Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern

Auch das natürliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist diesem allgemeinen Naturgesetz nicht zuwider. Es ist leicht zu erachten, dass nur diejenigen Personen im Stande der Natur unabhängig sind, denen man eine vernunftmäßige Entscheidung der Kollisionsfälle zutrauen kann. Bevor also die Kinder zu den Jahren gelangen, in welchen man ihnen den Gebrauch der Vernunft zutrauen kann, haben sie keinen Anspruch auf Unabhängigkeit, müssen sie von anderen entscheiden lassen, wie und zu welchen Absichten sie ihre Kräfte und Fähigkeiten anwenden sollen. Die Eltern sind ihrerseits auch verbunden, ihre Kinder in der Kunst die Kollisionsfälle vernünftig zu entscheiden, nach und nach zu üben, und so wie ihre Vernunft zunimmt, ihnen auch allmählich den freien, unabhängigen Gebrauch ihrer Kräfte zu überlassen.

Nun sind die Eltern zwar auch im Stande der Natur gegen ihre Kinder zu gewissen Dingen äußerlich verpflichtet, und könnte man glauben, dass dieses eine positive Pflicht sei, die ohne allen Vertrag, nach den ewigen Gesetzen der Weisheit und Güte erzwungen werden könnte. Allein mich dünkt, das Zwangsrecht zur Erziehung der Kinder komme im Stande der Natur bloß den Eltern selbst, einem gegen den anderen, keinem dritten aber zu, der sich etwa der Kinder annehmen und die Erziehung von den Eltern erpressen wollte. Niemand ist im Stande der Natur befugt, die Eltern zur Erziehung ihrer Kinder mit Gewalt anzuhalten. Dass aber die Eltern selbst gegeneinander dieses Zwangsrecht haben, fließt aus der Verabredung, die sie, obschon nicht in Worten, doch durch die Handlung selbst, getroffen zu haben, vorausgesetzt wird.


Wer ein zur Glückseligkeit fähiges Wesen hervorbringen hilft, ist nach dem Gesetze der Natur verbunden, die Glückseligkeit desselben zu befördern, solange es selbst noch in dem Stande nicht ist, für sein Fortkommen zu sorgen. Dieses ist die natürliche Pflicht der Erziehung, die zwar an und für sich bloß eine Gewissenspflicht ist, durch die Handlung selbst aber haben die Eltern sich verstanden, einander hierin beizustehen, das ist dieser ihrer Gewissenspflicht gemeinschaftlich Genüge zu leisten. Mit einem Worte: die Eltern sind durch die Beiwohnung selbst in den Stand der Ehe getreten, haben einen stillschweigenden Vertrag gemacht, das zur Glückseligkeit bestimmte Wesen, das sie gemeinschaftlich hervorbringen, auch gemeinschaftlich der Glückseligkeit fähig zu machen, das ist zu erziehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum