Fünfte Fortsetzung

Um elf Uhr pfiff eine Sirene, und die Arbeiter kletterten hinunter von Dachstühlen und Brückenträgern, Schornsteinen und Röhren, um zum Frühstück zu gehen. Neidisch schaute ich mir die Schweißung an, die Popow oberhalb seines Kopfes innen in der Ausblastrommel gemacht hatte. Es war die beste Arbeit, die man sich denken kann. Popow war als Stahlschweißer ein wirklicher Meister, ebenso gut oder sogar besser als einer der Fachleute, die ich in den Werkstätten der General Electric in Schenectady kennengelernt hatte.

Popow schlug mit den Händen gegen die Sprossen der Stahlleiter, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen, dann kletterten wir hinunter. Infolge des kalten Windes sahen wir im Gesicht aus wie gekochte Krebse. Zusammen mit Schabkow und ein paar anderen Monteuren, die mit Hilfe einer Handwinde eine Expansionsfuge auf einen Schornstein gehisst hatten, begaben wir uns zum Speisesaal.


Schabkow und Popow waren verhältnismäßig gut gekleidet. Ihre Lederhandschuhe waren noch anwendbar, wenn auch einige Löcher hineingebrannt waren. Sie hatten Walinki an den Füßen, die bis zu den Knien reichten, sie hatten lange Schafpelze mit der Wolle nach innen, pelzgefütterte Hüte und wollene Schals. Die beiden Monteure, die zu ebener Erde arbeiteten, waren weniger glücklich daran. Der eine hatte zerrissene Lederschuhe anstatt Filzschuhe, und jeder, der in einem kalten Klima gewesen ist, weiß, was für eine Tortur Lederschuhe sein können. Der andere hatte zwar Filzschuhe, aber die Sohlen lösten sich. Obgleich sie mit Stahldraht zusammengehalten wurden, schauten die Lappen, die er statt Strümpfen um die Füße gebunden hatte, an zwei Stellen heraus. Ihre Schafpelze waren zerrissen und verbrannt, ihre Handschuhe waren beinahe ohne Innenseiten. Es waren junge Rekruten vom Dorf, noch keine ausgebildeten Stahlarbeiter, und deshalb mussten sie sich mit den Kleidungsstücken begnügen, die übrigblieben.

Schabkow klapste einen von ihnen auf den Rücken. „Na, Grischka, hast du Lust, heute nachmittag ’raufzukommen und oben zu arbeiten? Wenn dir schwindlig wird, kannst du ja wieder ’runtergehen. Der Mischa hier braucht jemanden, der die Expansionsfuge richtig hält, während er sie befestigt.“

Grischa warf sich in die Brust. Auf diese Chance hatte er schon lange gewartet. „Was heißt das, Schwindel kriegen? Natürlich werde ich hinaufgehen. Aber, hör mal! Könnte man nicht ein Paar Filzstiefel bekommen. Da oben ist es kalt. »

„Ich weiß“, sagte Schabkow. „Ich habe deinetwegen mit dem Vormann gesprochen und werde ihn nochmal erinnern. Wenn aber keine Filzstiefel mehr auf Lager sind, was kann ich dann tun?“

„Wir müssen sie aber haben“, sagte der junge Monteur mit einem kräftigen Fluch. „Es steht im Kollektivvertrag. Ich habe es selber gelesen.“

Niemand antwortet. Vermutlich hatten alle den Kollektivvertrag entweder selber gelesen, oder man hatte ihn vorgelesen, aber, wie Schabkow sagte, wenn keine Stiefel vorhanden waren, dann war eben nichts zu machen. Der andere Monteur sagte nichts. Er war ängstlich, dass der Brigadier ihm vorschlagen würde, oben zu arbeiten. Vorläufig lag ihm mehr daran, zu ebener Erde zu bleiben. Er hatte sich allerdings an Treppen und kurze Leitern gewöhnt, aber einen zwanzig Meter hohen Stahlpfeiler hinaufklettern, um dann da oben an einem Schornstein zu arbeiten, während man auf einem schmalen Holzbrett stand, das hin und her schwankte und dauernd zitterte nein, nein, lieber nicht. Da war es doch besser, sich auf dem Erdboden zu halten und die Winde zu bedienen, auch wenn er dabei in der dritten Kategorie blieb mit nur hundertzwanzig Rubel im Monat, während die Monteure, die hoch oben auf den Gerüsten arbeiteten, im allgemeinen in der vierten waren und zweihundert im Monat verdienten.

Wir gingen quer über zahllose Eisenbahnschienen, kamen am Hochofen Nr. 2 vorüber, der schon in Betrieb war, und näherten uns, nachdem wir über einen Stapel Eisenbalken, halbfertige Betonformen und einige Erdhügel geklettert waren, einem langen, niedrigen Holzbau, dem die Arbeiter von allen Seiten zuströmten. Über der Tür stand: „Speisesaal Nr. 30.“

„Wie viel Karten hast du bekommen?“ fragte Popow Schabkow leise. „Ach ja, natürlich, du bist ja ein, „Spezieller“ (womit er einen enteigneten Kulaken meinte), du hast ja nur eine.“

Schabkow grinste. Er hatte zwei. Iwanow, der Vormann, hatte ihm eine Extrakarte gegeben, weil er der Ansicht war, dass eine bei Schabkow angelegte Doppelmahlzeit sich mit einem Maximum von Arbeitseinheiten bezahlt machte.

Gemeinsam betraten sie den Speisesaal. Die Arbeiter machten fast keinen Unterschied zwischen den „Speziellen“ und den anderen. Jene oder ihre Väter waren Kulaken gewesen, aber jetzt verrichteten alle dieselbe Arbeit und lebten dasselbe Leben. Sehr häufig arbeiteten die „Speziellen“ besser als der Durchschnitt, weil sie für gewöhnlich die energischsten Elemente der Dörfer ausmachten, die während der NEP.-Periode vermögend geworden waren, das heißt während der Jahre 1923 bis 1928, als vorübergehend individuelle Initiative und Kleinkapitalismus in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft zugelassen wurden. Schabkow war allgemein geachtet. Er regierte eine Belegschaft von achtzehn Mann, und obgleich unter diesen zwei „Spezielle“ waren, hatte er keine Schwierigkeit, die Disziplin aufrechtzuerhalten.

Der Essensaal war gedrängt voll. Die Arbeiter saßen an langen kahlen Holztischen, und beinahe hinter jedem stand einer, der wartete. Es herrschte großer Radau und ziemliche Unordnung. Junge Kellnerinnen liefen mit langen Servierbrettern umher, auf denen Suppenteller standen und große Brotstücke lagen. Es war kalt hier. Man konnte seinen Atem sehen. Jedenfalls war es aber so viel wärmer als draußen, dass die Leute ihre Schafpelze aufknöpften und die Mützen an den Ohren aufrollten. An der Tür stand ein dicker Tatare, der die Karten der Ein tretenden prüfte und jedem einen Holzlöffel gab.

Die Karten waren sehr einfacher Art; sie waren auf braunes, billiges Papier gedruckt. „Essensaal Nr. 30“ stand auf jeder Karte, und längs der Ränder standen die Zahlen 1 bis 31, die die Kellnerinnen abrissen, ehe sie die Mahlzeit servierten. Die Karte berechtigte den Besitzer zu einer Mahlzeit täglich während eines Monats. Schabkow und ich drängten uns bis zur äußersten Ecke und stellten uns hinter zwei Maurer, die bereits aßen.

„Wenn sie uns nur etwas mehr Brot geben würden“, sagte Popow, der in der Nähe stand, „zweihundert Gramm ist nicht besonders viel.“

„Die Ingenieure bekommen dreihundert Gramm in ihrem Saal, hab ich gehört“, sagte Schabkow und wischte seinen Löffel an der Innenseite seines Schafpelzes ab. „Bist du mal dort gewesen?“

„Ja, einmal“, antwortete Popow. „Kolja hat mir seine Karte geliehen. Das Essen ist nicht viel anders. Aber man braucht nicht so lange zu warten, es ist nicht so voll. Die Suppe ist dieselbe, glaube ich.“

Bevor wir Platz bekamen, warteten schon wieder andere hinter uns, um unsere Plätze einzunehmen, wenn wir fertig waren.

„Ein Maurer soll gestern in einen Rauchgang gefallen sein“, sagte ein Monteur zu Popow.

„Hab’ ich auch gehört“, antwortete dieser. „Es wird Zeit, dass das Schutzbüro etwas tut und einige von seinen papierenen Vorschriften durchdrückt.“

Solche und ähnliche Gespräche wurden jeden Tag geführt, aber das Schutzbüro war bisher nicht in der Lage gewesen, effektive Maßnahmen zur Verminderung der Unglücksfälle durchzuführen, und zwar hauptsächlich aus drei Gründen: erstens wegen der Unerfahrenheit der Arbeiter und deren kindlicher Unfähigkeit, die Gefahr zu begreifen; zweitens infolge des Mangels an Holz für ausreichende Baugerüste, zum Beispiel für Geländer an Treppen und Leitern; und drittens wegen des Mangels an elektrischen Glühlampen. Die Folge hiervon war, dass die Leute, die hoch oben in den Rohren und Schornsteinen arbeiteten, früh morgens und am Nachmittag ohne Licht waren. In allen drei Fällen war das Arbeiterschutzbüro hilflos. Es gab nicht genug Holz, und wenn etwas kam, wurde es zu anderen Zwecken verwendet, oder es ging zu Hause in den Öfen der Arbeiter in Rauch auf. Mit den Glühlampen aber war im Dezember ein Unglück geschehen. Die große Transformatorstation hatte einen Strom von dreihundertachtzig anstatt zweihundertzwanzig Volt in die Leitungen geschickt und sämtliche eben eingekoppelten Lampen waren durchgebrannt. Reservelampen gab es nicht.

Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem wir den Saal betreten hatten, konnten wir endlich auf eben freigewordenen Stühlen Platz nehmen. Wir legten die Karten auf den Tisch und warteten auf die Kellnerin, die an einem anderen Tisch bediente. Sie schimpfte gutmütig über die Arbeiter, die sie gelegentlich auf den Hintern klopften und versuchten, zwei Mahlzeiten auf eine Karte zu bekommen. Erst nach zehn Minuten war sie bei uns und begann die Coupons abzureißen. Schubkow und Popow, die beide zwei Karten hatten, machten die größten Anstrengungen, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Aber es half nichts. Nachdem sie zwölf Coupons abgerissen hatte, zählte sie nach und stellte fest, dass wir nur zehn am Tisch waren. Popow rettete die Situation. „Ja, natürlich“, sagte er, „Grischka und Petja haben ihre Karten abgegeben und sind dann gegangen sich die Hände waschen.“ Popow grinste. Die Kellnerin grinste auch. Noch niemals hatte sich irgend ein Arbeiter im Saal Nr. 30 während des Winters die Hände gewaschen. Immerhin hatte das Mädchen nun Zeugen, so dass sie dem Direktor gegenüber bei einer Kontrollrechnung, die übrigens ziemlich unwahrscheinlich war, eine Erklärung Vorbringen konnte. Lächelnd eilte sie fort und kam nach einiger Zeit mit zwölf großen Stücken Schwarzbrot zurück, und bald darauf mit zwölf Tellern Suppe. Die Suppe war nicht schlecht. Sie enthielt ein bisschen Kohl, eine Spur Kartoffeln und Buchweizen und hier und dort einen Knochen. Und sie war heiß, und das war die Hauptsache. Die Arbeiter verzehrten sie mit gutem Appetit. Einige taten Senf hinein, um ihr mehr Geschmack zu geben. Die meisten hatten schon alles Brot aufgegessen, ehe die Suppe kam. Schabkow und Popow hatten indessen je zwei Stücke, die bis zum anderen Gericht reichten. Dieses bestand aus einem Suppenteller mit Kartoffeln, über welche eine dünne Fleischbrühe gegossen war. Obenauf lag ein kleines Stück Fleisch.

Popow und Schabkow aßen gierig.

„Gutes Essen“, sagte Schabkow, „ich wünsche wirklich, wir würden jeden Tag solch ein Mittagessen bekommen.“

Popow antwortete nicht. Er grunzte nur. Er war vollauf beschäftigt, seine beiden Teller Kartoffeln mit Fleisch zu verzehren.

„Ich habe gehört, dass Lominadse, der neue Parteileiter, großen Krach wegen des Essens gemacht hat. Er fordert das Recht, dass wir beliebig viel Brot verlangen können und zwischen drei verschiedenen warmen Gerichten wählen dürfen“, sagte der Arbeiter neben Popow zu einem üppigen, rundwangigen Mädchen, einer Nietnägelaufwärmerin, die neben ihm ihre Kartoffeln schluckte.

„Das werde ich glauben, wenn ich’s gesehen habe“, sagte das Mädchen mit typisch ukrainischem Akzent. Sie saß bei den Männern. Es gab nur zwanzig bis dreißig Frauen im Raume. Die meisten trugen ebensolche Filzstiefel und Schafpelze wie die Männer, und man konnte sie von diesen nur an den dicken Schals unterscheiden, die sie um den Kopf trugen.

Kaum waren wir mit dem Essen fertig, so drängten die Wartenden sich zu unseren Stühlen. Popow und Schabkow standen auf, lockerten ihre Gürtel und rülpsten. „Da“ (das russische Wort für ja), sagte Popow. „Ein gutes Mittagessen!“

Als wir wieder auf unseren Arbeitsplätzen waren, zeigte die Holzuhr auf dem Kompressorhaus halb eins. Wir hatten nur fünfzehn oder zwanzig Minuten gegessen, aber ein und eine halbe Stunde unserer Arbeitszeit verloren. Wieder ein Zeichen schlechter Organisation. Der Arbeitsleiter kannte die Verhältnisse, auch die Gewerkschaften und die Parteibeamten. Aber die Beseitigung des Elends war eine andere Sache. Tausende von Arbeitern mussten essen. Aber es gab nicht genügend Essensäle und Tische und Stühle und Löffel, ja auch nicht genügend Lebensmittel. Erst drei Jahre später wurde es infolge des gesteigerten Lebensmittelzuflusses möglich, mit dem Kartensystem aufzuhören, bessere Mahlzeiten zu bieten und den Zeitverlust zu verhindern. Aber in den Jahren 1932 und 1933 war die Lage noch schwierig, und niemand schien etwas dagegen tun zu können.