Gültigkeit der Verträge.

Und nun noch einen Schritt näher, so steht die Gültigkeit der Verträge auf sicheren Füßen. — Das Recht, die Kollisionsfälle zu entscheiden, selbst ist, wie oben gezeigt worden, ein unkörperliches Gut des unabhängigen Menschen, insoweit es ein Mittel zu seiner Glückseligkeit werden kann. Jeder Mensch hat im Stande der Natur auf den Genuss dieses Mittels zur Glückseligkeit ein vollkommenes, und sein Nebenmensch ein unvollkommenes Recht. Da aber der Genuss dieses Rechtes wenigstens in vielen Fällen zur Erhaltung nicht unumgänglich notwendig ist, so ist es ein entbehrliches Gut, das, vermöge des Erwiesenen, abgetreten, und vermittels einer hinlänglichen Willenserklärung, einem anderen überlassen werden kann. Eine Handlung, wodurch dieses geschieht, heißt ein Versprechen, und wenn von der anderen Seite die Annahme hinzukommt, das ist die Einwilligung in dieses Übertragen der Rechte hinlänglich zu erkennen gegeben wird, so entsteht ein Vertrag. Demnach ist ein Vertrag nichts anderes, als von der einen Seite die Überlassung, und von der anderen Seite die Annahme des Rechts, in Absicht auf gewisse, dem Versprecher entbehrliche Güter, die Kollisionsfälle zu entscheiden.

Ein solcher Vertrag muss, vermöge des vorhin Erwiesenen, gehalten werden. Das Entscheidungsrecht, welches vorhin einen Teil meiner Güter ausmachte, das ist das Meine war, ist durch diese Abtretung das Gut meines Nächsten, das Seine geworden, und ich kann es ihm ohne Beleidigung nicht wieder entziehen. Den Anspruch, den er auf den Gebrauch dieser meiner Unabhängigkeit, insoweit sie nicht zu meiner Erhaltung notwendig ist, sowie jeder andere machen konnte, ist durch diese Handlung in ein vollkommenes Recht übergegangen, das er sich mit Gewalt zu erzwingen befugt ist. Dieser Erfolg ist unstreitig, sobald mein Entscheidungsrecht Kraft und Wirkung haben soll — *).


Ich verlasse meine spekulativen Betrachtungen, und komme in mein voriges Gleis zurück; muss aber vorher die Bedingungen festsetzen, unter welchen nach obigen Grundsätzen ein Vertrag gültig sei und gehalten werden müsse.

*) Auf diese sehr einleuchtende Auseinandersetzung der Begriffe bin ich von dem philosophischen Rechtsgelehrten, meinem sehr werten Freunde, dem Herrn Assistenzrat Klein [Jacob Theodor K. (1685–1759), polnisch-deutscher Rechts- und Geschichtswissenschaftler, Mathematiker, Naturforscher und Diplomat], geführt worden, mit dem ich das Vergnügen gehabt, mich über diese Materie zu unterhalten. Mich dünkt, diese Theorie der Kontrakte sei einfach und fruchtbar. Fergouson [Adam Ferguson (1723-1816) schottischer Historiker und Sozialethiker] in seiner Moralphilosophie und sein vortrefflicher Übersetzer finden die Notwendigkeit, das Versprechen zu halten, in der bei dem Nebenmenschen erregten Erwartung und Unsittlichkeit der Täuschung. Allein hieraus scheint bloß eine Gewissenspflicht zu folgen. Was ich vorhin im Gewissen verbunden gewesen, von meinen Gütern zum Besten meiner Nebenmenschen überhaupt hinzugeben, bin ich durch die bei diesem Subjekt insbesondere erregte Erwartung im Gewissen verbunden, ihm zukommen zu lassen. Wodurch aber ist diese Gewissenspflicht in eine Zwangspflicht übergegangen? Mich dünkt, hierzu gehören unumgänglich die allhier ausgeführten Grundsätze der Abtretung überhaupt und insbesondere der Entscheidungsrechte in Kollisionsfällen.

1. Cajus besitzt ein Gut (irgendein Mittel zur Glückseligkeit: den Gebrauch seiner natürlichen Fähigkeiten selbst, oder das Recht auf die Früchte seines Fleißes, und die damit verbundenen Güter der Natur, oder was sonst auf eine gerechte Weise ihm zu eigen geworden; es sei solches ein körperliches oder unkörperliches Ding, als nämlich Gerechtsame, Freiheiten und dergleichen).

2. Dieses Gut aber gehört nicht unumgänglich zu seinem Dasein, und kann also zum Besten des Wohlwollens, das ist zum Nutzen anderer angewendet werden.

3. Sempronius hat auf dieses Gut ein unvollkommenes Recht. Er kann, sowie jeder andere Mensch, verlangen, aber nicht zwingen, dass dieses Gut jetzt zu seinem Besten angewendet werde. Das Recht zu entscheiden gehört dem Cajus, ist das seine, und darf ihm mit Gewalt nicht entzogen werden.

4. Nunmehr bedient sich Cajus seines vollkommenen Rechts, entscheidet zum Vorteil des Sempronius, und gibt seine Entscheidung durch hinlängliche Zeichen zu erkennen, das ist Cajus verspricht.

5. Sempronius nimmt an und gibt seine Einwilligung gleichfalls auf eine bedeutende Weise zu verstehen.

So ist der Ausspruch des Cajus wirksam und von Kraft, das ist jenes Gut, das ein Eigentum des Cajus, das Seine gewesen ist, ist durch diese Handlung zum Gute des Sempronius geworden. Das vollkommene Recht des Cajus ist in ein unvollkommenes übergegangen; so wie das unvollkommene Recht des Sempronius in ein vollkommenes Zwangsrecht verwandelt worden ist.

Cajus muss sein rechtskräftiges Versprechen halten, und Sempronius kann ihn, im Verweigerungsfalle, mit Gewalt dazu zwingen.

Durch Verabredungen dieser Art verlässt der Mensch den Stand der Natur und tritt in den Stand der gesellschaftlichen Verbindung; und seine eigene Natur treibt ihn an, Verbindungen mancherlei Art einzugehen, um seine schwankenden Rechte und Pflichten in etwas Bestimmtes zu verwandeln. Nur der Wilde klebt, wie das Vieh, an dem Genüsse des gegenwärtigen Augenblickes. Der gesittete Mensch lebt auch für die Zukunft, und will auch für den nächsten Augenblick worauf Rechnung machen können. Schon der Vermehrungstrieb, wenn er nicht bloß viehischer Instinkt sein soll, zwingt die Menschen, wie wir oben gesehen, zu einem gesellschaftlichen Vertrage, davon man sogar bei vielen Tieren etwas Analogisches findet.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum