Dritte Fortsetzung

Gegen zehn Uhr sammelte sich in der Holzbaracke eine Gruppe von ganz anderer Zusammensetzung als die vor drei Stunden. Zuerst kam Sjemitschkin, der Arbeitschef. Dann kam Mr. Harris, der beratende amerikanische Spezialist mit seinem Dolmetscher; danach Tischenko, der stämmige, düstre „Strafspezialist“. (Es gab damals mehrere tausend sogenannter Strafspezialisten, meist hervorragende Ingenieure und Wissenschaftler, die in den zwanziger Jahren wegen antibolschewistischer Betätigung zu Strafarbeit verurteilt und in entlegene Industrieorte und -Städte verbannt waren, wo sie als Spezialisten verantwortungsvolle technische und administrative Posten innehatten.) Einer nach dem anderen kamen die Männer herein, knöpften die Röcke auf, wärmten die Hände und setzten sich nieder, um ihre Pläne zu diskutieren. Mr. Harris zog ein Paket dicker Kusbaßzigaretten hervor, die aus den besonderen Läden für die Ausländer stammten. Mit einem Lächeln bot er sie in der Runde an. Keiner, der nicht annahm. Kolja, der gerade eintrat, ließ sich auch die Gelegenheit nicht entgehen.

„Also“, ließ sich Mr. Harris durch seinen schweigsamen Dolmetscher vernehmen. „Wann könnt ihr wohl mit den übrigen Vernietungen an der Spitze von Nr. 3 fertig sein? Ich habe gerade von dem neuen Zeitlimit gehört. Der ganze Oberteil muss also am Fünfundzwanzigsten fertig sein, das heißt in zehn Tagen.“


Tischenko, der Oberingenieur, zuckte die Achseln. Er war 1929 im Ramsinprozess wegen Sabotage zum Tode durch Erschießen verurteilt und verbüßte jetzt in Magnitogorsk die auf zehn Jahre Zwangsarbeit gemilderte Strafe. Er ergriff nicht sogleich das Wort. Er war ein wortkarger Mann. Vor der Revolution war er Chefingenieur einer belgischen Gesellschaft in der Ukraine gewesen. Er besaß damals ein eigenes Haus, spielte Tennis mit dem englischen Konsul, schickte seinen Sohn nach Paris, um Musik zu studieren. Jetzt war er alt. Sein Haar war weiß. Er hatte viel Geschwätz gehört seit 1917 und festgestellt, dass das meiste davon unnütz und wertlos war. Er tat seine Arbeit systematisch, aber ohne Begeisterung. Er versuchte, daran zu glauben, dass er beim Aufbau eines starken Russland half, wo das Leben einmal angenehmer sein würde als das seines Sohnes in Paris oder seiner Schwester in London. Aber jedenfalls war es das jetzt noch nicht.

Mr. Harris sah Tischenko an. Er verstand die Stellung des Älteren und respektierte sein Schweigen. Aber jedenfalls war er konsultierender Ingenieur und Kontrollant, wurde mit guten amerikanischen Dollars bezahlt und mit Kaviar beliefert in einem Lande, wo es nur wenig Brot und gar keinen Zucker gab, und das alles, damit Magnitogorsk rechtzeitig fertig würde. Er wiederholte also seine Frage. Schließlich antwortete Tischenko zögernd: „Ein Nieter ist gestern abend erfroren. Kälte und Unterernährung. Heute morgen fehlten vier Mädchen, die die Nieten anhitzen. Zwei von ihnen sind schwanger, glaube ich, und es ist kalt da oben. Der Kompressor arbeitet schlecht.“ Er brach ab, da er einsah, dass das alles nicht zur Sache gehörte. Wenn er sagen würde, dass die Arbeit bis zum Fünfundzwanzigsten fertig wäre, würde er als Lügner und Heuchler dastehen, und Mr. Harris würde das sehr wohl wissen. Wenn er aber sagen würde, dass es länger dauern werde, so würde er den Beschluss des Kommissars für die Schwerindustrie sabotieren. Er war schon einmal wegen Sabotage verurteilt. Er starrte hinaus durch das verstaubte Fenster. „Es wird noch mindestens einen Monat dauern“, sagte er endlich.

„Das ist auch meine Meinung“, sagte Mr. Harris. „Aber gewisse Sachen müssen gemacht werden, und zwar sofort, sonst dauert es noch länger.“ Sie nahmen ihre Pläne vor und diskutierten mit leisen, ernsten Stimmen die Maßnahmen, die notwendig waren, damit die Arbeiten am Oberteil von Nr. 3 beendet werden könnten, ehe dreimal soviel Zeit als vorgeschrieben verstrichen war.

Sjemitschkin schaute auf. Seine Haltung verriet Respekt und Verachtung zugleich. Diese „Burschuis“ verstanden nichts von bolschewistischem Tempo. Sie begriffen die arbeitenden Klassen nicht. Aber sie verstanden sich auf Hochöfen, und das viel besser als er selber. Sie hatten langjährige Erfahrungen betreffs der Errichtung von Stahlwerken in verschiedenen Ländern, während er, Sjemitschkin, sein Examen erst vor einem Jahre nach einer ziemlich oberflächlichen Ingenieurausbildung gemacht hatte. Wenn es sich um verwickeltere technische Einzelheiten handelte, wussten die beiden Männer dort, wie jeder einzelne Hochofen in der ganzen Welt konstruiert war, während er, Sjemitschkin, nur eine schwache Ahnung hatte, wo Berlin lag und dass Paris sich etwas dahinter befand.

Die Tür ging auf, und Schewtschenko kam herein. Schewtschenko war der große Aktivist unter dem technischen Personal. Von seinen Untergebenen wurde er Ingenieur genannt. In Wirklichkeit hatte er das Institut für Rote Führer absolviert, gehörte der Partei seit 1923 an, war Gewerkschaftsorganisator, Parteibeamter und Leiter einer großen Konstruktionsarbeit am Don gewesen. Sein technisches Wissen war begrenzt, und er machte viele Fehler, wenn er russisch schrieb. Gegenwärtig war er beigeordneter Distriktsleiter für die ganzen Anlagen. Er war dem Direktor und der Partei gegenüber verantwortlich dafür, dass die Konstruktionspläne ausgeführt wurden.

Aber Schewtschenko hatte schon lange begriffen, dass es viel wichtiger war, dass seine Arbeit gut ausgeführt zu sein schien, dass seine Angelegenheiten in Ordnung zu sein schienen, als dass die Arbeit überhaupt so rasch wie möglich ausgeführt wurde. Auf Versammlungen machte es sich sehr gut, von der sozialistischen Aufbauarbeit zu reden und von der gemeinsamen Arbeit der Ural-Kusnetz-Industrien; für ihn waren das Binsenwahrheiten, Grundsätze, die man allerdings verstehen musste, die aber eine unzureichende Grundlage für eine angenehme Karriere als bolschewistischer Verwaltungsbeamter ausmachten. In jedem Volk kann nur einer der Erste sein. Das einzige, was ihm etwas bedeutete, war, der Erste in seinem Fach zu werden, selbst wenn er seine Konkurrenten mit allen Mitteln bekämpfen musste. Stalin wird in der Geschichte dafür gepriesen werden, dass er das sozialistische System in einem ganzen Lande durchgeführt hat. Schewtschenko wird den Leninorden erhalten, wenn es ihm glückt, Moskau davon zu überzeugen, dass der Hochofen Nr. 3 aus guten Gründen nicht vor Juni fertig sein kann. Zu diesem Zeitpunkt würde er nämlich, wenn alles gut geht, in Betrieb sein können. Schewtschenkos Anstrengungen waren daher hauptsächlich darauf gerichtet, „Gründe“ oder politische Entschuldigungen dafür zu finden, dass es seiner Organisation nicht geglückt war, Moskaus allzu ehrgeizigen Arbeitsplan durchzuführen, dessen Unmöglichkeit allgemein bekannt war.

Darüber hinaus war Schewtschenko ein guter Administrator und ein begeisternder Redner, auf dessen Worte die Arbeiter hörten. Er war fleißig, besonders wenn er vermuten musste, dass seine Vorgesetzten es bemerkten; von seinen Untergebenen verlangte er strenge Disziplin. Als er hereinkam, wandte sich Tischenko nach ihm um und nickte ihm zu. Mr. Harris reichte ihm lächelnd die Hand.

„Haben Sie die neue Order gesehen?“ fragte Schewtschenko streitlustig.

„Da“, bejahte Harris, der die Frage ohne seinen Dolmetsch verstanden hatte.

„Na also!“ Schewtschenko schaute von einem zum andern.

Sjemitschkin, Kolja und ich lauschten gespannt. Wir wussten sehr wohl, dass Schewtschenko ein Flegel und Karrierist war. Aber waren nicht gerade solche Leute notwendig, um die zahllosen Schwierigkeiten zu überwinden, die Arbeiter anzuspornen, sie überhaupt dazu zu bringen, trotz Kälte, schlechter Werkzeuge, Materialmangel und Unterernährung zu arbeiten. Um Magnitogorsk auf die Beine zu stellen, waren eben Leute verschiedenster Art notwendig. So viel war klar.

Mr. Harris schrieb Zahlen auf einen Zettel, winkte Schewtschenko zu sich und las ihm eine Aufstellung der Materialien vor, die zur Vollendung des oberen Teils von Nr. 3 notwendig waren, aber vollkommen fehlten.

„Sehen Sie, Mr. Schewtschenko“, sagte der Amerikaner, „Order ist Order, aber man kann weder Stahl damit nieten noch Nietnägel erhitzen. Wir müssen die Sachen bekommen, oder die Arbeit wird nicht vor nächsten Weihnachten fertig. Sie sind ein einflussreicher Mann in der Partei und in der Neubauverwaltung. Es dürfte Ihre Sache sein, das Material zu beschaffen.“

Schewtschenko wusste, dass das richtig war. Aber Harris’ Bemerkung hatte eine Situation geschaffen, in der es den Anschein hatte, als ob er, der beigeordnete Distriktschef, seine Arbeit nicht vorschriftsmäßig ausführte. Das konnte er natürlich nicht durchlassen. Schewtschenko ließ sich also weit und breit über die verschiedensten Themen aus. Er zitierte Marx und Stalin und spielte auf die Rapporte über die Ramsingruppe an, auf ausländische Agenten und Opportunisten. „Umgeben, wie wir sind, von feindlichen kapitalistischen Staaten, sind wir gezwungen, unser großes Land zu industrialisieren, und das so rasch wie möglich. Magnitogorsk ist das bedeutendste Zentrum der Schwerindustrie in der ganzen Sowjetunion. Millionen von Rubeln sind hier investiert, zu Tausenden sind die Arbeiter von nah und fern gekommen. Das Land wartet auf Eisen und Stahl. Wir haben Material und Ausrüstung für zwei neue Hochöfen gesammelt. Sie müssen so rasch wie möglich ausgeführt und in Betrieb gesetzt werden. Aber wenn ich mich auf Sie verlassen wollte, so müsste ich glauben, dass die Arbeit aufgehalten wird, weil ein paar Nietnägel fehlen. Sie, Tischenko, haben dreißig Jahre industrieller Erfahrung hinter sich, und trotzdem sitzen Sie hier und tun nichts. Haben Sie nicht genug Erfindungsgeist, um was auszudenken, damit die Arbeit weitergeht, einen Ausweg zur Überwindung der Hindernisse? Oder interessiert Sie die Sache nicht? Vielleicht haben die letzten fünfzehn Jahre Sie noch nicht überzeugt.“

Schewtschenko war von seiner eigenen Beredsamkeit hingerissen. Er war ganz rot im Gesicht geworden. Mit ausgestrecktem Arm stand er da. Nachdem er sich auf diese Weise behauptet und den alten Saboteur sowie den ausländischen Spezialisten darauf hingewiesen hatte, dass die Partei wichtiger war als alles andere, nahm er eine von Mr. Harris’ Zigaretten, zog sich einen Stuhl zum Tisch und fing an, das Materialverzeichnis durchzugehen, das der Amerikaner aufgestellt hatte. Hier gab’s leider keinen Zweifel. Keine proletarische, noch so glühende Begeisterung, keine Redekünste konnten eineinhalbzöllige Nietnägel ersetzen. Schewtschenko griff zum Telefon. Er sprach mit dem Lagerhausdirektor, mit dem Chef für sämtliche Vorräte innerhalb des Distrikts, schließlich mit einem persönlichen Freund im Walzwerk. Er redete mit stiller, freundlicher Stimme. Eine kleine Festlichkeit, die am nächsten Abend stattfinden sollte, wurde nebenbei erwähnt. Beiläufig sprach er auch von eineinhalbzölligen Nietnägeln. Als er den Hörer aufhing, grunzte er: „Ich denke, wir werden die Nietnägel bekommen.“

Die vier Männer, die heterogenste Gruppe, die man sich vorstellen kann ein Ingenieur von Cleveland in den Vereinigten Staaten, ein verurteilter Spezialist, ein roter Direktor und ein junger, unerfahrener Sowjetingenieur setzten sich um den Tisch, um die übrigen Punkte auf Mr. Harris’ Liste zu besprechen.