Sechste Fortsetzung

Ein Gewerkschaftsfunktionär klebte ein Stück einer Zeitung an die Tür des Kontorschuppens. In falschem Russisch war eine Bekanntmachung darauf gemalt: Versammlung Wahl eines neuen Vorsitzenden im Betriebskomitee Um fünf Uhr in der Roten Ecke Anwesenheit obligatorisch. Die meisten hatten die Bekanntmachung gesehen, sie erregte aber wenig Interesse. Das Betriebskomitee hatte für die meisten Arbeiter geringe Bedeutung. Es organisierte schlecht besuchte Versammlungen, auf denen Gewerkschaftsfunktionäre vom Bauprogramm für Magnitogorsk, über den Zweiten Fünfjahresplan, die internationale Lage usw. sprachen. Wenn Arbeiter krank gewesen waren oder sich verletzt hatten, brachten sie ihre Krankenatteste dem Vorsitzenden zur Unterschrift. Das war alles. Andrerseits war die Betriebsverwaltung nicht ohne Bedeutung für die Arbeiter. Sie stellte sie an und entließ sie, gab ihnen Weisungen und zahlte die Löhne aus. Auch die Partei hatte Bedeutung. Durch die Partei konnte man sich ein Zimmer verschaffen, konnte neue Arbeit bekommen, Klagen Vorbringen oder Vorschläge machen mit wenigstens einer gewissen Sicherheit, dass sie beachtet würden. Das Betriebskomitee hatte aber mit all dem nichts zu schaffen. Die Wahl eines neuen Vorsitzenden interessierte daher wenig. Das war der Grund, warum nachmittags um fünf nur der abgehende Vorsitzende, der zu einer anderen Arbeit versetzt war, und zwei Komiteemitglieder sich in der Roten Ecke einfanden, rauchten und auf die Tür starrten. Allmählich kam noch ein Arbeiter, zwei, fünf . . . und danach niemand mehr.

„Das ist ein verdammtes Benehmen“, sagte der bisherige Vorsitzende, ein nervöser Mann mittleren Alters, der glatt und unappetitlich aussah und eine teure, schwarze Seehundsmütze trug.“ Ich habe die Bekanntmachung überall angeschlagen. Ich begreife nicht, warum nicht mehr Leute kommen.“ Ein stattlicher junger Mann mit einer Narbe am Munde zuckte die Achseln. Die Gewerkschaftsleitung des Distrikts hatte ihn in die Versammlung geschickt, um zum neuen Vorsitzenden im Betriebskomitee der Hochofenbauarbeiter gewählt zu werden. Es sah in der Tat für seine zukünftige Tätigkeit nicht gerade vielversprechend aus, wenn nur fünf Arbeiter zu einer so wichtigen Wahl kamen. Er konnte eine Bemerkung zu dem Kollegen, dessen Nachfolger er werden sollte, nicht unterdrücken. „Du scheinst ja hier verteufelt viel soziale Arbeit ausgerichtet zu haben. Was sollen wir jetzt machen? Ich kann doch nicht von einer Versammlung gewählt werden, auf der von 1800 Mitgliedern nur fünf anwesend sind. Und du musst morgen zu deinem neuen Arbeitsplatz fahren.“ Der neue Vorsitzende war verärgert. Die anderen schienen die Sache ruhiger zu nehmen.


„Ach was, reg dich nicht auf“, sagte ein Komiteemitglied. „Diese Wahl ist ja jedenfalls nur eine Formalität. Wir können sie in der nächsten Versammlung wiederholen. Inzwischen fängst du an, als ob alles in Ordnung wäre. Aber natürlich ist es dumm, dass wir zu so einer Versammlung nicht mehr Leute zusammentrommeln können.“

Die Ursache des Fernbleibens der Arbeiter war für jeden, der sich dafür interessierte, ziemlich klar. Zunächst mal war das Betriebskomitee genau genommen seit langem entschlafen. Es tat nichts, um die Arbeiter gegen bürokratische und übereifrige Vorgesetzte zu schützen und die Befolgung der Arbeitsgesetze zu sichern. Zum Beispiel arbeiteten die geschicktesten Schweißer regelmäßig zwei Schichten täglich, weil es nicht genug Leute gab und die Arbeit unter allen Umständen gemacht werden musste. Das widersprach indessen zweifellos den Regeln. Trotzdem tat das Komitee nichts dagegen. Aber man konnte sich doch nicht mit Schewtschenko streiten und die Arbeiter daran hindern, zur Arbeit zu gehen. Und überall war es das gleiche. Auch mit den Wahlen war es schwierig. Theoretisch sollte der Vorsitzende ein Betriebsarbeiter sein, gewählt von seinen Kameraden und imstande, deren Interessen zu vertreten. In Wirklichkeit pflegte das Distriktskomitee jedoch einen Gewerkschaftsfunktionär zu schicken, der gewohnt war, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, und dessen Ankunft durch eine „Wahl“ bestätigt wurde. Die Wahl hatte also keinerlei Bedeutung, da nur ein Kandidat vorhanden war, der von höherer Stelle geschickt war. Jeder Versuch einer Kritik durch einen Arbeiter war bei diesem Stande der Dinge fruchtlos.

Die Befugnis der Gewerkschaften hatte damals ihren tiefsten Stand erreicht. Später, während der Jahre 1934 und 1935, wurden sie reorganisiert und funktionierten so, dass sie die Achtung und Unterstützung wenigstens eines Teils der Arbeiterschaft zurückgewannen, und zwar dadurch, dass sie Erholungsheime bauten, energisch die Befolgung der Arbeitsregeln verlangten, selbst auf die Gefahr hin, dass die Arbeit gelegentlich darunter litt; ferner verteilten sie Theaterbillette, organisierten Schulen und Kurse und schickten die Arbeiter mit Frauen und Kindern in Erholungsheime.

Ich verließ die Versammlung und ging mit Popow und anderen Schweißern nach Hause.

„Wie viel Überstunden hast du heute gemacht?“

„Drei Stunden“, antwortete Popow. „Alexander bleibt über die nächste Schicht. Ich habe gestern zwei Schichten gearbeitet und habe mein Brot nicht bekommen. Heute hab’ ich abgelehnt.“

Wir gingen quer über Gräben und Eisenbahnschienen und rutschten an Abhängen hinunter. Es war schon beinahe stockdunkel und sehr kalt. Fast einen Kilometer mussten wir gehen, ehe wir zur Stadtgrenze kamen. Popow betrachtete einen Fräser, der neben ihm ging. „Halloh, du da“, rief er. „Deine Nase ist weiß.“ Der Fräser fluchte, zog den Handschuh aus und begann kräftig seine Nase mit einer Handvoll Schnee zu reiben. Die anderen lachten. „Sascha hat immer eine empfindliche Nase gehabt, seitdem er mit der Armee im Norden war, wo sie ihm beinahe erfroren ist“, sagte einer zu mir.

Als wir das Gebiet der Bauplätze verließen, hatte sich jeder von uns ein Bündel Brennholz gesammelt. Wenn möglich, nahmen wir nur Abfallholz, aber wenn solches nicht zu finden war, spalteten wir Planken und Balken und was uns unter die Hände kam. Wir mussten Wärme in die Baracken kriegen. Das Versorgungsamt hatte ja keine Kohle.

Ehe wir die Bauplätze verließen, mussten wir einen Umweg machen, um nicht mit dem Wächter zusammenzustoßen, der aufpasste, dass niemand Holz stahl. Er war ein alter Partisan und mit einem Gewehr ausgerüstet, das möglicherweise schießen konnte. Nach einem neuen Gesetz war Diebstahl von sozialistischem Eigentum ein Kapitalverbrechen, und da alle Holz mit nach Hause nahmen, konnte ja einer das Pech haben, als warnendes Beispiel zu dienen. Wir sahen den alten Wächter in seinem riesigen Schafpelz und mit dem langen Gewehr, aber er sah uns nicht.

Nachdem wir den Fabrikbezirk verlassen hatten, teilte sich die Schar. Grischka war mit einem Eimer versehen. Er nahm sämtliche Milchkarten und ging zur Milchverteilung, um den halben Liter zu holen, zu dem jeder Schweißer und Fräser täglich gesetzlich berechtigt war. Die Aussicht, Milch zu bekommen, war allerdings sehr gering. Im Winter war die Versorgung ganz schlecht. Die Milch kam zu Klumpen gefroren in Säcken von einem staatlichen Gut in der Nähe. Aber es war immerhin den Versuch wert. Deshalb schickten die Schweißer jeden Tag einen Mann und manchmal einmal oder bestenfalls zweimal in der Woche kam er wirklich mit einem halbvollen Eimer zurück.

Zwei Schweißer nahmen das Holz der ganzen Gruppe und gingen zu den Baracken, während wir anderen zu den Läden gingen, um Brot zu kaufen oder was man sonst gerade bekommen konnte.

Das große einstöckige Gebäude der Kooperativgenossenschaft der Hochofenbauarbeiter war ungeheizt und sehr schmutzig. Als wir in die Nähe kamen, sahen wir, dass es gedrängt voll von Arbeitern war und dass viele draußen Schlange standen.

„Merkwürdig“, sagte Popow. „Sie geben wohl heute was Besonderes aus.“

Wir gingen näher und stellten die ewige Frage: „Schto dajut?“ (Was gibt es?)

„Nur Brot“, sagte ein Arbeiter in der Schlange. „Es ist gerade vor einer halben Stunde gekommen. Heute morgens gab’s nichts.“

Wir stellten uns an. Langsam rückten wir vorwärts. Es dauerte zehn Minuten, bis wir hinein kamen, und weitere zwanzig, bis wir zum Ladentisch kamen. Die Fächer dahinter waren vollständig leer, abgesehen von vier Dosen Kaffeesurrogat und einer Reihe Parfümflaschen. Das einzige, was verkauft wurde, war schwarzes Brot. Eine Verkäuferin schnitt frische, dampfende Brotlaibe mit einem großen Messer. Nur selten brauchte sie ein Stück zweimal auf die Waage zu legen. Ein Gehilfe mit einer schmutzigen weißen Schürze über seinem Schafpelz schnitt die Coupons von den Brotkarten. Eine andere Verkäuferin nahm das Geld entgegen, fünfunddreißig Kopeken per Kilo. Gerade als Popow den Ladentisch erreichte, drängte sich ein großer Kerl mit mongoloiden Zügen vor und versuchte, sein Brot außerhalb der Reihe zu bekommen. Ein Sturm des Protestes brach los.

„Wenn du Vormann bist, scher dich zum Laden für Vormänner! Wenn du hier kaufen willst, musst du dich in der Reihe halten“, sagten vierzig Stimmen auf einmal. Der große Mongole protestierte. In gebrochenem Russisch stieß er Phrasen über die Rechte der nationalen Minderheiten heraus. Er bekam aber sein Brot erst, nachdem er sich wieder in Reih und Glied gestellt hatte. Zu oft schon hatten Angehörige der nationalen Minderheiten versucht, etwas umsonst oder außerhalb der Ordnung zu bekommen, oder Vorteile auf Grund der Nationalitätenpolitik Lenins zu ergattern. Das ging jetzt nicht mehr.

Popow zog eine verschlissene Brieftasche heraus und suchte nach Kleingeld, um das Brot zu bezahlen. Die Tasche war voll mit Geld. Er hatte mehr als zweihundert Rubel. (Nominell rund vierhundert Schweizer Franken, der Kaufkraft nach etwa vierzig Franken.) In der vergangenen Woche hatte er den Lohn für den letzten Monat erhalten, mit einer Verspätung von nur zehn Tagen, und damals gab es nichts zu kaufen. Er bekam jetzt Brot für sich und für Grischka, der zum Milchladen gegangen war, und für Grischkas Frau. Er verließ den Laden mit fünf Kilo Brot unterm Arm. Es war die Ration von zwei Tagen für zwei Arbeiter und eine zu versorgende Person. Ich bekam draußen mein Brot, und wir gingen zu einem Manufakturwarengeschäft auf der anderen Seite der Straße, um ein Paar Unterziehhandschuhe aus Wolle zu kaufen, die Popow notwendig brauchte. Der Laden war aber leer. Durch das Fenster konnten wir einen kleinen Haufen seidener Taschentücher und Sommerhemden sehen, seit einigen Tagen das einzige, was das Geschäft zu verkaufen hatte.

„Verdammtes Geschäft“, sagte er. „Im Sommer haben sie Schafpelze, im Winter nichts als seidene Taschentücher. Ich muss wohl morgen zum Basar gehen, um Handschuhe und ein Paar Unterhosen zu bekommen.“