Zwanzigster Abschnitt. - „Dergleichen Reden hören sich gut an, doch hat es allerlei Bedenkliches damit!“ ...
„Dergleichen Reden hören sich gut an, doch hat es allerlei Bedenkliches damit!“ sagte Steinheim. Vor Allem vergessen Sie nicht, daß Nathan, der Unterdrückte, der verachtete Jude, zu seinem Herrn und Unterdrücker spricht. Das mag die bescheidene, fast furchtsame Weise seines Auftretens bei aller seiner Selbstschätzung entschuldigen.
Im Gegentheil! rief Jenny. Wenn er es fühlt, daß er ein freier Mensch ist vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual empfindet, unterdrückt, verachtet zu sein, so muß ihn das nur stolzer gegen seinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan fürchten? – Ketten und Gefängniß? Darüber erhebt ihn sein Selbstgefühl; – den Tod? Er hat sein Weib und seine Söhne sterben sehen und Gott getraut, erkann den Tod für sich nicht fürchten. Feigheit ist nur die Schwäche kleiner Seelen; wer sich wie Nathan frei empfindet, fürchtet Niemand und fühlt sich, selbst als verachteter Jude, den Besten gleich!
Sei es, daß Jenny durch Steinheim’s frühere Behauptung über die nothwendige Gleichheit in der Ehe verstimmt worden war, oder daß der Ausdruck „verachteter Jude“, den er jetzt gebraucht, ihr in Walter’s Anwesenheit unangenehm gewesen, genug, sie fühlte einen Unmuth in sich, der ihr fast Thränen erpreßte. Mit ungewohnter Heftigkeit hatte sie die letzten Worte gesprochen und stand dann schnell auf, um ihrem Vater entgegen zu gehen. Sie fiel ihm um den Hals und küßte seine Hände: Du weiser Mann, Du armer verachteter Jude! sagte sie so leise, daß selbst ihr Vater die Worte nicht vernahm, der sich begrüßend zu Steinheim wandte, heiter nach Nachrichten aus der Heimath fragte und Alle in die Unterhaltung verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nachdenken versunken. Walter bemerkte es und versuchte vergebens, in ihrer Seele zu lesen, als ein leichter Windstoß durch die Luft fuhr und Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten blickte. Er schlug den Kragen seines Ueberziehers in die Höhe und rief: „Wie ras’t die Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!“ Weißt Du, Hannchen! ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge, und wenn wir dies Baden-Baden nicht bald verlassen, stehe ich für Nichts. Indeß, wenn es Dir hier gefällt ....
Um Gottes willen, nein! sagte die kleine Frau ängstlich, und dann zu den Damen gewandt: Es ist ganz prächtig in Baden und ich hatte gehofft, hier das Badeleben kennen zu lernen, von dem man mir immer erzählt; aber mein Mann hat so erstaunlich reizbare Nerven und meinte gleich, die Luft in diesem engen Thale würde ihm nicht zusagen. Darum wollte ich nur, wir wären schon heraus und in Ems, wo mein lieber Steinheim eine Cur zu brauchen denkt.
Während dieser Rede war Steinheim aufgebrochen, hatte sich fest in seinen Rock geknöpft, seine kleine Frau an den Arm genommen und empfahl sich, Goethe’s Worte parodirend, also: „„Wir aber, die wir hier nur Fremde sind und hier nur wenig Augenblicke weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück, wenn wir Euch in der Vaterstadt begrüßen. Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen, welch einen Vorzug uns dies Loos gewährt.“„
Bald war das ungleiche Paar den Blicken entschwunden. Der Diener mit dem zusammengerollten Teppich folgte ihm in gemessener Entfernung auf dem Fuße nach.
Eine größere Gesellschaft hatte sich am Abend bei Frau von Meining versammelt. Es war das erste Mal, seit sie in Baden lebte, und sie hatte es Herrn Meier und Jenny zur Pflicht gemacht, von der Partie zu sein, da sie dieselben mit einigen Personen bekannt zu machen wünschte, die ihnen fremd waren. Die Gesellschaft war ziemlich belebt, man hatte geplaudert, musicirt und die Geheimräthin forderte Jenny auf, nun auch etwas zu singen. Bereitwillig ging diese aus dem Salon in das Wohnzimmer, in der Hoffnung, unter den dort befindlichen Noten mehrstimmige Sachen zu finden, weil sie glaubte, daß dergleichen unterhaltender sein würde. Die Etagère, auf der die Noten lagen, stand hinter einer Thür, deren geöffnete Flügel Jenny verbargen, so daß sie von einigen Personen, die in der Thür standen, nicht gesehen werden konnte, obgleich kein Wort, das jene sprachen, für Jenny verloren ging.
Was wird man jetzt singen? fragte eine alte Dame, deren Brust ein Stiftskreuz zierte, einen jungen Attachè der österreichischen Gesandtschaft beim Bundestage.
Ich glaube, das Fräulein Meier proponirte mehrstimmige Piecen! antwortete der junge Mann.
Sagen Sie mir, lieber Baron! die Meier’s scheinen ja Juden zu sein, wie kommt Frau von Meining und namentlich Graf Walter zu den Leuten? Man sagt, er soll der unablässige Begleiter dieser Familie sein und man hält ihn für extravagant genug, die Vermuthungen, von denen ich eben in dieser Rücksicht hörte, wahr zu machen, sagte die Stiftsdame.
Wie können Sie nur so etwas wiederholen, meine Gnädigste! Graf Walter gefällt sich allerdings darin, der Rotüre gegenüber den Liberalen zu spielen, indeß von der Thorheit, die Sie ihm zutrauen, eine Jüdin zu heirathen, ist er sicher fern. Die Meier ist hübsch und pikant. Die Galanterie eines Grafen wird ihrer Eitelkeit schmeicheln und Sie wissen, die Freiheit des so genannten Badelebens entschuldigt Manches! schloß lachend der Baron.
Athemlos und wie gelähmt stand Jenny da, den Kopf gegen eine Säule der Etagère gelehnt, als Frau von Meining zu ihr trat, der ihr langes Ausbleiben aufgefallen war. Erschreckt fuhr sie empor, faßte sich aber gleich und sagte anscheinend ruhig: Ich finde die Noten nicht und möchte überhaupt nicht singen, wenn Du mich davon freisprechen wolltest. Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören. Mit den freundlichsten Bitten nöthigte sie Jenny, an dem Flügel Platz zu nehmen und wenigstens irgend ein Lied zu singen, um damit der Gesellschaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick schien Jenny nachzudenken, sie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen sein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, sie griff mit sicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron’s „Mädchen von Juda“ zu singen, das von Kücken so meisterhaft komponirt ist. Ihre starke, metallreiche Stimme schien von dem Zorn in ihrer Brust einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefste Trauer klang aus ihren Tönen und als sie die zweite Strophe mit den Worten endete: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott sein?“ wagte Niemand zu athmen und Alle standen wie festgebannt und beherrscht durch die Gewalt des Zornes, der in diesen Tönen zu Gott rief und von ihm Rache erflehte. Dann ging der Gesang wieder zu wehmüthiger Klage über, Jenny’s Stimme wurde weicher, bis sie nochmals mächtig erklang in den Worten: „in Knechtschaft des Feindes der Jude verlacht“, und endlich matt in dem Wunsche erstarb: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! könnt ich nur im Tode vereinet dir sein.“
Die Röthe der Begeisterung, die während des Singens Jenny’s Wangen gefärbt hatte, war gegen das Ende des Liedes gewichen. Ruhig, aber angegriffen, stand sie vom Instrumente auf. Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu hören, in Vieler Augen standen Thränen; Andre sahen sich befremdet an. Sie schienen dunkel zu ahnen, daß ihnen hier, wo sie flüchtige Unterhaltung zu finden gehofft, eine Wahrheit entgegengetreten war, vor der sie erschraken, wie vor einem Gespenste, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbst Walter und Frau von Meining waren überrascht. So hatte der Graf Jenny niemals singen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte sie beschwören mögen, ihm die Ursache des Schmerzes zu vertrauen, der sie eben jetzt erschüttert hatte. Er wollte und mußte sie sprechen, aber sie vermied seine Annäherung und verließ bald, nachdem sie gesungen hatte, die Gesellschaft.
Walter begleitete sie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unterredung gestatten, an der sein Glück und seine Hoffnung hänge.
Ihr Glück, Herr Graf, antwortete Jenny, liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuschen sich, wenn Sie es in meiner Nähe suchen! Glauben Sie mir das, und dringen Sie nicht in mich! Sie reichte ihm bewegt die Hand zum Abschied und ging am Arme ihres Vaters davon.
Jenny’s Gesang und ihre ganze Erscheinung waren, während dies in einem der Nebenzimmer geschah, im Saale der Gegenstand der Unterhaltung geworden. Einige priesen ihre Schönheit und Anmuth, andere fanden ihr Auftreten abstoßend und stolz, zu ernsthaft und selbstbewußt für ein Frauenzimmer; und ebenso große Meinungsverschiedenheit herrschte über ihren Gesang.
Die Stimme ist vortrefflich, bemerkte die Stiftsdame, aber es zeigt immer von wenig Erziehung, sich und seine Gefühle so preiszugeben. Ich will gestehen, es mag unangenehm genug sein, dem jüdischen Volke anzugehören, indeß ist es doch nicht unsere Schuld, daß Fräulein Meier eine Jüdin ist und sich dessen schämt, und ich begreife nicht, mit welchem Rechte sie sich in der Gesellschaft in einer Weise gehen läßt, die für meine Nerven zum Beispiel viel zu stark ist. Ich versichere Sie, sie hat mich völlig krank gemacht!
Viele stimmten ihr bei, schwiegen aber, als Frau von Meining sich dem Kreise näherte, in welchem bald eine leichtere Unterhaltung den Eindruck verwischte, den Jenny’s Lied auf die Gesellschaft hervorgebracht. Nur Frau von Meining dachte mit ängstlicher Besorgniß an sie, und ihr entging es nicht, daß auch der Graf bald nach Jenny’s Entfernung das Haus verlassen hatte.
Der Abend war schwül und dunkel, als Walter aus den glänzend erleuchteten Zimmern der Geheimräthin in die nächtliche Dämmerung hinausschritt. Er hatte im Laufe des Tages die Antwort seines Onkels erhalten, der es ihm nicht verbarg, wie diese Verbindung mit Jenny entschieden gegen seine Ansichten und seine Wünsche sei. Was ich aber nicht hindern kann, schrieb er, mag ich auch nicht tadeln. Du bist unwiderruflich entschlossen und so wünsche ich von Herzen, daß Du in Deiner künftigen Gattin und in ihrer Liebe Ersatz finden mögest für die schweren, großen Opfer, die Du ihr bringen willst. Sobald Deine Verlobung erklärt ist und Du mit Deiner Braut in unsere Gegend kommst, denke ich Dich zu treffen, um das Mädchen kennen zu lernen, das Dir würdig scheint, den Namen einer Gräfin Walter zu tragen, eine Ehre, um die manche hochgeborne Jungfrau sie beneiden möchte. Fräulein Meier wagt viel, indem sie sich auf diese Höhe stellt, und Du wirst Muth und Energie brauchen, um sie dort zu halten. Aber das gerade reizt Dich! Nun, so geschehe, was geschehen soll, und wir wollen sehen, wie man der Angelegenheit die beste Wendung gibt.
Durch diesen Brief von dem Versprechen gegen Herrn Meier befreit, Jenny seine Liebe noch zu verschweigen, hatte er mit freudiger Bewegung den ganzen Tag eine Gelegenheit gesucht, sie allein zu sprechen. Steinheim’s Besuch, ihre darauf folgende Verstimmung hatten es ihm aber unmöglich gemacht, sich ihr zu nähern und ihn genöthigt, sie bei Frau von Meining um jene Unterredung zu bitten, die sie ihm verweigert hatte. Niemand konnte weniger persönliche Eitelkeit besitzen als Walter; indeß war er sich der Vorzüge bewußt, welche ihm seine Geburt und seine Verhältnisse vor vielen Männern gaben. Von Jugend auf hatte man ihm wiederholt, wie er jedes Mädchen durch seine Bewerbung ehre und überall waren die Frauen ihm in einer Weise entgegengekommen, die ihm eine Bestätigung für jene Behauptung geboten. Jetzt liebte er mit aller Hingebung seiner Seele. Jenny’s früheres Betragen hatte in ihm die Hoffnung erweckt, daß sie seine Gefühle theile; er war bereit, sie gegen die Vorurtheile der vornehmen Gesellschaft zu schützen, deren Ansicht er gegen sich hatte, und sie verweigerte sich ihm, obgleich sie seine Liebe kannte.
Voll quälender Ungewißheit kehrte er endlich nach seiner Wohnung zurück; in Jenny’s Zimmer brannte Licht und ein Schatten bewegte sich an den Vorhängen hin und her. Auch sie mußte noch wach sein. Das muß anders werden, sagte Walter zu sich selbst. Ich will, so theuer sie mir ist, weder um ihre Liebe betteln, wenn sie mich ihrer unwerth hält, noch ihren Frieden stören. Morgen ist sie mir verlobt, oder ich sehe sie nie wieder! Trotz des männlichen Entschlusses seufzte er, als er nochmals nach Jenny’s Fenstern blickte, und eine Thräne verdunkelte seinen Blick. War es der Gedanke, Jenny zu verlieren, oder das Gefühl gekränkten Stolzes, das sie erpreßte? Walter zerdrückte sie schnell, als schämte er sich derselben und ging in das Haus, um auf seinem Lager, das der Schlummer floh, der Geliebten und des kommenden Tages zu denken.
Auch Jenny konnte keine Ruhe finden. In der ersten Empörung ihrer Seele hatte sie, kaum heimgekehrt, sich ihrem Vater in die Arme werfen, ihm das Erlebte mittheilen und ihn beschwören wollen, am folgenden Tage Baden mit ihr zu verlassen. Aber der Gedanke, wie tief die Ueberzeugung ihren Vater schmerzen würde, daß immer wieder der Fluch der Vorurtheile auf seinen Kindern ruhe, daß kein Alter und kein Verhältniß sie davor schütze, nöthigte sie zum Schweigen und scheuchte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie sich einsam ihrer Empörung und ihrem Schmerze überließ. Sie konnte sich es nicht verhehlen, sie liebte Walter; nicht mit der stürmischen Glut der Leidenschaft, die sie für Reinhard einst gefühlt, sondern mit jener ruhigen Zuversicht, die an der Brust des Geliebten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoffnung, aber eine sichere Zuflucht in allen Stürmen des Lebens erwartet. Sie wußte, wie theuer sie ihm sei, sie konnte sich in den lieblichsten Farben eine Zukunft an seiner Seite denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu wissen, bereits an diese Zukunft geknüpft. Das fühlte sie an dem Schmerz, den der Gedanke, sich von Walter trennen zu müssen, in ihr hervorrief. Aber diese Trennung stand jetzt als Nothwendigkeit vor ihr. Die Aeußerungen Steinheim’s am Morgen und die Unterhaltung, deren Zuhörerin sie am Abend gewesen war, hatten ihr gezeigt, was sie ohnehin fühlte, daß sie Walter, indem sie seine Hand annehme, in den Kampf verwickle, den sie als Jüdin gegen die Meinung der Menge zu bestehen hatte.
Ich war stark genug, sagte sie, noch ein halbes Kind, meiner Liebe zu entsagen, um Frieden mit mir selbst zu haben, und sollte nicht Kraft besitzen, für Walter ein Gleiches zu thun, für ihn, der mir ein so großes Opfer bringen will? Nein! Den Leidenskelch, der mir vom Schicksal bestimmt ist, will ich allein leeren. Ich will Walter wiedersehen, ich will ihm morgen sagen, daß ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigstens den Trost erhalten, sein Leben nicht verbittert zu haben.
Man hatte verabredet, am nächsten Tage die Fahrt nach Gernsbach zu machen, um mit dem Vater der jungen Frau, deren Beschützerin Jenny geworden war, Rücksprache zu nehmen, und man wollte in zwei leichten Kaleschen fahren, da die Ungleichheit des Weges einem großen Wagen manche Schwierigkeiten bot. Noch am Abend hatte Jenny’s Vater Frau von Meining aufgefordert, einen Platz in seiner Kalesche anzunehmen, und Jenny wußte also, daß sie mit Walter fahren würde. Diese Gelegenheit wollte sie benutzen, sich gegen ihn zu rechtfertigen, und ihm begreiflich zu machen, daß sie scheiden müßten. Auch Walter hatte seine Hoffnungen auf diese Fahrt gesetzt und war unangenehm überrascht, als am Morgen, nachdem die Wagen vorgefahren waren, der kleine Richard Jenny beschwor, ihn mit sich zu nehmen. Anfangs schlug Jenny es ihm ab, aber der kleine Schmeichler schlang seine Arme um ihren Hals und rief weinend: Jenny! Du hast mir’s ja gestern versprochen und hast Mama versprochen, daß Du mich immer mitnimmst, und Du sagst, man muß Wort halten. Ich bitte Dich, Tante! nimm mich mit, ich werde ganz artig, ganz artig sein.
Wollte sie die Absicht, mit Walter allein zu sein, nicht verrathen, so war es nicht möglich, dem Knaben die Bitte abzuschlagen, da sie ihm dieselbe wirklich am vorigen Tage zu erfüllen versprochen hatte. Ebenso wenig konnte sie daran denken, ihn in den Wagen ihres Vaters zu weisen, dem die Unruhe des lebhaften Kindes bei solchen Fahrten lästig war. Sie mußte sich also, wenn auch nicht gern, dazu entschließen, Richard in Walter’s leichtem Wagen mit sich zu nehmen, der, mit des Grafen muthigen Pferden bespannt, schnell einen so bedeutenden Vorsprung gewann, daß sie den Wagen ihres Vaters bald nicht mehr erblickten.
Der Morgen war prächtig, die schnelle Fahrt durch die wunderschöne Gegend erheiterte Jenny’s Seele. Zu jener Unterredung, zu der sie sich die Nacht hindurch mit Kraft und Muth gewaffnet hatte, ließ die Anwesenheit des Knaben es nicht kommen, der bald Deutsch, bald Englisch sein Entzücken aussprach, nach dem Namen jedes Dorfes fragte, an dem man vorüber fuhr und im Wagen aufspringend mit seiner Schmetterlingsscheere nach den Schmetterlingen haschte, welche fröhlich gaukelnd durch die Lüfte flogen. Sagte man ihm, sich ruhig zu halten, so fiel er Jenny um den Hals, fragte, ob er denn nicht artig sei, versprach, sich gleich besser zu betragen, und wareinen Augenblick darauf zu der ausgelassensten Fröhlichkeit und Unruhe zurückgekehrt.
Wie dies fröhliche Kind mit der heitern Natur zusammenpaßt, die uns umgibt, sagte Walter, der mit Vergnügen den schönen kräftigen Knaben betrachtete. Wir sind fraglos Alle erschaffen, um so glücklich zu sein; und wird einst jenseits eine Rechenschaft von uns gefordert, so wird uns sicher jede Stunde, die wir durch unsere Schuld an Glück verloren, als eine Sünde ausgelegt werden.
Es kommt darauf an, erwiderte Jenny, was Sie unsere Schuld nennen, und ob ...
Jenny! wie heißt der Fluß? fragte der Knabe, sie unterbrechend, als man eben jetzt eine freie Stelle erreicht hatte und die Murg sichtbar ward, an deren hohem Felsenufer der Weg nach Gernsbach hinführt. Je näher man diesem Städtchen kommt, je steiler werden die Abhänge des Weges. Die ganze Gegend hat einen ernstern Anstrich, man kommt in die Höhen des Schwarzwaldes, die tiefer ins Land hinein bei Vorbach, wo jene bekannten Holzschwellungen statthaben, einen fast schauerlichen Charakter gewinnen.
Jetzt fuhr man an dem linken Ufer der Murg dahin und Jenny konnte sich eines leichten Schwindels nicht erwehren, wenn sie von der Höhe, auf der die Straße gebahnt ist, hinab sah in das dunkle Wasser des Bergstromes, das hart an dem Fuße der steilen Felswand hinfließt. Das ununterbrochene Steigen und Fallen des Weges brachte natürlich auch eine große Abwechslung in der Schnelle des Fahrens hervor, da die Pferde bald langsam eine Höhe hinaufstiegen, bald sie in Eile hinunterliefen, woran Richard eine unsägliche Freude zu finden schien. Endlich hatte man den höchsten Punkt der Straße erreicht, von wo sie sich zu einer Tiefe senkt, welche die Anlegung von Hemmschuhen, auch für das leichteste Fuhrwerk und selbst bei den stärksten Pferden nöthig macht. Der Kutscher stieg ab, um diese Vorkehrung zu treffen und Richard erbat sich die Erlaubniß, zwischen Jenny und Walter auf den Sitz zu steigen, um zuzusehen, wie jener die Ketten losmachte, die Räder in die Hemmschuhe hob und dann zu den Pferden zurückkehrend, dem Diener die Zügel abnahm und vorwärts fuhr.
Laß mich da stehen bleiben, Jenny! sagte der Knabe, und zusehen, wie faul die Räder nun sind! Ach! rief er dann, indem er sich mit der Schmetterlingsscheere in der Hand hinüberbog, als ob er sie antreiben wollte: Ich werde euch laufen lehren!
In dem Augenblick hörte man ein leises Klirren und Richard rief fröhlich: Hei, wie die Dinger nun fortfliegen! Die Kette des einen Hemmschuhes war gerissen, das andere Rad war durch die plötzliche Bewegung des Wagens aus dem Gleise gesprungen und mit fürchterlicher Schnelle flog die Briczka der Tiefe zu, ohne daß die Anstrengungen des Kutschers etwas gegen die Schnelligkeit vermochten, mit welcher der Wagen auf die Pferde eindrang, was sie natürlich zu verdoppeltem Laufe antrieb. Ein Sturz der Pferde, ein Fehltritt nur, und der Wagen, aus der Richtung gekommen, lag zerschmettert am Fuße der Felsen in den Wellen der Murg! Niemand, außer dem jubelnden Knaben, konnte sich es verbergen, wie drohend die Gefahr sei.
Das Kind, das Kind! schrie Jenny, als sie das Unheil bemerkte, und zog mit Walter’s Beistand den Knaben zu sich herunter, den sie in Todesangst an sich preßte.
Walter sah unverwandt auf die Pferde hin. Er hatte seinen Arm wie schützend um Jenny gelegt und sagte: Keinen Laut! keinen Schrei! ich beschwöre Sie! Dann zum Kutscher gewandt: Halte die Zügel kurz, sieh nicht zur Seite! halte die Pferde fest, halte sie fest! und wir sind gerettet! Aber so ruhig er sich zu scheinen zwang, seine Stimme bebte, sein Gesicht war todtenblaß, als endlich der Wagen in der Tiefe still stand, als der erschöpfte Kutscher die Zügel hängen und die Pferde stehen und sich verschnaufen ließ.
Walter’s erster Gedanke, sein erster Blick galt Jenny. Sie war leblos, aus einer kleinen Stirnwunde blutend, zurückgesunken und ihre Arme hatten den Knaben losgelassen, der sie jetzt weinend umfaßt hielt. Bei der Hast, mit der sie das Kind an sich gedrückt, hatte der eiserne Griff der Schmetterlingsscheere Jenny’s Stirne mit so heftigem Schlage getroffen, daß er die Haut zerriß, ohne daß Jenny in der entsetzlichen Aufregung des Momentes die Verwundung oder das herabtröpfelnde Blut bemerkte. Nur des einen Gedankens, das Kind zu retten, das man ihr anvertraut hatte, war sie sich bewußt gewesen, und als mit dem Stillestehen der Pferde die furchtbare Angst von ihr gewichen, war sie, von einer in Seelenleiden durchwachten Nacht schon ohnehin angegriffen, ohnmächtig zusammengebrochen. An eine augenblickliche Hülfe war hier nicht zu denken; kein Haus in der Nähe, und wie weit der zurückgebliebene Wagen noch entfernt sei, ließ sich nicht berechnen. Mit zitternder Hand legte Walter ein Tuch um Jenny’s Stirne, nahm die ganz Bewußtlose in seine Arme und befahl dem Kutscher, so schnell als möglich vorwärts zu fahren, um Gernsbach zu erreichen, damit man das Nöthige für Jenny herbeischaffen könnte.
Wie hatte er gewünscht, die Geliebte in seine Arme zu schließen, sie an seiner Brust zu halten! Jetzt war sein Sehnen erfüllt und doch wie anders als er es gehofft! Mit unaussprechlicher Liebe hingen seine Augen an Jenny’s bleichen Zügen, er versuchte durch Reiben ihre Hände zu erwärmen, und wer schildert sein Entzücken, als ein leiser Schimmer von Röthe, ein schwacher Athemzug die Wiederkehr des Lebens anzeigten, als Jenny endlich langsam die großen dunkeln Augen aufschlug, den Knaben mit sanftem Lächeln anblickte und dann still weinend wieder an des Grafen Brust sank. Seiner selbst nicht mächtig, drückte er sie an sein Herz und erwärmte mit seinen Küssen ihre kalten Lippen.
Warum weinst Du noch? Warum küßt Dich Graf Walter? fragte der Knabe, ungeduldig das ihm peinliche Schweigen brechend.
Weil Jenny meine Braut ist, weil wir uns freuen, daß wir dem Tode entgangen sind, antwortete ihm Walter, strahlend vor Liebe und Wonne, weil nun ein schönes, glückliches Leben vor uns liegt! Komm, Richard, komm! Du mußt unsere Freude theilen, denn auch über Dir, geliebtes Kind! hat die Hand des Todes geschwebt; komm, küsse auch Deine Jenny, küsse meine Braut!
Und Jenny? Bei des Knaben erster Frage hatte sie sich von Walter’s Brust emporgerichtet, beschämt über das Geständniß, welches sie demselben in ihrer Schwäche gemacht, als sie Ruhe suchend, sich an ihn, wie an ihren anerkannten Beschützer lehnte. Jetzt stieg der Gedanke an die Trennung von dem Grafen wie ein düsterer Schatten vor ihrem Geiste auf, sie wendete sich ab von dem Geliebten und barg mit einem tiefen Seufzer das Gesicht in ihren Händen. Aber Walter’s Stimme, die Freude und Liebe, die aus seinen Worten klang, machten ihr innerstes Herz erbeben, und als er zärtlich sagte: Du wendest Dich fort von mir? vermochte sie nicht zu widerstehen, reichte ihm beide Hände hin und sagte: Ich habe es gewollt, ich wollte Dich meiden, weil mir Dein Glück theurer ist als meines! Gott will es anders – wir leben noch! so will ich denn auch für Dich leben für und für!
Jenny’s Hand in der seinen, Richard auf seinen Knien haltend, so langte Walter vor dem Gasthause in Gernsbach an, wo man ihn schon kannte, da er früher mehrmals auf seinen Streifereien hier eingesprochen war. Er und der Diener halfen Jenny aus dem Wagen, der Graf verlangte nach einem Arzt für sie, aber sie versicherte, daß sie weder eines Arztes, noch irgend eines Beistandes bedürfe. Nur der Kopf ist mir ein wenig schwer, sagte sie, während sie die Binde von der Stirne nahm, mir ist, als hätte ich zu tief und zu lange geschlafen – und wirklich weiß ich kaum, ob ich erwacht bin, oder ob ein schöner Traum mich noch umfängt.
Frau Gräfin sollten doch den Doctor kommen lassen! sagte die geschäftige Wirthin und rief damit eine flüchtige Röthe und ein freundliches Lächeln auf Jenny’s Wangen hervor, das Walter unendlich glücklich machte. Arm in Arm harrten sie der Ankunft ihres Vaters, der mit Ueberraschung sie in dieser Stellung sah, und, als er den Vorgang erfahren, als Walter ihn an sein Versprechen erinnert und dessen Erfüllung verlangt hatte, tief bewegt sein Kind segnete, das in so großer Gefahr ihm erhalten war und nun einer glücklichen Zukunft entgegenging.
Herr Meier und Frau von Meining allein genossen der Reize, welche Gernsbach und das schöne Schloß Eberstein schmücken. Walter und Jenny sahen nur sich, und während jene sich der köstlichen Aussicht erfreuten, die man aus den Fenstern jenes Schlosses über das ganze Thal genießt, saß das Brautpaar am Fuße des Berges in dem Schatten einer Laube und Jenny erzählte dem Geliebten, wie sie noch gestern ihn habe beschwören wollen, sie zu verlassen, und wie schwer ihr der Entschluß geworden, weil sie ihn so lieb, so herzlich lieb habe. Alle ihre Besorgnisse sprach sie ihm offen und frei aus, selbst jenes Gespräch der Stiftsdame theilte sie ihm mit, das sie so tief verletzt hatte, und fragte: Wird es Dich nie schmerzen, wenn Du Aehnliches hören müßtest?
Niemals! sagte Walter entschieden. Glaube mir! Habe ich es je als ein Glück empfunden, auf den Höhen des Lebens geboren zu sein, so war es, weil von dieser Höhe aus, mir jene Vorurtheile, die den Sinn der Menge verwirren, stets so gar klein und thöricht erschienen sind, weil dieser Standpunkt unser Thun und Handeln sichtbar und zur Richtschnur für viele Andere macht. Ich bin stolz darauf, Dich, Du Geliebte, mit der Grafenkrone zu schmücken, zu zeigen, daß mir Dein Besitz mehr gilt als alle Würden der Welt; und kein Tadel kann mich verletzen, da ich weiß, daß nie ein herrlicheres Weib unsern alten Namen getragen hat als Du!
Und Dein Onkel? Deine Angehörigen? Werden sie mich willkommen heißen, werden Sie gleich Dir denken? wandte Jenny ein.
Im Gegentheil! rief Jenny. Wenn er es fühlt, daß er ein freier Mensch ist vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual empfindet, unterdrückt, verachtet zu sein, so muß ihn das nur stolzer gegen seinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan fürchten? – Ketten und Gefängniß? Darüber erhebt ihn sein Selbstgefühl; – den Tod? Er hat sein Weib und seine Söhne sterben sehen und Gott getraut, erkann den Tod für sich nicht fürchten. Feigheit ist nur die Schwäche kleiner Seelen; wer sich wie Nathan frei empfindet, fürchtet Niemand und fühlt sich, selbst als verachteter Jude, den Besten gleich!
Sei es, daß Jenny durch Steinheim’s frühere Behauptung über die nothwendige Gleichheit in der Ehe verstimmt worden war, oder daß der Ausdruck „verachteter Jude“, den er jetzt gebraucht, ihr in Walter’s Anwesenheit unangenehm gewesen, genug, sie fühlte einen Unmuth in sich, der ihr fast Thränen erpreßte. Mit ungewohnter Heftigkeit hatte sie die letzten Worte gesprochen und stand dann schnell auf, um ihrem Vater entgegen zu gehen. Sie fiel ihm um den Hals und küßte seine Hände: Du weiser Mann, Du armer verachteter Jude! sagte sie so leise, daß selbst ihr Vater die Worte nicht vernahm, der sich begrüßend zu Steinheim wandte, heiter nach Nachrichten aus der Heimath fragte und Alle in die Unterhaltung verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nachdenken versunken. Walter bemerkte es und versuchte vergebens, in ihrer Seele zu lesen, als ein leichter Windstoß durch die Luft fuhr und Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten blickte. Er schlug den Kragen seines Ueberziehers in die Höhe und rief: „Wie ras’t die Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!“ Weißt Du, Hannchen! ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge, und wenn wir dies Baden-Baden nicht bald verlassen, stehe ich für Nichts. Indeß, wenn es Dir hier gefällt ....
Um Gottes willen, nein! sagte die kleine Frau ängstlich, und dann zu den Damen gewandt: Es ist ganz prächtig in Baden und ich hatte gehofft, hier das Badeleben kennen zu lernen, von dem man mir immer erzählt; aber mein Mann hat so erstaunlich reizbare Nerven und meinte gleich, die Luft in diesem engen Thale würde ihm nicht zusagen. Darum wollte ich nur, wir wären schon heraus und in Ems, wo mein lieber Steinheim eine Cur zu brauchen denkt.
Während dieser Rede war Steinheim aufgebrochen, hatte sich fest in seinen Rock geknöpft, seine kleine Frau an den Arm genommen und empfahl sich, Goethe’s Worte parodirend, also: „„Wir aber, die wir hier nur Fremde sind und hier nur wenig Augenblicke weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück, wenn wir Euch in der Vaterstadt begrüßen. Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen, welch einen Vorzug uns dies Loos gewährt.“„
Bald war das ungleiche Paar den Blicken entschwunden. Der Diener mit dem zusammengerollten Teppich folgte ihm in gemessener Entfernung auf dem Fuße nach.
Eine größere Gesellschaft hatte sich am Abend bei Frau von Meining versammelt. Es war das erste Mal, seit sie in Baden lebte, und sie hatte es Herrn Meier und Jenny zur Pflicht gemacht, von der Partie zu sein, da sie dieselben mit einigen Personen bekannt zu machen wünschte, die ihnen fremd waren. Die Gesellschaft war ziemlich belebt, man hatte geplaudert, musicirt und die Geheimräthin forderte Jenny auf, nun auch etwas zu singen. Bereitwillig ging diese aus dem Salon in das Wohnzimmer, in der Hoffnung, unter den dort befindlichen Noten mehrstimmige Sachen zu finden, weil sie glaubte, daß dergleichen unterhaltender sein würde. Die Etagère, auf der die Noten lagen, stand hinter einer Thür, deren geöffnete Flügel Jenny verbargen, so daß sie von einigen Personen, die in der Thür standen, nicht gesehen werden konnte, obgleich kein Wort, das jene sprachen, für Jenny verloren ging.
Was wird man jetzt singen? fragte eine alte Dame, deren Brust ein Stiftskreuz zierte, einen jungen Attachè der österreichischen Gesandtschaft beim Bundestage.
Ich glaube, das Fräulein Meier proponirte mehrstimmige Piecen! antwortete der junge Mann.
Sagen Sie mir, lieber Baron! die Meier’s scheinen ja Juden zu sein, wie kommt Frau von Meining und namentlich Graf Walter zu den Leuten? Man sagt, er soll der unablässige Begleiter dieser Familie sein und man hält ihn für extravagant genug, die Vermuthungen, von denen ich eben in dieser Rücksicht hörte, wahr zu machen, sagte die Stiftsdame.
Wie können Sie nur so etwas wiederholen, meine Gnädigste! Graf Walter gefällt sich allerdings darin, der Rotüre gegenüber den Liberalen zu spielen, indeß von der Thorheit, die Sie ihm zutrauen, eine Jüdin zu heirathen, ist er sicher fern. Die Meier ist hübsch und pikant. Die Galanterie eines Grafen wird ihrer Eitelkeit schmeicheln und Sie wissen, die Freiheit des so genannten Badelebens entschuldigt Manches! schloß lachend der Baron.
Athemlos und wie gelähmt stand Jenny da, den Kopf gegen eine Säule der Etagère gelehnt, als Frau von Meining zu ihr trat, der ihr langes Ausbleiben aufgefallen war. Erschreckt fuhr sie empor, faßte sich aber gleich und sagte anscheinend ruhig: Ich finde die Noten nicht und möchte überhaupt nicht singen, wenn Du mich davon freisprechen wolltest. Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören. Mit den freundlichsten Bitten nöthigte sie Jenny, an dem Flügel Platz zu nehmen und wenigstens irgend ein Lied zu singen, um damit der Gesellschaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick schien Jenny nachzudenken, sie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen sein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, sie griff mit sicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron’s „Mädchen von Juda“ zu singen, das von Kücken so meisterhaft komponirt ist. Ihre starke, metallreiche Stimme schien von dem Zorn in ihrer Brust einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefste Trauer klang aus ihren Tönen und als sie die zweite Strophe mit den Worten endete: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott sein?“ wagte Niemand zu athmen und Alle standen wie festgebannt und beherrscht durch die Gewalt des Zornes, der in diesen Tönen zu Gott rief und von ihm Rache erflehte. Dann ging der Gesang wieder zu wehmüthiger Klage über, Jenny’s Stimme wurde weicher, bis sie nochmals mächtig erklang in den Worten: „in Knechtschaft des Feindes der Jude verlacht“, und endlich matt in dem Wunsche erstarb: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! könnt ich nur im Tode vereinet dir sein.“
Die Röthe der Begeisterung, die während des Singens Jenny’s Wangen gefärbt hatte, war gegen das Ende des Liedes gewichen. Ruhig, aber angegriffen, stand sie vom Instrumente auf. Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu hören, in Vieler Augen standen Thränen; Andre sahen sich befremdet an. Sie schienen dunkel zu ahnen, daß ihnen hier, wo sie flüchtige Unterhaltung zu finden gehofft, eine Wahrheit entgegengetreten war, vor der sie erschraken, wie vor einem Gespenste, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbst Walter und Frau von Meining waren überrascht. So hatte der Graf Jenny niemals singen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte sie beschwören mögen, ihm die Ursache des Schmerzes zu vertrauen, der sie eben jetzt erschüttert hatte. Er wollte und mußte sie sprechen, aber sie vermied seine Annäherung und verließ bald, nachdem sie gesungen hatte, die Gesellschaft.
Walter begleitete sie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unterredung gestatten, an der sein Glück und seine Hoffnung hänge.
Ihr Glück, Herr Graf, antwortete Jenny, liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuschen sich, wenn Sie es in meiner Nähe suchen! Glauben Sie mir das, und dringen Sie nicht in mich! Sie reichte ihm bewegt die Hand zum Abschied und ging am Arme ihres Vaters davon.
Jenny’s Gesang und ihre ganze Erscheinung waren, während dies in einem der Nebenzimmer geschah, im Saale der Gegenstand der Unterhaltung geworden. Einige priesen ihre Schönheit und Anmuth, andere fanden ihr Auftreten abstoßend und stolz, zu ernsthaft und selbstbewußt für ein Frauenzimmer; und ebenso große Meinungsverschiedenheit herrschte über ihren Gesang.
Die Stimme ist vortrefflich, bemerkte die Stiftsdame, aber es zeigt immer von wenig Erziehung, sich und seine Gefühle so preiszugeben. Ich will gestehen, es mag unangenehm genug sein, dem jüdischen Volke anzugehören, indeß ist es doch nicht unsere Schuld, daß Fräulein Meier eine Jüdin ist und sich dessen schämt, und ich begreife nicht, mit welchem Rechte sie sich in der Gesellschaft in einer Weise gehen läßt, die für meine Nerven zum Beispiel viel zu stark ist. Ich versichere Sie, sie hat mich völlig krank gemacht!
Viele stimmten ihr bei, schwiegen aber, als Frau von Meining sich dem Kreise näherte, in welchem bald eine leichtere Unterhaltung den Eindruck verwischte, den Jenny’s Lied auf die Gesellschaft hervorgebracht. Nur Frau von Meining dachte mit ängstlicher Besorgniß an sie, und ihr entging es nicht, daß auch der Graf bald nach Jenny’s Entfernung das Haus verlassen hatte.
Der Abend war schwül und dunkel, als Walter aus den glänzend erleuchteten Zimmern der Geheimräthin in die nächtliche Dämmerung hinausschritt. Er hatte im Laufe des Tages die Antwort seines Onkels erhalten, der es ihm nicht verbarg, wie diese Verbindung mit Jenny entschieden gegen seine Ansichten und seine Wünsche sei. Was ich aber nicht hindern kann, schrieb er, mag ich auch nicht tadeln. Du bist unwiderruflich entschlossen und so wünsche ich von Herzen, daß Du in Deiner künftigen Gattin und in ihrer Liebe Ersatz finden mögest für die schweren, großen Opfer, die Du ihr bringen willst. Sobald Deine Verlobung erklärt ist und Du mit Deiner Braut in unsere Gegend kommst, denke ich Dich zu treffen, um das Mädchen kennen zu lernen, das Dir würdig scheint, den Namen einer Gräfin Walter zu tragen, eine Ehre, um die manche hochgeborne Jungfrau sie beneiden möchte. Fräulein Meier wagt viel, indem sie sich auf diese Höhe stellt, und Du wirst Muth und Energie brauchen, um sie dort zu halten. Aber das gerade reizt Dich! Nun, so geschehe, was geschehen soll, und wir wollen sehen, wie man der Angelegenheit die beste Wendung gibt.
Durch diesen Brief von dem Versprechen gegen Herrn Meier befreit, Jenny seine Liebe noch zu verschweigen, hatte er mit freudiger Bewegung den ganzen Tag eine Gelegenheit gesucht, sie allein zu sprechen. Steinheim’s Besuch, ihre darauf folgende Verstimmung hatten es ihm aber unmöglich gemacht, sich ihr zu nähern und ihn genöthigt, sie bei Frau von Meining um jene Unterredung zu bitten, die sie ihm verweigert hatte. Niemand konnte weniger persönliche Eitelkeit besitzen als Walter; indeß war er sich der Vorzüge bewußt, welche ihm seine Geburt und seine Verhältnisse vor vielen Männern gaben. Von Jugend auf hatte man ihm wiederholt, wie er jedes Mädchen durch seine Bewerbung ehre und überall waren die Frauen ihm in einer Weise entgegengekommen, die ihm eine Bestätigung für jene Behauptung geboten. Jetzt liebte er mit aller Hingebung seiner Seele. Jenny’s früheres Betragen hatte in ihm die Hoffnung erweckt, daß sie seine Gefühle theile; er war bereit, sie gegen die Vorurtheile der vornehmen Gesellschaft zu schützen, deren Ansicht er gegen sich hatte, und sie verweigerte sich ihm, obgleich sie seine Liebe kannte.
Voll quälender Ungewißheit kehrte er endlich nach seiner Wohnung zurück; in Jenny’s Zimmer brannte Licht und ein Schatten bewegte sich an den Vorhängen hin und her. Auch sie mußte noch wach sein. Das muß anders werden, sagte Walter zu sich selbst. Ich will, so theuer sie mir ist, weder um ihre Liebe betteln, wenn sie mich ihrer unwerth hält, noch ihren Frieden stören. Morgen ist sie mir verlobt, oder ich sehe sie nie wieder! Trotz des männlichen Entschlusses seufzte er, als er nochmals nach Jenny’s Fenstern blickte, und eine Thräne verdunkelte seinen Blick. War es der Gedanke, Jenny zu verlieren, oder das Gefühl gekränkten Stolzes, das sie erpreßte? Walter zerdrückte sie schnell, als schämte er sich derselben und ging in das Haus, um auf seinem Lager, das der Schlummer floh, der Geliebten und des kommenden Tages zu denken.
Auch Jenny konnte keine Ruhe finden. In der ersten Empörung ihrer Seele hatte sie, kaum heimgekehrt, sich ihrem Vater in die Arme werfen, ihm das Erlebte mittheilen und ihn beschwören wollen, am folgenden Tage Baden mit ihr zu verlassen. Aber der Gedanke, wie tief die Ueberzeugung ihren Vater schmerzen würde, daß immer wieder der Fluch der Vorurtheile auf seinen Kindern ruhe, daß kein Alter und kein Verhältniß sie davor schütze, nöthigte sie zum Schweigen und scheuchte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie sich einsam ihrer Empörung und ihrem Schmerze überließ. Sie konnte sich es nicht verhehlen, sie liebte Walter; nicht mit der stürmischen Glut der Leidenschaft, die sie für Reinhard einst gefühlt, sondern mit jener ruhigen Zuversicht, die an der Brust des Geliebten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoffnung, aber eine sichere Zuflucht in allen Stürmen des Lebens erwartet. Sie wußte, wie theuer sie ihm sei, sie konnte sich in den lieblichsten Farben eine Zukunft an seiner Seite denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu wissen, bereits an diese Zukunft geknüpft. Das fühlte sie an dem Schmerz, den der Gedanke, sich von Walter trennen zu müssen, in ihr hervorrief. Aber diese Trennung stand jetzt als Nothwendigkeit vor ihr. Die Aeußerungen Steinheim’s am Morgen und die Unterhaltung, deren Zuhörerin sie am Abend gewesen war, hatten ihr gezeigt, was sie ohnehin fühlte, daß sie Walter, indem sie seine Hand annehme, in den Kampf verwickle, den sie als Jüdin gegen die Meinung der Menge zu bestehen hatte.
Ich war stark genug, sagte sie, noch ein halbes Kind, meiner Liebe zu entsagen, um Frieden mit mir selbst zu haben, und sollte nicht Kraft besitzen, für Walter ein Gleiches zu thun, für ihn, der mir ein so großes Opfer bringen will? Nein! Den Leidenskelch, der mir vom Schicksal bestimmt ist, will ich allein leeren. Ich will Walter wiedersehen, ich will ihm morgen sagen, daß ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigstens den Trost erhalten, sein Leben nicht verbittert zu haben.
Man hatte verabredet, am nächsten Tage die Fahrt nach Gernsbach zu machen, um mit dem Vater der jungen Frau, deren Beschützerin Jenny geworden war, Rücksprache zu nehmen, und man wollte in zwei leichten Kaleschen fahren, da die Ungleichheit des Weges einem großen Wagen manche Schwierigkeiten bot. Noch am Abend hatte Jenny’s Vater Frau von Meining aufgefordert, einen Platz in seiner Kalesche anzunehmen, und Jenny wußte also, daß sie mit Walter fahren würde. Diese Gelegenheit wollte sie benutzen, sich gegen ihn zu rechtfertigen, und ihm begreiflich zu machen, daß sie scheiden müßten. Auch Walter hatte seine Hoffnungen auf diese Fahrt gesetzt und war unangenehm überrascht, als am Morgen, nachdem die Wagen vorgefahren waren, der kleine Richard Jenny beschwor, ihn mit sich zu nehmen. Anfangs schlug Jenny es ihm ab, aber der kleine Schmeichler schlang seine Arme um ihren Hals und rief weinend: Jenny! Du hast mir’s ja gestern versprochen und hast Mama versprochen, daß Du mich immer mitnimmst, und Du sagst, man muß Wort halten. Ich bitte Dich, Tante! nimm mich mit, ich werde ganz artig, ganz artig sein.
Wollte sie die Absicht, mit Walter allein zu sein, nicht verrathen, so war es nicht möglich, dem Knaben die Bitte abzuschlagen, da sie ihm dieselbe wirklich am vorigen Tage zu erfüllen versprochen hatte. Ebenso wenig konnte sie daran denken, ihn in den Wagen ihres Vaters zu weisen, dem die Unruhe des lebhaften Kindes bei solchen Fahrten lästig war. Sie mußte sich also, wenn auch nicht gern, dazu entschließen, Richard in Walter’s leichtem Wagen mit sich zu nehmen, der, mit des Grafen muthigen Pferden bespannt, schnell einen so bedeutenden Vorsprung gewann, daß sie den Wagen ihres Vaters bald nicht mehr erblickten.
Der Morgen war prächtig, die schnelle Fahrt durch die wunderschöne Gegend erheiterte Jenny’s Seele. Zu jener Unterredung, zu der sie sich die Nacht hindurch mit Kraft und Muth gewaffnet hatte, ließ die Anwesenheit des Knaben es nicht kommen, der bald Deutsch, bald Englisch sein Entzücken aussprach, nach dem Namen jedes Dorfes fragte, an dem man vorüber fuhr und im Wagen aufspringend mit seiner Schmetterlingsscheere nach den Schmetterlingen haschte, welche fröhlich gaukelnd durch die Lüfte flogen. Sagte man ihm, sich ruhig zu halten, so fiel er Jenny um den Hals, fragte, ob er denn nicht artig sei, versprach, sich gleich besser zu betragen, und wareinen Augenblick darauf zu der ausgelassensten Fröhlichkeit und Unruhe zurückgekehrt.
Wie dies fröhliche Kind mit der heitern Natur zusammenpaßt, die uns umgibt, sagte Walter, der mit Vergnügen den schönen kräftigen Knaben betrachtete. Wir sind fraglos Alle erschaffen, um so glücklich zu sein; und wird einst jenseits eine Rechenschaft von uns gefordert, so wird uns sicher jede Stunde, die wir durch unsere Schuld an Glück verloren, als eine Sünde ausgelegt werden.
Es kommt darauf an, erwiderte Jenny, was Sie unsere Schuld nennen, und ob ...
Jenny! wie heißt der Fluß? fragte der Knabe, sie unterbrechend, als man eben jetzt eine freie Stelle erreicht hatte und die Murg sichtbar ward, an deren hohem Felsenufer der Weg nach Gernsbach hinführt. Je näher man diesem Städtchen kommt, je steiler werden die Abhänge des Weges. Die ganze Gegend hat einen ernstern Anstrich, man kommt in die Höhen des Schwarzwaldes, die tiefer ins Land hinein bei Vorbach, wo jene bekannten Holzschwellungen statthaben, einen fast schauerlichen Charakter gewinnen.
Jetzt fuhr man an dem linken Ufer der Murg dahin und Jenny konnte sich eines leichten Schwindels nicht erwehren, wenn sie von der Höhe, auf der die Straße gebahnt ist, hinab sah in das dunkle Wasser des Bergstromes, das hart an dem Fuße der steilen Felswand hinfließt. Das ununterbrochene Steigen und Fallen des Weges brachte natürlich auch eine große Abwechslung in der Schnelle des Fahrens hervor, da die Pferde bald langsam eine Höhe hinaufstiegen, bald sie in Eile hinunterliefen, woran Richard eine unsägliche Freude zu finden schien. Endlich hatte man den höchsten Punkt der Straße erreicht, von wo sie sich zu einer Tiefe senkt, welche die Anlegung von Hemmschuhen, auch für das leichteste Fuhrwerk und selbst bei den stärksten Pferden nöthig macht. Der Kutscher stieg ab, um diese Vorkehrung zu treffen und Richard erbat sich die Erlaubniß, zwischen Jenny und Walter auf den Sitz zu steigen, um zuzusehen, wie jener die Ketten losmachte, die Räder in die Hemmschuhe hob und dann zu den Pferden zurückkehrend, dem Diener die Zügel abnahm und vorwärts fuhr.
Laß mich da stehen bleiben, Jenny! sagte der Knabe, und zusehen, wie faul die Räder nun sind! Ach! rief er dann, indem er sich mit der Schmetterlingsscheere in der Hand hinüberbog, als ob er sie antreiben wollte: Ich werde euch laufen lehren!
In dem Augenblick hörte man ein leises Klirren und Richard rief fröhlich: Hei, wie die Dinger nun fortfliegen! Die Kette des einen Hemmschuhes war gerissen, das andere Rad war durch die plötzliche Bewegung des Wagens aus dem Gleise gesprungen und mit fürchterlicher Schnelle flog die Briczka der Tiefe zu, ohne daß die Anstrengungen des Kutschers etwas gegen die Schnelligkeit vermochten, mit welcher der Wagen auf die Pferde eindrang, was sie natürlich zu verdoppeltem Laufe antrieb. Ein Sturz der Pferde, ein Fehltritt nur, und der Wagen, aus der Richtung gekommen, lag zerschmettert am Fuße der Felsen in den Wellen der Murg! Niemand, außer dem jubelnden Knaben, konnte sich es verbergen, wie drohend die Gefahr sei.
Das Kind, das Kind! schrie Jenny, als sie das Unheil bemerkte, und zog mit Walter’s Beistand den Knaben zu sich herunter, den sie in Todesangst an sich preßte.
Walter sah unverwandt auf die Pferde hin. Er hatte seinen Arm wie schützend um Jenny gelegt und sagte: Keinen Laut! keinen Schrei! ich beschwöre Sie! Dann zum Kutscher gewandt: Halte die Zügel kurz, sieh nicht zur Seite! halte die Pferde fest, halte sie fest! und wir sind gerettet! Aber so ruhig er sich zu scheinen zwang, seine Stimme bebte, sein Gesicht war todtenblaß, als endlich der Wagen in der Tiefe still stand, als der erschöpfte Kutscher die Zügel hängen und die Pferde stehen und sich verschnaufen ließ.
Walter’s erster Gedanke, sein erster Blick galt Jenny. Sie war leblos, aus einer kleinen Stirnwunde blutend, zurückgesunken und ihre Arme hatten den Knaben losgelassen, der sie jetzt weinend umfaßt hielt. Bei der Hast, mit der sie das Kind an sich gedrückt, hatte der eiserne Griff der Schmetterlingsscheere Jenny’s Stirne mit so heftigem Schlage getroffen, daß er die Haut zerriß, ohne daß Jenny in der entsetzlichen Aufregung des Momentes die Verwundung oder das herabtröpfelnde Blut bemerkte. Nur des einen Gedankens, das Kind zu retten, das man ihr anvertraut hatte, war sie sich bewußt gewesen, und als mit dem Stillestehen der Pferde die furchtbare Angst von ihr gewichen, war sie, von einer in Seelenleiden durchwachten Nacht schon ohnehin angegriffen, ohnmächtig zusammengebrochen. An eine augenblickliche Hülfe war hier nicht zu denken; kein Haus in der Nähe, und wie weit der zurückgebliebene Wagen noch entfernt sei, ließ sich nicht berechnen. Mit zitternder Hand legte Walter ein Tuch um Jenny’s Stirne, nahm die ganz Bewußtlose in seine Arme und befahl dem Kutscher, so schnell als möglich vorwärts zu fahren, um Gernsbach zu erreichen, damit man das Nöthige für Jenny herbeischaffen könnte.
Wie hatte er gewünscht, die Geliebte in seine Arme zu schließen, sie an seiner Brust zu halten! Jetzt war sein Sehnen erfüllt und doch wie anders als er es gehofft! Mit unaussprechlicher Liebe hingen seine Augen an Jenny’s bleichen Zügen, er versuchte durch Reiben ihre Hände zu erwärmen, und wer schildert sein Entzücken, als ein leiser Schimmer von Röthe, ein schwacher Athemzug die Wiederkehr des Lebens anzeigten, als Jenny endlich langsam die großen dunkeln Augen aufschlug, den Knaben mit sanftem Lächeln anblickte und dann still weinend wieder an des Grafen Brust sank. Seiner selbst nicht mächtig, drückte er sie an sein Herz und erwärmte mit seinen Küssen ihre kalten Lippen.
Warum weinst Du noch? Warum küßt Dich Graf Walter? fragte der Knabe, ungeduldig das ihm peinliche Schweigen brechend.
Weil Jenny meine Braut ist, weil wir uns freuen, daß wir dem Tode entgangen sind, antwortete ihm Walter, strahlend vor Liebe und Wonne, weil nun ein schönes, glückliches Leben vor uns liegt! Komm, Richard, komm! Du mußt unsere Freude theilen, denn auch über Dir, geliebtes Kind! hat die Hand des Todes geschwebt; komm, küsse auch Deine Jenny, küsse meine Braut!
Und Jenny? Bei des Knaben erster Frage hatte sie sich von Walter’s Brust emporgerichtet, beschämt über das Geständniß, welches sie demselben in ihrer Schwäche gemacht, als sie Ruhe suchend, sich an ihn, wie an ihren anerkannten Beschützer lehnte. Jetzt stieg der Gedanke an die Trennung von dem Grafen wie ein düsterer Schatten vor ihrem Geiste auf, sie wendete sich ab von dem Geliebten und barg mit einem tiefen Seufzer das Gesicht in ihren Händen. Aber Walter’s Stimme, die Freude und Liebe, die aus seinen Worten klang, machten ihr innerstes Herz erbeben, und als er zärtlich sagte: Du wendest Dich fort von mir? vermochte sie nicht zu widerstehen, reichte ihm beide Hände hin und sagte: Ich habe es gewollt, ich wollte Dich meiden, weil mir Dein Glück theurer ist als meines! Gott will es anders – wir leben noch! so will ich denn auch für Dich leben für und für!
Jenny’s Hand in der seinen, Richard auf seinen Knien haltend, so langte Walter vor dem Gasthause in Gernsbach an, wo man ihn schon kannte, da er früher mehrmals auf seinen Streifereien hier eingesprochen war. Er und der Diener halfen Jenny aus dem Wagen, der Graf verlangte nach einem Arzt für sie, aber sie versicherte, daß sie weder eines Arztes, noch irgend eines Beistandes bedürfe. Nur der Kopf ist mir ein wenig schwer, sagte sie, während sie die Binde von der Stirne nahm, mir ist, als hätte ich zu tief und zu lange geschlafen – und wirklich weiß ich kaum, ob ich erwacht bin, oder ob ein schöner Traum mich noch umfängt.
Frau Gräfin sollten doch den Doctor kommen lassen! sagte die geschäftige Wirthin und rief damit eine flüchtige Röthe und ein freundliches Lächeln auf Jenny’s Wangen hervor, das Walter unendlich glücklich machte. Arm in Arm harrten sie der Ankunft ihres Vaters, der mit Ueberraschung sie in dieser Stellung sah, und, als er den Vorgang erfahren, als Walter ihn an sein Versprechen erinnert und dessen Erfüllung verlangt hatte, tief bewegt sein Kind segnete, das in so großer Gefahr ihm erhalten war und nun einer glücklichen Zukunft entgegenging.
Herr Meier und Frau von Meining allein genossen der Reize, welche Gernsbach und das schöne Schloß Eberstein schmücken. Walter und Jenny sahen nur sich, und während jene sich der köstlichen Aussicht erfreuten, die man aus den Fenstern jenes Schlosses über das ganze Thal genießt, saß das Brautpaar am Fuße des Berges in dem Schatten einer Laube und Jenny erzählte dem Geliebten, wie sie noch gestern ihn habe beschwören wollen, sie zu verlassen, und wie schwer ihr der Entschluß geworden, weil sie ihn so lieb, so herzlich lieb habe. Alle ihre Besorgnisse sprach sie ihm offen und frei aus, selbst jenes Gespräch der Stiftsdame theilte sie ihm mit, das sie so tief verletzt hatte, und fragte: Wird es Dich nie schmerzen, wenn Du Aehnliches hören müßtest?
Niemals! sagte Walter entschieden. Glaube mir! Habe ich es je als ein Glück empfunden, auf den Höhen des Lebens geboren zu sein, so war es, weil von dieser Höhe aus, mir jene Vorurtheile, die den Sinn der Menge verwirren, stets so gar klein und thöricht erschienen sind, weil dieser Standpunkt unser Thun und Handeln sichtbar und zur Richtschnur für viele Andere macht. Ich bin stolz darauf, Dich, Du Geliebte, mit der Grafenkrone zu schmücken, zu zeigen, daß mir Dein Besitz mehr gilt als alle Würden der Welt; und kein Tadel kann mich verletzen, da ich weiß, daß nie ein herrlicheres Weib unsern alten Namen getragen hat als Du!
Und Dein Onkel? Deine Angehörigen? Werden sie mich willkommen heißen, werden Sie gleich Dir denken? wandte Jenny ein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny