum Zorne zu reizen und schwer zu versöhnen ist. Zur Schmach des menschlichen Verstandes und Herzens wusste der Aberglaube die unverträglichsten Begriffe miteinander zu verbinden, Menschenopfer und Tierdienst nebeneinander gelten zu lassen. In den prächtigsten, nach allen Regeln der Kunst erbauten und ausgezierten Tempeln sah man, wie Plutarch sich ausdrückt, zur Schande der Vernunft, sich nach der Gottheit um, die hier angebetet würde, und fand auf dem Altar eine scheußliche Meerkatze; und diesem Untiere wurden blühende Jünglinge und Mädchen geschlachtet. So tief hatte die Abgötterei die menschliche Natur erniedrigt! Man schlachtete Menschen, wie der Prophet in einer emphatischen Antithese sich ausdrückt, man schlachtete Menschen, um sie dem angebeteten Vieh zu opfern.

Hier und da wagten es zuweilen die Philosophen, sich dem allgemeinen Verderbnis zu widersetzen und öffentlich, oder durch geheime Anstalten, die Begriffe zu reinigen und aufzuklären. Sie versuchten es, den Bildern ihre alte Bedeutung wiederzugeben, oder auch neue unterzulegen, und dadurch dem toten Leichnam gleichsam seinen Geist wieder einzuhauchen. Aber vergeblich! Auf die Religion des Volks hatten ihre vernünftigen Erklärungen keinen Einfluss. So gierig der ungebildete Mensch nach Erklärung zu sein scheint, so unzufrieden ist er, wenn sie ihm in ihrer wahren Einfalt gegeben wird. Was ihm verständlich ist, wird ihm gar bald zum Überdrusse und verächtlich, und er geht immer nach neuen, geheimnisvollen, unerklärbaren Dingen aus, die er mit verdoppeltem Wohlgefallen beherzigt. Seine Wissbegier will immer gespannt, niemals befriedigt sein. Der öffentliche Vortrag fand also bei den größten Haufen kein Gehör, oder vielmehr von Seiten des Aberglaubens und der Heuchelei den hartnäckigsten Widerstand, und empfing seinen gewöhnlichen Lohn, Verachtung oder Hass und Verfolgung. Die geheimen Anstalten und Vorkehrungen, in welchen die Rechte der Wahrheit einigermaßen aufrecht erhalten werden sollten, gingen zum Teil selbst den Weg der Korruption, und wurden zu Pflanzschulen alles Aberglaubens, aller Laster und aller Abscheulichkeiten.

Eine gewisse Schule der Weltweisen fasste den kühnen Gedanken, die abgesonderten Begriffe der Menschen von allem bildlichen und bildähnlichen zu entfernen, und an solche Schriftzeichen zu binden, die ihrer Natur nach für nichts anderes genommen werden können, an Zahlen. Da die Zahlen an und für sich selbst nichts vorstellen, mit keinem sinnlichen Eindrucke in natürlicher Verbindung stehen, so sollte man glauben, sie wären keiner Missdeutung fähig; man müsste sie für willkürliche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder als unverständlich dahingestellt sein lassen. Hier sollte man meinen, kann der roheste Verstand nicht Zeichen mit Sachen verwechseln, und aller Mißbrauch wäre durch diesen feinen Kunstbegriff verhütet. Wem die Zahlen nicht verständlich sind, dem sind sie leere Figuren. Wen sie nicht aufklären, den können sie wenigstens nicht verführen. So konnte sich der große Stifter dieser Schule bereden. Allein gar bald ging in dieser Schule selbst der Unverstand seinen alten Gang. Unzufrieden mit dem, was man so verständlich, so begreiflich fand, suchte man in den Zahlen selbst eine geheime Kraft, in den Zeichen abermals eine unerklärbare Realität, wodurch abermals ihr Wert als Zeichen verloren ging. Man glaubte, oder machte wenigstens andere glauben, dass in diesen Zahlen alle Geheimnisse der Natur und der Gottheit verborgen lägen, schrieb ihnen wundertätige Kraft zu, und wollte durch und vermittels derselben nicht nur die Neuund Wissbegierde der Menschen, sondern ihre ganze Eitelkeit, ihr Streben nach hohen unerreichbaren Dingen, ihren Vorwitz und ihre Habsucht, ihren Geiz' und ihren Wahnsinn befriedigen. Mit einem Worte, die Torheit hatte abermals die Anschläge der Weisheit vereitelt und das wieder vernichtet, oder gar zu ihrem Gebrauch verwendet, was diese zu besserem Endzwecke angeschafft hatte.

Und nun bin ich imstande, meine Vermutung von der Bestimmung des Zeremonialgesetzes im Judentume deutlicher zu machen. — Die Stammväter unserer Nation, Abraham, Isaak und Jakob, sind dem Ewigen treu geblieben, und haben lautere, von aller Abgötterei entfernte Religionsbegriffe bei ihren Familien und Nachkommen zu erhalten gesucht. Und nun waren diese ihre Nachkommen von der Vorsehung ausersehen, eine priesterliche Nation zu sein; das ist, eine Nation, die durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch ihre Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veränderungen immer auf gesunde unverfälschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinweise, solche unter Nationen gleichsam durch ihr bloßes Dasein, unaufhörlich lehre, rufe, predige und zu erhalten suche. Sie lebten unter Barbaren und Götzendienern im äußersten Druck, und das Elend hatte sie beinahe gegen die Wahrheit so fühllos gemacht, als ihre Unterdrücker der Übermut. Gott befreite sie aus diesem sklavischen Zustande, durch außerordentliche Wundertaten, ward der Erretter, Anführer, König, Gesetzgeber und Gesetzverweser dieser von ihm gebildeten Nation, und legte ihre ganze Verfassung so an, wie es die weisen Absichten seiner Vorsehung erforderten. Schwach und kurzsichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen, ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe seinen Plan ganz übersehen, weiß seine Absichten, Maß und Ziel und Grenze zu bestimmen? Aber erlaubt ist dem bescheidenen Forscher zu mutmaßen, aus dem Erfolge zu schließen, wenn er nur beständig eingedenk ist, dass er nichts als vermuten kann.

Wir haben gesehen, was für Schwierigkeit es hat, die abgesonderten Begriffe der Religion unter den Menschen durch fortdauernde Zeichen zu erhalten. Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabetische Schreiberei macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Erkenntnis der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehre und Leben eine gar zu weite Trennung. Diesen Mängeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonialgesetz. Mit dem alltäglichen Tun und Lassen der Menschen sollten religiöse und sittliche Erkenntnisse verbunden sein. Das Gesetz trieb sie zwar nicht zum Nachdenken an, schrieb ihnen bloß Handlungen, bloß Tun und Lassen vor. Die große Maxime dieser Verfassung scheint gewesen zu sein: Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlasst werden. Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Gebrauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Erkenntnis der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung stand, und dem Wahrheitsforscher eine Veranlassung war, über jene geheiligten Dinge selbst nachzudenken oder von weisen Männern Unterricht einzuholen. Die zur Glückseligkeit der Nation sowohl als der einzelnen Glieder derselben nützlichen Wahrheiten sollten von allem Bildlichen äußerst entfernt sein; denn dieses war Hauptzweck und Grundgesetz der Verfassung. An Handlungen und Verrichtungen sollten sie gebunden sein, und diese ihnen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen. Die Handlungen der Menschen sind vorübergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdauerndes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Missverstand zur Abgötterei führen kann. Sie haben aber auch den Vorzug vor Buchstabenzeichen, dass sie den Menschen nicht isolieren, nicht zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen. Sie treiben vielmehr zum Umgange, zur Nachahmung und zum mündlichen, lebendigen Unterricht. Daher waren der geschriebenen Gesetze nur wenig, und auch diese ohne mündlichen Unterricht und Überlieferung nicht ganz verständlich, und es war verboten, über dieselbe mehr zu schreiben. Die ungeschriebenen Gesetze aber, die mündliche Überlieferung, der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz, sollte erklären, erweitern, einschränken und näher bestimmen, was in dem geschriebenen Gesetze, aus weisen Absichten, und mit weiser Mäßigung unbestimmt geblieben ist. In allem, was der Jüngling tun sah, in allen öffentlichen sowohl als Privatverhandlungen, an allen Toren und an allen Türpfosten, wohin er die Augen oder die Ohren wendete, fand er Veranlassung zum Forschen und Nachdenken, Veranlassung einem älteren und weiseren Manne auf allen seinen Tritten zu folgen, seine kleinsten Handlungen und Verrichtungen mit kindlicher Sorgfalt zu beobachten, mit kindlicher Gelehrigkeit nachzuahmen, nach dem Geiste und der Absicht dieser Verrichtungen zu forschen und den Unterricht einzuholen, dessen sein Meister ihn fähig und empfänglich hielt. So war Lehre und Leben, Weisheit und Tätigkeit, Spekulation und Umgang auf das innigste verbunden; oder so sollte es vielmehr der ersten Einrichtung und Absicht des Gesetzgebers nach sein; aber, unerforschlich sind die Wege Gottes! Auch hier ging es nach einer kurzen Periode den Weg des Verderbnisses. Nicht lange, so war auch dieser glänzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zurück, von welcher sie ausgegangen waren, wie leider! seit vielen Jahrhunderten am Tage liegt.

Schon in den ersten Tagen der so wundervollen Gesetzgebung fiel die Nation in den sündlichen Wahn der Ägypter zurück, und verlangte ein Tierbild. Ihrem Vorgeben nach, wie es scheint, nicht eigentlich als eine Gottheit zum Anbeten; hierin würde der Hohepriester und Bruder des Gesetzgebers nicht gewillfahrt haben, und wenn sein Leben noch so sehr in Gefahr gewesen wäre. — Sie sprachen bloß von einem göttlichen Wesen, das sie anführen und die Stelle Moses vertreten sollte, von dem sie glaubten, dass er seinen Posten verlassen hätte. Aron vermochte dem Andringen des Volkes nicht länger zu widerstehen, goss ihnen ein Kalb, und um sie bei dem Vorsatze festzuhalten, dieses Bild nicht, sondern den Ewigen allein göttlich zu verehren, rief er: morgen sei dem Ewigen zu Ehren ein Fest! Aber am Festtage, beim Tanz und Schmaus ließ der Pöbel ganz andere Wort hören: dieses sind deine Götter, Israel! die dich aus Ägypten geführt haben! Nun war das Fundamentalgesetz übertreten, das Band der Nation aufgelöst. Vernünftige Vorstellungen fruchten selten bei einem aufgewiegelten Pöbel, wenn die Unordnung erst eingerissen, und man weiß, zu welchen harten Maßregeln der göttliche Gesetzgeber sich hat entschließen müssen, das aufrührerische Gesindel wieder zum Gehorsam zu bringen. Es verdient indessen angemerkt und bewundert zu werden, was die Vorsehung Gottes aus diesem unglücklichen Vorfalle selbst für Vorteil zu ziehen, zu welcher erhabenen und ganz ihrer würdigen Absicht sie ihn anzuwenden gewusst hat?

Ich habe bereits oben angeführt, dass das Heidentum von der Macht der Gottheit noch erträglichere Begriffe gehabt, als von ihrer Güte. Der gemeine Mann hält Güte und Leichtversöhnlichkeit für Schwachheit. Er beneidet jeden um den mindesten Vorzug an Macht, Reichtum, Schönheit, Ehre usw., nur nicht um den Vorzug an Gütigkeit. Und wie kann er auch dieses, da es doch größtenteils nur von ihm selbst abhängt, den Grad von Sanftmut zu erlangen, den er beneidenswert findet? Es gehört Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, dass Hass und Rachsucht, Neid und Grausamkeit im Grunde nichts anderes als Schwachheit, lediglich Wirkungen der Furcht sind. Furcht, mit zufälliger, unsicherer Überlegenheit verbunden, ist die Mutter aller dieser barbarischen Gesinnungen. Nur die Furcht macht grausam und unversöhnlich. Wer sich seiner Überlegenheit mit Sicherheit bewusst ist, findet weit größere Glückseligkeit in Nachsicht und Verzeihung.

Hat man erst dieses einsehen gelernt, so kann man nicht länger Anstand nehmen, Liebe für einen wenigstens ebenso erhabenen Vorzug zu halten als Macht, und dem allerhöchsten Wesen, dem man Allmacht zuschreibt, auch Allgütigkeit zuzutrauen; den Gott der Stärke auch für den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie weit war das Heidentum von dieser Verfeinerung entfernt! Ihr findet in ihrer ganzen Götterlehre, in allen Gedichten und anderen Überbleibseln der früheren Zeit keine Spur, dass sie irgendeiner ihrer Gottheiten auch Liebe und Barmherzigkeit gegen die Menschenkinder zugeschrieben hätten. „Sowohl das Volk,“ sagt Herr Meiners *) von dem weisesten Staate der Griechen, „sowohl das Volk, als der größte Teil seiner tapfersten Heerführer und weisesten Staatsmänner, hielten die Götter, die sie anbeteten, zwar für Wesen, die mächtiger als Menschen wären, die aber mit ihnen einerlei Bedürfnisse, Leidenschaften, Schwachheiten und sogar Laster hätten. — Alle Götter schienen den Atheniensern, sowie den übrigen Griechen, so bösartig, dass sie sich einbildeten: ein außerordentliches oder lange dauerndes Glück ziehe den Zorn und die Missgunst der Götter auf sich, und werde durch ihre Veranstaltungen über den Haufen geworfen. Sie dachten sich ferner eben diese Götter so reizbar, dass sie alle Unglücksfälle für göttliche Strafen ansahen, die ihnen nicht um allgemeiner Sittenverderbnis oder einzelner großen Verbrechen willen, sondern wegen unbedeutender, meistens unwillkürlicher Nachlässigkeiten bei gewissen Gebräuchen und Feierlichkeiten zugeschickt wurden.“ Im Homer selbst, in dieser sanften, liebevollen Seele, war der Gedanke noch nicht aufgeglüht, dass die Götter aus Liebe verzeihen, dass sie ohne Wohlwollen in ihrem himmlischen Wohnsitze nicht selig sein würden.

*) Geschichte der Wissenschaften in Griechenland und Rom. Zweiter Band, S. 77.

Und nun sehe man, mit welcher Weisheit der Gesetzgeber der Israeln sich ihrer schrecklichen Vergehung gegen die Majestät bedient, um eine so wichtige Lehre dem menschlichen Geschlecht bekannt zu machen, und ihm eine Quelle des Trostes zu eröffnen, aus welcher wir noch jetzt schöpfen und uns erquicken. — Welch erhabene und schauervolle Vorbereitung! Der Aufruhr war gedämpft, die Sünder zur Erkenntnis ihres sträflichen Vergehens gebracht, die Nation in Bestürzung, und der Gesandte Gottes, Moses selbst, ließ fast den Mut sinken: „Ach Herr! solange Dein Unwillen sich nicht legt, lass uns nicht von dannen ziehen! Wodurch sollte wohl erkannt werden, dass ich und Deine Nation Wohlgewogenheit in deinen Augen gefunden? Ist es nicht, wenn Du mit uns gehst? Nur dadurch werden wir uns, ich und Deine Nation, von jeder anderen unterscheiden, welche auf dem Erdboden ist.

Gott. Auch darin will ich dir willfahren; denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen, und ich habe dich namentlich zu meinem Liebling ausersehen.“

Moses. „Durch diese trostreichen Worte aufgerichtet wage ich noch eine kühnere Bitte! Ach Herr! lass mich Deine Herrlichkeit schauen!“

Gott. „Ich will meine Allgütigkeit vor dir vorüberziehen lassen *), und mit dem Namen des Ewigen dir bekannt machen, welchergestalt ich gewogen bin, dem ich gewogen bin, und mich erbarme, dessen ich mich erbarme. — Meine Erscheinung sollst du von hinten nachschauen; denn mein Antlitz kann nicht gesehen werden.“ — Darauf zog die Erscheinung vor Mose vorüber, und ließ eine Stimme hören: „Der Herr (ist, war und wird sein), ewiges Wesen, allmächtig, allbarmherzig, und allgnädig; langmütig, von großer Huld und Treue; der seine Huld dem tausendsten Geschlechte noch aufbehält; der Missetat, Sünde und Abfall verzeiht; aber nichts ohne Ahndung hingehen lässt **)!“ — Wer ist so abgehärteten Sinnes, dass er dieses mit trockenen Augen lesen; wer so unmenschlichen Herzens, dass er seinen Bruder noch hassen, gegen seinen Bruder unversöhnlich bleiben kann?

*) Welch großer Sinn! Du willst meine ganze Herrlichkeit schauen; ich werde meine Güte vorüberziehen lassen. — Du wirst sie hinten nach erkennen. Von vorne her ist sie sterblichen Augen nicht sichtbar.

**) II B. M. C. 33. v. 15. u. f. nach meiner mit hebräischen Lettern erschienenen Übersetzung.


Zwar spricht der Ewige, dass er nichts ohne Ahndung wolle hingehen lassen, und es ist bekannt, dass diese Worte schon zu mancherlei Missverstand und Missdeutung Gelegenheit gegeben. Wenn sie aber das vorige nicht völlig wieder aufheben sollen, so führen sie unmittelbar auf den großen Gedanken, den unsere Rabbinen darin gefunden, dass auch dieses eine Eigenschaft der göttlichen Liebe sei, dem Menschen nichts ohne alle Ahndung hingehen zu lassen.

Ein verehrungswürdiger Freund, mit dem ich mich einst in Religionssachen unterhielt, legte mir die Frage vor: ob ich nicht wünschte, durch eine unmittelbare Offenbarung die Versicherung zu haben, dass ich in der Zukunft nicht elend sein würde? Wir stimmten beide darin überein, dass ich keine ewige Höllenstrafe zu fürchten hätte; denn Gott kann keines seiner Geschöpfe unaufhörlich elend sein lassen. So kann auch kein Geschöpf durch seine Handlungen die Strafe verdienen, ewig elend zu sein. Dass die Strafe für die Sünde der beleidigten Majestät Gottes angemessen, und also unendlich sein müsse, diese Hypothese hatte mein Freund, mit vielen großen Männern seiner Kirche, längst aufgegeben, und hierüber hatten wir uns nicht mehr zu streiten. Der nur zur Hälfte richtige Begriff von Pflichten gegen Gott hat den ebenso schwankenden Begriff von Beleidigung der Majestät Gottes veranlasst, und dieser im buchstäblichen Verstände genommen, jene unstatthafte Meinung von der Ewigkeit der Höllenstrafen zur Welt gebracht, deren fernerer Missbrauch nicht viel weniger Menschen in diesen Leben wirklich elend gemacht, als sie der Theorie nach, in jener Zukunft unglückselig macht. Mein philosophischer Freund kam mit mir darin überein, dass Gott den Menschen erschaffen, zu seiner, das ist des Menschen Glückseligkeit, und dass er ihm Gesetze gegeben, zu seiner, das ist des Menschen Glückseligkeit. Wenn die mindeste Übertretung dieser Gesetze nach Verhältnis der Majestät des Gesetzgebers bestraft werden, und also ewiges Elend zur Folge haben soll, so hat Gott diese Gesetze dem Menschen zum Verderben gegeben. Ohne die Gesetze eines so unendlich erhabenen Wesens, würde der Mensch nicht haben ewig elend sein dürfen. O wenn die Menschen, ohne göttliche Gesetze, weniger elend sein könnten, wer zweifelt daran, dass sie Gott mit dem Feuer seiner Gesetze verschont haben würde, da es sie so unwiederbringlich verzehren muss? — Dieses vorausgesetzt, wurde die Frage meines Freundes näher bestimmt: ob ich nicht wünschen müsste, durch eine Offenbarung versichert zu sein, dass ich im zukünftigen Leben auch vom endlichen Elende befreit sein werde?

Nein! antwortete ich; dieses Elend kann nichts anderes, als eine wohlverdiente Züchtigung sein, und ich will in der väterlichen Haushaltung Gottes die Züchtigung gern leiden, die ich verdiene. —

„Wie aber? wenn der Allbarmherzige den Menschen auch die wohlverdiente Strafe erlassen wolle?“

Er wird es sicherlich tun, sobald die Strafe zur Besserung des Menschen nicht mehr unentbehrlich sein wird. Hiervon überführt zu sein, bedarf ich keiner unmittelbaren Offenbarung. Wenn ich die Gesetze Gottes übertrete, so macht das moralische Übel mich unglückselig, und die Gerechtigkeit Gottes, das ist seine allweise Liebe, sucht mich durch physisches Elend zur sittlichen Besserung zu leiten. Sobald dieses physische Elend, die Strafe für die Sünde, zu meiner Sinnesänderung nicht mehr unentbehrlich ist, bin ich, ohne Offenbarung, so gewiss als von meinem eigenen Dasein überführt, dass mein Vater mir die Strafe erlassen werde. — Und im Gegenfalle: wenn diese Strafe zu meiner moralischen Besserung noch nützlich ist, wünsche ich auf keine Weise davon befreit zu werden. In dem Staate dieses väterlichen Regenten leidet der Übertreter keine andere Strafe, als die er selbst zu leiden wünschen muss, wenn er die Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren Lichte sehen könnte.

„Kann aber,“ versetzte mein Freund, „kann Gott nicht gut finden, den Menschen anderen zum Beispiele leiden zu lassen, und ist die Befreiung von dieser exemplarischen Strafe nicht wünschenswert?“

„Nein,“ erwiderte ich: „In dem Staate Gottes leidet kein Individuum bloß anderen zum Besten. Wenn dieses geschehen soll: so muss diese Aufopferung zum Besten anderer dem Leidenden selbst einen höheren sittlichen Wert geben; so muss es in Absicht auf den inneren Zuwachs seiner Vollkommenheit, ihm selbst wichtig sein, durch sein Leiden so viel Gutes befördert zu haben. Und wenn dieses ist; so kann ich einen solchen Zustand nicht fürchten; so kann ich keine Offenbarung wünschen, dass ich niemals in diesen Zustand des großmütigen, meine Mitgeschöpfe und mich selbst beglückenden Wohlwollens versetzt werden sollte. Was ich zu fürchten habe, ist die Sünde selbst. Habe ich die Sünde begangen; so ist die göttliche Strafe eine Wohltat für mich, eine Wirkung seiner väterlichen Allbarmherzigkeit. Sobald sie aufhört Wohltat für mich zu sein; so bin ich versichert, sie wird mir erlassen. Kann ich wünschen, dass mein Vater seine züchtende Hand von mir abwende, bevor sie gewirkt, was sie hat wirken sollen? Wenn ich bitte, dass mir Gott ein Vergehen soll ohne alle Ahndung hingehen lassen, weiß ich wohl selbst was ich bitte? Ach! sicherlich, auch dieses ist eine Eigenschaft der unendlichen Liebe Gottes, dass er kein Vergehen der Menschen ohne alle Ahndung hingehen lässt! Sicherlich.

Allmacht ist nur Gottes:
Und dein ist auch die Liebe. Herr!
Wenn jedem du nach seinem Tun vergöltest.

(Ps. 62, 12. 13.)

Dass die Lehre von der Barmherzigkeit Gottes bei dieser wichtigen Veranlassung zuerst der Nation durch Mosen bekannt gemacht worden sei, bezeugt der Psalmist ausdrücklich an einem anderen Orte, wo er dieselben Worte aus der Schrift Moses anführt, von welchen hier die Rede ist:

Mosen zeigt er seine Wege;
Den Israeln sein Tun.
Allbarmherzig ist der Herr, allgnädig.
Langmütig und von großer Güte.
Er wird nicht unaufhörlich hadern;
Nicht ewiglich nachtragen seinen Groll.
Er handelt nicht mit uns, nach unsren Sünden;
Vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
So hoch der Himmel ist über der Erde;
Waltet seine Liebe über seine Verehrer.
So fern der Morgen ist vom Abend;
Entfernt er von uns unsere Schuld.
Wie Väter ihrer Kinder sich erbarmen;
Erbarmt der Herr sich seiner Verehrer.
Denn er kennet unsere Bildung;
Ist eingedenk, dass wir nur Staub sind *) usw.

(Ps. 103.)

*) Dieser ganze Psalm ist überhaupt von äußerst wichtigem Inhalte. Leser, denen daran gelegen ist, werden wohl tun, ihn ganz mit Aufmerksamkeit durchzulesen, und mit obiger Betrachtung zu vergleichen. Er scheint mir offenbar durch diese merkwürdige Stelle in der Schrift veranlasst, und nichts anderes zu sein, als ein Ausbruch lebhafter Rührung, in welche der Sänger durch Betrachtung dieses außerordentlichen Vorfalls geraten ist. Er fordert daher im Eingange des Psalms seine Seele zur feierlichsten Danksagung, wegen der göttlichen Verheißung seiner Gnade und so väterlichen Barmherzigkeit auf: Benedeie, meine Seele! den Herrn! vergiss nicht aller seiner Wohltaten! Er vergibt dir alle deine Sünden; er heilet deine Krankheiten alle; er erlöset dein Leben vom Untergange; er krönt dich mit Liebe und Barmherzigkeit usw.

Nunmehr kann ich meine Begriffe vom Judentume der vorigen Zeit kurz zusammenfassen und in einen Gesichtspunkt vereinigen. Das Judentum bestand, oder sollte der Absicht des Stifters nach bestehen, in

I. Religionslehren und Sätzen oder ewigen Wahrheiten von Gott, und seiner Regierung und Vorsehung, ohne welche der Mensch nicht aufgeklärt und glücklich sein kann. Diese sind nicht dem Glauben der Nation, unter Androhung ewiger oder zeitlicher Strafen, aufgedrungen; sondern der Natur und Evidenz ewiger Wahrheit gemäß, zur vernünftigen Erkenntnis empfohlen worden. Sie durften nicht durch unmittelbare Offenbarung eingegeben, durch Wort und Schrift, die nur jetzt, nur hier verständlich sind, bekannt gemacht werden. Das allerhöchste Wesen hat sie allen vernünftigen Geschöpfen durch Sache und Begriff geoffenbart, mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und an allen Orten leserlich und verständlich ist. Daher singt der öfters angeführte Sänger:

Die Himmel erzählen die Majestät Gottes,
Und seiner Hände Werk verkündet die Veste.
Ein Tag strömt diese Lehr' dem andern zu;
Und Nacht gibt Unterricht der Nacht.
Keine Lehre, keine Worte,
Deren Stimme nicht vernommen werde.
Über den ganzen Erdball tönt ihre Saite:
Ihr Vortrag dringt bis an der Erden Ende,
Dorthin, wo er der Sonn' ihr Zelt aufschlug, usw.


Ihre Wirkung ist so allgemein, als der wohltätige Einfluss der Sonne, der, indem sie ihren Kreislauf durcheilt, Licht und Wärme über den ganzen Erdball verbreitet; wie derselbe Sänger sich an einem anderen Orte noch deutlicher erklärt:

Von Sonnenaufgang bis zum Niedergange
Preist man des Ew'gen Namen

oder wie der Prophet im Namen des Herrn spricht: Von Aufgang der Sonne bis zum Niedergange ist mein Name unter Heiden berühmt, und an allen Orten wird meinem Namen geräuchert, dargebracht, auch reine Speisegabe; denn mein Name ist berühmt unter Heiden.

2. Geschichtswahrheiten oder Nachrichten von dem Schicksale der Vorwelt, hauptsächlich von den Lebensumständen der Stammväter der Nation; von ihrer Erkenntnis des wahren Gottes, ihrem Wandel vor Gott; von ihren Vergehungen selbst und der väterlichen Züchtigung, die darauf gefolgt ist; von dem Bunde, den Gott mit ihnen errichtet, und von der Verheißung, die er ihnen so oft wiederholt: aus ihren Nachkommen dereinst eine ihm geweihte Nation zu machen. Diese historische Nachrichten enthielten den Grund der Nationalverbindung, und als Geschichtswahrheiten können sie, ihrer Natur nach, nicht anders als auf Glauben angenommen werden. Autorität allein gibt ihnen die erforderliche Evidenz; auch wurden diese Nachrichten der Nation durch Wunder bestätigt, und durch eine Autorität unterstützt, die hinreichend war, den Glauben über alle Zweifel und Bedenklichkeit hinwegzusetzen.

3. Gesetze, Vorschriften, Gebote, Lebensregeln, die dieser Nation eigen seien, und durch deren Befolgung sie sowohl zur Nationalglückseligkeit, als jedes Glied derselben zur persönlichen Glückseligkeit gelangen sollte. Der Gesetzgeber war Gott, und zwar Gott, nicht in dem Verhältnisse, als Schöpfer und Erhalter des Weltalls, sondern Gott als Schutzherr und Bundesfreund ihrer Vorfahren, als Befreier, Stifter und Anführer, als König und Oberhaupt dieses Volkes; und er gab seinen Gesetzen die feierlichste Sanktion, öffentlich und auf eine nie erhörte, wundervolle Weise, wodurch sie der Nation und allen ihren Nachkommen, als unabänderliche Pflicht und Schuldigkeit auferlegt worden sind.

Diese Gesetze wurden geoffenbart, das ist von Gott durch Worte und Schrift bekannt gemacht. Jedoch ist nur das Wesentlichste davon den Buchstaben anvertraut worden; und auch diese niedergeschriebenen Gesetze sind, ohne die ungeschriebenen, mündlich überlieferten und durch mündlichen, lebendigen Unterricht fortzupflanzenden Erläuterungen, Einschränkungen und näheren Bestimmungen, größtenteils unverständlich, oder mussten es mit der Zeit werden, weil alle Worte und Schriftzeichen kein Menschenalter hindurch ihren Sinn unverändert behalten.

Sowohl die geschriebenen, als die ungeschriebenen Gesetze haben unmittelbar, als Vorschriften der Handlungen und Lebensregeln, die öffentliche und Privatglückseligkeit zum Endzwecke. Sie sind aber auch größtenteils als eine Schriftart zu betrachten, und haben als Zeremonialgesetze Sinn und Bedeutung. Sie leiten den forschenden Verstand auf göttliche Wahrheiten; teils auf ewige, teils auf Geschichtswahrheiten, auf die sich die Religion dieses Volks gründete. Das Zeremonialgesetz war das Band, welches Handlung mit Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte. Das Zeremonialgesetz sollte zwischen Schule und Lehrer, Forscher und Unterweiser persönlichen Umgang, gesellige Verbindung veranlassen, zu Wetteifer und Nachfolge reizen und ermuntern; und diese Bestimmung hat es in den ersten Zeiten wirklich erfüllt, bevor die Verfassung ausartete, und die Torheit der Menschen sich abermals ins Spiel mischte, durch Missverstand und Missleitung, das Gute in Böses, das Nützliche in Schädliches zu verwandeln. Staat und Religion war in dieser ursprünglichen Verfassung nicht vereinigt, sondern eins; nicht verbunden, sondern eben dasselbe. Verhältnis des Menschen gegen die Gesellschaft und Verhältnis des Menschen gegen Gott trafen auf einen Punkt zusammen, und konnten nie in Gegenstoß geraten. Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, war zugleich der König und Verweser dieser Nation, und er ist ein einiges Wesen, das so wenig im Politischen als im Metaphysischen die mindeste Trennung oder Vielheit zulässt. Auch hat dieser Regent keine Bedürfnisse, und heischt nichts von der Nation, als was zu ihrem Besten dient, die Glückseligkeit des Staats befördert; sowie von der anderen Seite der Staat nichts fordern konnte, das den Pflichten gegen Gott zuwider, das nicht vielmehr von Gott, dem Gesetzgeber und Gesetzverweser der Nation befohlen sei. Daher gewann das Bürgerliche bei dieser Nation ein heiliges und religiöses Ansehen, und jeder Bürgerdienst ward zugleich ein wahrer Gottesdienst. Die Gemeinde war eine Gemeinde Gottes, ihre Angelegenheiten waren Gottes, öffentliche Steuern waren Hebe Gottes, und bis auf die geringste Polizeianstalt war alles gottesdienstlich. Die Leviten, die von den öffentlichen Einkünften lebten, hatten ihren Unterhalt von Gott. Sie sollten kein Eigentum im Lande haben, denn Gott ist ihr Eigentum. Wer außerhalb Landes herumtreiben muss, der dient fremden Göttern. Dieses kann in verschiedenen Stellen der Schrift nicht im buchstäblichen Verstände genommen werden, und bedeutet im Grunde nicht mehr, als er ist fremden politischen Gesetzen unterworfen, die nicht, wie die vaterländischen, zugleich gottesdienstlich sind. Und nun auch die Verbrechen. Jeder Frevel wider das Ansehen Gottes, als des Gesetzgebers der Nation, war ein Verbrechen wider die Majestät, und also ein Staatsverbrechen. Wer Gott lästerte, war ein Majestätsschänder; wer den Sabbat freventlich entheiligte, hob, insoweit es an ihm lag, ein Grundgesetz der bürgerlichen Gesellschaft auf, denn auf der Einsetzung dieses Tages beruhte ein wesentlicher Teil der Verfassung. Der Sabbat sei ein ewiger Bund zwischen mir und den Kindern Israels, spricht der Herr, ein immerwährendes Zeichen, dass der Ewige in sechs Tagen usw. Diese Verbrechen also konnten, ja sie mussten in dieser Verfassung bürgerlich bestraft werden; nicht als irrige Meinung, nicht als Unglaube; sondern als Untaten, als freventliche Staatsverbrechen, die darauf abzielen, das Ansehen des Gesetzgebers aufzuheben oder zu schwächen, und dadurch den Staat selbst zu untergraben. Und gleichwohl, mit welcher Gelindigkeit wurden diese Hauptverbrechen selbst bestraft! Mit welcher überschwänglichen Nachsicht gegen menschliche Schwachheit! Nach einem ungeschriebenen Gesetze konnte keine Leib- und Lebensstrafe verhängt werden, wenn der Verbrecher nicht von zwei unverdächtigen Zeugen, mit Anführung des Gesetzes und unter Bedrohung der verordneten Strafe gewarnt worden; ja bei Leib- und Lebensstrafen musste der Verbrecher mit ausdrücklichen Worten die Strafe anerkannt, übernommen, und unmittelbar darauf, in Beisein derselben Zeugen, das Verbrechen begangen haben. Wie selten mussten die Blutgerichte bei einer solchen Einrichtung sein, und wie mancherlei Gelegenheit hatten die Richter nicht, der traurigen Notwendigkeit auszuweichen, über ihr Mitgeschöpf und Mitebenbild Gottes den Stab zu brechen! Ein Hingerichteter ist, nach dem Ausdrucke der Schrift, eine Geringschätzung Gottes. Wie sehr mussten die Richter anstehen, untersuchen und auf Entschuldigung bedacht sein, bevor sie ein Halsgerichtsurteil unterzeichneten! Ja, wie die Rabbinen sagen, hat jedes Halsgericht, das für seinen guten Namen besorgt ist, darauf zu sehen, dass in einem Zeitraum von siebzig Jahren nicht mehr als eine Person am Leben gestraft werde.

Hieraus erhellt, wie wenig man die mosaischen Gesetze und die Verfassung des Judentums kennen muss, um zu glauben, dass nach derselben Kirchenrecht und Kirchenmacht autorisiert, oder Unglaube und Irrglaube mit zeitlichen Strafen zu belegen sei. Der Forscher nach Licht und Wahrheit, sowohl als Herr Mörschel, sind also weit von der Wahrheit entfernt, wenn sie glauben, ich habe durch meine Vernunftgründe wider Kirchenrecht und Kirchenmacht das Judentum aufgehoben. Wahrheit kann nicht mit Wahrheit streiten. Was das göttliche Gesetz gebietet, kann die nicht minder göttliche Vernunft nicht aufheben.

Nicht Unglaube, nicht falsche Lehre und Irrtum, sondern freventliches Vergehen wider die Majestät des Gesetzgebers, freche Untaten wider die Grundgesetze des Staats und der bürgerlichen Verfassung wurden gezüchtigt, und nur alsdann gezüchtigt, wenn der Frevel in seiner Ausgelassenheit alles Maß überschritt, und dem Aufruhr nahe kam; wenn sich der Verbrecher nicht scheute, von zwei Mitbürgern sich das Gesetz vorhalten, die Strafe androhen zu lassen, ja die Strafe zu übernehmen und in ihrem Angesichte das Verbrechen zu begehen. Hier wird der religiöse Bösewicht ein freventlicher Majestätsschänder, ein Staatsverbrecher. Auch haben, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, mit Zerstörung des Tempels, alle Leib- und Lebensstrafen, ja auch Geldbußen insoweit sie bloß national sind, aufgehört Rechtens zu, sein. Vollkommen nach meinen Grundsätzen, und ohne dieselben unerklärbar! Die bürgerlichen Bande der Nation waren aufgelöst, religiöse Vergehen waren keine Staatsverbrechen mehr, und die Religion, als Religion kennt keine Strafen, keine andere Buße, als die der reuevolle Sünder sich freiwillig auferlegt. Sie weiß von keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe gelinde, wirkt nur auf Geist und Herz. Man versuche es, diese Behauptung der Rabbinen, ohne meine Grundsätze vernünftig zu erklären!

„Wozu nun,“ höre ich manchen Leser fragen; „wozu diese Weitläufigkeit, uns etwas sehr Bekanntes zu sagen? Das Judentum war eine Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein Priesterstaat, eine Theokratie, wenn ihr wollt. Wir kennen die Anmaßungen schon, die sich eine solche Verfassung erlaubt.“

Nicht doch! Alle diese Kunstnamen werfen auf die Sache ein falsches Licht, das ich vermeiden musste. Wir wollen immer nur klassifizieren, in Fächer abteilen. Wenn wir nur wissen, in welches Fach ein Ding einzutragen sei; so sind wir zufrieden, so unvollständig der Begriff auch übrigens sein mag, den wir davon haben. Warum sucht ihr ein Geschlechtswort für ein einzelnes Ding, das kein Geschlecht hat, das mit nichts schichtet, mit nichts unter eine Rubrik zu bringen ist? Diese Verfassung ist ein einzigesmal dagewesen: nennt sie die mosaische Verfassung, bei ihrem Einzelnamen. Sie ist verschwunden, und ist dem Allwissenden allein bekannt, bei welchem Volke und in welchem Jahrhunderte sich etwas Ähnliches wieder wird sehen lassen.

So wie es nach dem Plato einen irdischen und auch einen himmlischen Amor geben soll, so gibt es auch, könnte man sagen, eine irdische und eine himmlische Politik. Nehmt einen flatterhaften Abenteurer, einen Gunsteroberer, wie ihn das Pflaster jeder Hauptstadt darbietet, und unterhaltet ihn von dem Liede der Lieder Salomons, oder von der Liebe der ersten Unschuld im Paradiese, wie sie Milton beschreibt. Er wird glauben, ihr schwärmt oder wollt eure Lektion aufsagen, wie ihr das Herz einer Spröden durch platonische Liebkosungen zu bestürmen versteht. Ebensowenig wird euch ein Politiker nach der Mode verstehen, wenn ihr von der Einfalt und sittlichen Großheit jener ursprünglichen Verfassung redet. Wie jener in der Liebe nur die Befriedigung der gemeinen Lüsternheit kennt; so spricht dieser in der Staatsklugheit bloß von Macht, Geldumlauf, Handlung, Gleichgewicht, Volksmenge, und die Religion ist ihm ein Mittel, dessen sich der Gesetzgeber bedient, den unbändigen Menschen im Zaume zu halten, und der Priester, um ihn auszusaugen und sein Mark zu verzehren.

Diesen falschen Gesichtspunkt, aus welchem wir das wahre Interesse der menschlichen Gesellschaft zu betrachten gewohnt sind, musste ich meinem Leser aus den Augen rücken. Ich habe ihm dieserhalb den Gegenstand bei keinen Namen genannt; sondern selbst mit seinen Eigenschaften und Bestimmungen darzustellen gesucht. Wenn wir mit geradem Blick auf denselben hinschauen, werden wir, wie jener Weltweise von der Sonne sagte, in der echten Politik eine Gottheit erblicken, wo gemeine Augen einen Stein sehen.

Ich habe gesagt, dass die mosaische Verfassung nicht lange in ihrer ersten Lauterkeit bestanden. Schon zu den Zeiten des Propheten Samuel gewann das Gebäude einen Riss, der sich immer weiter auf tat, bis die Teile völlig zerfielen. Die Nation verlangte einen sichtbaren, fleischlichen König zum Regenten. Es sei nun, dass die Priesterschaft, wie von den Söhnen des Hohenpriesters in der Schrift erzählt wird, schon angefangen ihr Ansehen bei dem Volke zu missbrauchen, oder dass der Glanz einer benachbarten Hofhaltung die Augen geblendet; genug, sie forderten einen König, wie alle anderen Völker haben. Der Prophet, den dieses kränkte, stellte ihnen vor, was ein menschlicher König sei, der seine eigenen Bedürfnisse hat, und sie nach Wohlgefallen erweitern kann, und wie schwer ein schwacher Sterblicher zu befriedigen sei, dem man das Recht der Gottheit einräumt. Umsonst, das Volk bestand auf seinen Vorsatz, erhielt seinen Wunsch und erfuhr, was ihnen der Prophet angedroht hatte. Nun war die Verfassung untergraben; die Einheit des Interesses aufgehoben; Staat und Religion nicht mehr eben dasselbe, und Kollision der Pflichten war schon nicht mehr unmöglich. Indessen mussten sie noch immer selten sein, solange der König selbst nicht nur von der Nation war, sondern auch den Gesetzen des Vaterlandes gehorchte. Aber nun verfolge man die Geschichte, durch mancherlei Schicksale und Veränderungen, durch manche gute und böse, gottesfürchtige und gottvergessene Regierung hindurch, bis auf jene traurigen Zeiten herunter, in welchen der Stifter der christlichen Religion den vorsichtigen Bescheid erteilte: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist. Offenbarer Gegensatz, Kollision der Pflichten! Der Staat stand unter fremder Botmäßigkeit, empfing seine Befehle gleichsam von fremden Göttern, und die einheimische Religion mit einem Teile ihres Einflusses auf das bürgerliche Leben, hatte sich noch erhalten. Hier ist Forderung gegen Forderung, Anspruch gegen Anspruch. ,,Wem sollen wir geben? wem gehorchen?“ — So ertragt denn beide Lasten, fiel der Bescheid aus, so gut ihr könnt; dient zwei Herren in Geduld und Ergebenheit: Gebt dem Kaiser und gebt auch Gott! Jedem das Seine, nachdem die Einheit des Interesses nun zerstört ist!

Und noch jetzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rat erteilt werden, als eben dieser. Schickt euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter. Tragt beider Lasten so gut ihr könnt! Man erschwert euch zwar von der einen Seite die Bürde des bürgerlichen Lebens, um der Religion willen, der ihr treu bleibt, und von der anderen Seite macht das Klima und die Zeiten die Beobachtung eurer Religionsgesetze in mancher Betrachtung lästiger als sie sind. Haltet nichts desto weniger aus, steht unerschüttert auf dem Standorte, den euch die Vorsehung angewiesen, und lasst alles über euch ergehen, wie euch euer Gesetzgeber lange vorher verkündigt hat.

In der Tat sehe ich nicht, wie diejenigen, die in dem Hause Jakobs geboren sind, sich auf irgendeine gewissenhafte Weise vom Gesetze entledigen können. Es ist uns erlaubt, über das Gesetz nachzudenken, seinen Geist zu erforschen, hier und da, wo der Gesetzgeber keinen Grund angegeben, einen Grund zu vermuten, der vielleicht an Zeit und Ort und Umstände gebunden gewesen, vielleicht mit Zeit und Ort und Umständen verändert werden kann — wenn es dem allerhöchsten Gesetzgeber gefallen wird, uns seinen Willen darüber zu erkennen zu geben; so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als er das Gesetz selbst gegeben hat. Solange dieses nicht geschieht, solange wir keine so authentische Befreiung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernünftelei nicht von dem strengen Gehorsam befreien, den wir dem Gesetze schuldig sind, und die Ehrfurcht vor Gott zieht eine Grenze zwischen Spekulation und Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten darf. Darum wiederhole ich meine vorausgeschickte Protestation: Schwach und kurzsichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen: ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe das System seiner Absichten ganz durchschaut, und weiß ihnen Maß und Ziel und Grenze zu bestimmen? Ich kann vermuten, aber nicht entscheiden, aber nicht nach meiner Vermutung handeln. — Darf ich doch in menschlichen Dingen mich nicht erdreisten, aus eigener Vermutung und Gesetzdeutelei, ohne Autorität des Gesetzgebers oder Gesetzverwesers, dem Gesetze zuwider zu handeln; um wie viel weniger in göttlichen Dingen? Gesetze, die mit Landeigentum und Landeseinrichtung in notwendiger Verbindung stehen, führen ihre Befreiung mit sich. Ohne Tempel und Priestertum und außerhalb Judäa, finden weder Opfer noch Reinigungsgesetz, noch priesterliche Abgabe statt, insoweit sie vom Landeigentum abhängen. Aber persönliche Gebote, Pflichten, die dem Sohne Israels, ohne Rücksicht auf Tempeldienst und Landeigentum in Palästina auferlegt worden sind, müssen, soviel wir einsehen können, strenge nach den Worten des Gesetzes beobachtet werden, bis es dem Allerhöchsten gefallen wird, unser Gewissen zu beruhigen, und die Abstellung derselben laut und öffentlich bekannt zu machen.

Hier heißt es offenbar: was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen. Wenn auch einer von uns zur christlichen Religion übergeht, so begreife ich nicht, wie er dadurch sein Gewissen zu befreien, und sich von dem Joche des Gesetzes zu entledigen glauben kann? Jesus von Nazareth hat sich nie verlauten lassen, dass er gekommen sei, das Haus Jakob von dem Gesetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit ausdrücklichen Worten das Gegenteil gesagt; und was noch mehr ist, hat selbst das Gegenteil getan. Jesus von Nazareth hat selbst nicht nur das Gesetz Moses, sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu sein scheint, hat doch in der Tat nur dem ersten Anblicke nach diesen Schein. Genau untersucht, stimmt alles nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit der Überlieferung völlig überein. Wenn er gekommen ist, der eingerissenen Heuchelei und Scheinheiligkeit zu steuern; so wird er sicherlich nicht das erste Beispiel zur Scheinheiligkeit gegeben, und ein Gesetz durch Beispiel autorisiert haben, das abgestellt und aufgehoben sein sollte. Aus seinem ganzen Betragen, sowie aus dem Betragen seiner Jünger in der ersten Zeit, leuchtet vielmehr der rabbinische Grundsatz augenscheinlich hervor: Wer nicht im Gesetze geboren ist, darf sich an das Gesetz nicht binden; wer aber im Gesetze geboren ist, muss nach dem Gesetze leben und nach dem Gesetze sterben. Haben seine Nachfolger in späteren Zeiten anders gedacht, und auch die Juden, die ihre Lehre annahmen, entbinden zu können geglaubt; so ist es sicherlich ohne seine Autorität geschehen.

Und ihr, lieben Brüder und Mitmenschen! die ihr der Lehre Jesu folgt, solltet uns verargen, wenn wir das tun, was der Stifter eurer Religion selbst getan, und durch sein Ansehen bewährt hat? Ihr solltet glauben, uns nicht brüderlich wieder lieben, euch mit uns nicht bürgerlich vereinigen zu können, solange wir uns durch das Zeremonialgesetz äußerlich unterscheiden, nicht mit euch essen, nicht von euch heiraten, das, soviel wir einsehen können, der Stifter eurer Religion selbst weder getan, noch uns erlaubt haben würde? — Wenn dieses, wie wir von christlich gesinnten Männern nicht vermuten können, eure wahre Gesinnung sein und bleiben sollte; wenn die bürgerliche Vereinigung unter keiner anderen Bedingung zu erhalten, als wenn wir von dem Gesetze abweichen, das wir für uns noch für verbindlich halten; so tut es uns herzlich leid, was wir zu erklären für nötig erachten: so müssen wir lieber auf bürgerliche Vereinigung Verzicht tun; so mag der Menschenfreund Dohm [Christian Konrad Wilhelm D. von (1751-1820) Jurist, preußischer Diplomat und Schriftsteller] vergebens geschrieben haben, und alles in dem leidlichen Zustande bleiben, in welchem es jetzt ist, oder in welchen es eure Menschenliebe zu versetzen für gut findet. Es steht nicht bei uns hierin nachzugeben; aber es steht bei uns, wenn wir rechtschaffen sind, euch dennoch brüderlich zu lieben, und brüderlich zu flehen, unsere Lasten, soviel ihr könnt, erträglich zu machen. Betrachtet uns, wo nicht als Brüder und Mitbürger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes. Zeigt uns Wege und gebt uns Mittel an die Hand, wie wir bessere Menschen und bessere Miteinwohner werden können, und lasst uns, soviel es Zeit und Umstände erlauben, die Rechte der Menschheit mit genießen. Von dem Gesetze können wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nützen euch Mitbürger ohne Gewissen?

„Wie kann aber auf diese Weise die Prophezeiung in Erfüllung kommen, dass dereinst nur ein Hirt und eine Herde sein soll?“

Liebe Brüder! die ihr es mit den Menschen wohlmeint, lasset euch nicht betören! Um dieses allgegenwärtigen Hirten zu sein, braucht weder die ganze Herde auf einer Flur zu weiden, noch durch eine Tür in des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieses ist weder dem Wunsch des Hirten gemäß, noch dem Gedeihen der Herde zuträglich. Ob man die Begriffe vertauscht oder geflissentlich zu verwirren sucht? Man stellt euch vor, Glaubensvereinigung sei der nächste Weg zur Bruderliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzigen so sehnlich wünscht. Wenn wir alle nur einen Glauben haben, wollen verschiedene euch einbilden; so können wir uns einander des Glaubens, der Verschiedenheit der Meinungen halber, nicht mehr hassen; so ist Religionshass und Verfolgungssucht bei der Wurzel gefaßt und ausgerottet; so ist der Heuchelei die Geisel und dem Fanatismus das Schwert aus der Hand gewunden, und die glücklichen Tage treten ein, da es heißt: der Wolf wird mit dem Lamme wohnen, und der Leopard neben der Ziege usw. — Sie, die Sanftmütigen, die dieses in Vorschlag bringen, sind bereit Hand ans Werk zu legen; sie wollen als Unterhändler zusammentreten und sich die menschenfreundliche Mühe geben, einen Glaubensvergleich zustande zu bringen; um Wahrheiten wie um Rechte, wie um feiles Kaufmannsgut zu handeln, wollen fordern, bieten, dingen, abdrohen und abbitten, übereilen und überlisten, bis die Parteien sich einander in die Hände schlagen, und der Vertrag zur Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts niedergeschrieben werden kann. Viele, die ein solches Vorhaben zwar als chimärisch und unausführbar verwerfen, sprechen doch von der Glaubenseinigkeit, als von einem sehr wünschenswerten Zustande, und bedauern das menschliche Geschlecht mit Leidwesen, dass dieser Gipfel der Glückseligkeit, durch menschliche Kräfte nicht zu erreichen stehe. — Hütet euch, Menschenfreunde! solchen Gesinnungen ohne die genaueste Prüfung Gehör zu geben. Es können Fallstricke sein, die der ohnmächtig gewordene Fanatismus der Gewissensfreiheit legen will. Ihr wisst, dieser Feind des Guten ist von mancherlei Gestalt und Form; Löwenwut und Lammesart, Taubeneinfalt und Schlangenlist, keine Eigenschaft ist ihm so fremd, dass er sie nicht entweder besitze oder anzunehmen verstehe, um seine blutdürstigen Absichten zu erreichen. Da ihm durch eure wohltätigen Bemühungen die offene Gewalt benommen ist, so nimmt er vielleicht die Maske der Sanftmut an, um euch zu hintergehen, heuchelt Bruderliebe, gleißt Menschenduldung, und schmiedet heimlich die Ketten schon, die er der Vernunft anzulegen gedenkt, um sie unversehens wieder in den Pfuhl der Barbarei zu stürzen, aus der ihr sie zu ziehen angefangen *).

Man glaube nicht, dass dieses eine bloß eingebildete Furcht sei, die etwa Hypochondrie zur Mutter hat. Im Grunde kann eine Glaubensvereinigung, wenn sie je zustande kommen sollte, keine andere als die unseligsten Folgen für Vernunft und Gewissensfreiheit haben. Denn gesetzt, man vereinige sich über die Glaubensformel,, die man einzuführen und festzusetzen denkt; man bringe Symbolen zustande, wider welche keine von den jetzt in Europa herrschenden Religionsparteien etwas einzuwenden findet. Was ist dadurch ausgerichtet? Etwa, dass ihr alle über Religionswahrheiten eben dasselbe denkt? — Wer von der Natur des menschlichen Geistes einigen Begriff hat, kann sich dieses nicht beikommen lassen. Also bloß in den Worten, in der Formel läge die Übereinstimmung. Dazu wollen die Glaubensvereiniger sich zusammentun; sie wollen hier und da von den Begriffen etwas abzwacken, hier und da die Maschen der Worte solange erweitern, sie so unbestimmt und weitschichtig machen, dass sich die Begriffe, ihrer inneren Verschiedenheit ungeachtet, noch zur Not hineinzwängen lassen. Ein jeder verbände alsdann im Grunde mit denselben Worten eine andere ihm eigene Meinung, und ihr rühmtet euch, den Glauben der Menschen vereinigt, die Herde unter ihren einigen Hirten gebracht zu haben? O wenn diese allgemeine Gleißnerei überall einen Endzweck haben soll; so fürchte ich, man will den freigewordenen Geist der Menschen nur vorerst wieder in Schranken eingesperrt haben. Das scheue Wild wird sich alsdann schon fangen, und den Kappzaum umwerfen lassen. Bindet den Glauben nur erst an Symbolen, die Meinung im Worte, so bescheiden und nachgebend ihr immer wollt; setzt nur ein für allemal die Artikel fest: Wehe dem Elenden alsdann, der einen Tag später kommt, und auch an diesen bescheidenen, geläuterten Worten etwas auszusetzen findet! Er ist ein Friedensstörer! Zum Scheiterhaufen mit ihm!

*) Auch die Ohngötterei hat, wie eine leidige Erfahrung lehrt, ihren Fanatismus. Zwar hat dieser vielleicht nie ohne eine Vermischung von innerer Ohngötterei wütend werden können Dass aber auch äußerer, offenbarer Atheismus fanatisch werden könne, ist so unleugbar als schwer zu begreifen. So sehr der Atheist, wenn er bündig sein will, alles aus Eigennutz tun muss, und so wenig es diesem gemäß zu sein scheint, wenn der Atheist Partei zu machen, und das Geheimnis nicht für sich zu behalten sucht; so hat man ihn doch seine Lehren mit dem hitzigsten Enthusiasmus predigen, und wütend werden, ja verfolgen gesehen, wenn seine Predigt nicht Eingang finden wollte. Und schrecklich ist der Eifer, wenn er einen erklärten Atheisten beseelt; wenn die Unschuld einem Wüterich in die Hände fällt, der alles fürchtet, nur keinen Gott.[/b]

Brüder! ist es euch um wahre Gottseligkeit zu tun; so lasst uns keine Übereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum wollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen? Tun wir dieses schon leider! in unserem täglichen Umgange, in unseren Unterhaltungen, die von keiner sonderlichen Bedeutung sind ; warum denn noch in solchen Dingen, die unser zeitliches und ewiges Wohl, unsere ganze Bestimmung angehen. Warum uns einander in den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens durch Mummerei unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht umsonst seine eigenen Gesichtszüge eingeprägt hat? Heißt dieses nicht, soviel an uns liegt, sich der Vorsehung widersetzen, den Zweck der Schöpfung, wenn es möglich ist, vereiteln; unserem Beruf, unserer Bestimmung in diesem und jenem Leben geflissentlich zuwider handeln? — Regenten der Erde! wenn es einem unbedeutenden Mitbewohner derselben vergönnt ist, seine Stimme bis zu euch zu erheben; traut den Räten nicht, die euch mit glatten Worten zu einem so schädlichen Beginnen verleiten wollen. Sie sind entweder selbst verblendet, und sehen den Feind der Menschheit nicht, der im Hinterhalt lauert, oder suchen euch zu verblenden. Es ist getan, um unser edelstes Kleinod, um die Freiheit zu denken, wenn ihr ihnen Gehör gebt! Um eurer und unserer aller Glückseligkeit willen, Glaubensvereinigung ist nicht' Toleranz; ist der wahren Duldung gerade entgegen! Um eurer und unserer Glückseligkeit willen gebt euer vielvermögendes Ansehen nicht her, irgendeine ewige Wahrheit, ohne welche die bürgerliche Glückseligkeit bestehen kann, in ein Gesetz; irgendeine dem Staate gleichgültige Religionsmeinung in Landesverordnung zu verwandeln! Haltet auf Tun und Lassen der Menschen; zieht dieses vor den Richterstuhl weiser Gesetze, und überlasst uns das Denken und Reden, wie es uns unser aller Vater zum unveräußerlichen Erbgute beschieden, als ein unwandelbares Recht eingegeben hat. Ist etwa die Verbindung zwischen Recht und Meinung zu verjähret, und der Zeitpunkt noch nicht gekommen, dass sie, ohne besorglichen Schaden, völlig aufgehoben werden könne; so sucht wenigstens ihren verderblichen Einfluss, soviel an euch ist, zu mildern, dem zu grau gewordenen Vorurteile *) weise Schranken zu setzen. Bahnt einer glücklichen Nachkommenschaft wenigstens den Weg zu jener Höhe der Kultur, zu jener allgemeinen Menschenduldung, nach welcher die Vernunft noch immer vergebens seufzt! Belohnt und bestraft keine Lehre, lockt und bestecht zu keiner Religionsmeinung! Wer die öffentliche Glückseligkeit nicht stört, wer gegen die bürgerlichen Gesetze, gegen euch und seine Mitbürger rechtschaffen handelt, den lasst sprechen, wie er denkt, Gott anrufen nach seiner oder seiner Väter Weise, und sein ewiges Heil suchen, wo er es zu finden glaubt. Lasst niemanden in euern Staaten Herzenskündiger und Gedankenrichter sein; niemanden ein Recht sich anmaßen, das der Allwissende sich allein vorbehalten hat! Wenn wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist; so gebt ihr selbst Gott, was Gottes ist! Liebt die Wahrheit! Liebt den Frieden!

[i]*) Leider! hören wir auch schon den Kongress in Amerika das alte Lied anstimmen, und von einer herrschenden Religion sprechen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum