Neunzehnter Abschnitt. - Doch nur zu oft vernichtet der Morgen die Hoffnungen des vorigen Tages. ...

Doch nur zu oft vernichtet der Morgen die Hoffnungen des vorigen Tages. Als Walter das Zimmer betrat, in dem man sich zu versammeln pflegte, sah er an den verstörten Zügen der beiden Damen, daß ihre Ruhe erschüttert, ein unangenehmes Ereigniß hereingebrochen sein müsse. Clara schien geweint zu haben und schüttelte traurig das Haupt, als Herr Meier tröstend sagte: Sie sollten froh sein, mein Kind, daß dies Verhältniß nun endlich zu einer Entscheidung gekommen ist. An den augenblicklichen Schmerz darf man nicht denken, wo eine lange und hoffentlich bessere Zukunft gewonnen werden soll.

Um nicht zu stören, verließ der Graf das Zimmer und ging zu William, den er schreibend fand. Von ihm erfuhr er, wie vor einer Stunde ein Brief Eduard’s an ihn angekommen sei, der diese allgemeine Aufregung verursacht hatte. Er schrieb ihm:


Mein Freund, mache Dich gefaßt, eine Mittheilung zu hören, die, obgleich erwünscht in ihren Folgen, doch für den Augenblick ihr Betrübendes hat. Ferdinand ist bei mir, aber er ist krank und sehr zu beklagen.

Vorgestern in der Nacht schellte man an meiner Thüre. Man öffnete und kam, mich zu wecken, weil ein Kranker nach mir begehre. Gleich darauf trat der Fremde bei mir ein und ich fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt sei? Ich selbst bin krank zum Sterben und ich wollte, ich wäre todt, antwortete der Unbekannte. Ich sah ihn prüfend an. Eine verfallene Gestalt, verfallene Züge und wenig, fast ergrautesHaar – obgleich der Mann so alt nicht schein, um diesen gänzlichen Verfall zu rechtfertigen. Sie kennen mich nicht mehr, oder wollen Sie mich nicht kennen? fragte er höhnisch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz der fast unglaublichen Veränderung in seinem Aeußern. Es war Ferdinand.

Ich nöthigte ihn, sich niederzusetzen. Ich fragte nach seiner Frau. Nennen Sie das Weib nicht! rief er und sein Gesicht zuckte krampfhaft. Mit dem Wenigen, das man mir als Almosen hinwarf, vermochte sie sich nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre Ansprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich war krank, ein Fieber nahm mir die Besinnung und diesen Zeitpunkt benutzte sie, mir Alles zu rauben, was ich noch besaß, und mich zu verlassen. Ich hatte ja nichts mehr zu verschenken, zu verschwenden! sagte er, und wieder flog das krankhafte Zittern durch seine Züge.

Ich sah, daß seine körperliche Erschöpfung aufs Höchste gestiegen war, und redete ihm zu, die Nacht bei mir zu bleiben, zu ruhen; wir könnten das Nöthige dann am Morgen überlegen. Er betrachtete mich mit einem Mißtrauen, das mich befremdete, da er mich doch aufgesucht hatte, und sagte: Wollen Sie erst von der Familie Horn Verhaltungsbefehle holen? Nun wußte ich, wie ihm beizukommen war. Es gelang mir, ihn zu beruhigen. Ich ließ eine Mahlzeit auftragen, denn er bedurfte dringend einer Erquickung. Mit gieriger Hast griff er nach den Speisen und brach dann, als er sich gesättigt hatte, in ein lautes Weinen aus. So komme ich in meine Heimath zurück! rief er und fing darauf an, mir zu erzählen, wie er seit gestern fast keine Nahrung zu sich genommen, den Postwagen nicht verlassen hätte, aus Scheu, hier in der Nähe seiner Vaterstadt Bekannten zu begegnen. Auch hatte ich kaum, wovon eine Mahlzeit zu bezahlen, sagte er. Sie hat mir Alles genommen, ehe sie mich verließ. Als ich zum Bewußtsein erwachte, war ich allein, ein Bettler. Seit Monden war unser Credit erschöpft, Niemand wollte uns mehr borgen. Ich erfuhr, daß sie einem Russen gefolgt war, der ihr lange nachgestellt hatte und ihr glänzendere Aussichten versprach, als sie bei mir erwarten konnte. Ein Ring, den ich nie abgelegt und den ich jetzt verkaufte, bot mir die Mittel, sie zu verfolgen – doch bald sah ich die Thorheit dieses Unternehmens ein. Ich mag sie nicht wiedersehen. Eine unbezwingliche Sehnsucht trieb mich hieher. Ich will hier sterben, wo ich geboren und jung gewesen bin.

Erschöpft fiel er in den Sopha zurück, und da ich absichtlich schwieg, schlief er bald ein, obgleich er heftig fieberte. Seitdem hat sich unverkennbar ein nervöses Fieber heraus gebildet und die Krankheit ist im Steigen. Er hat nur wenige klare Augenblicke, in seinen Phantasien aber spricht er mit dem tiefsten Haß von seiner Mutter, der er sein Unglück zuzuschreiben scheint. Wenn nicht besondere Zufälle dazwischen treten, hoffe ich auf seine Herstellung. Indessen halte ich es für rathsam, den Eltern die Anwesenheit Ferdinand’s zu verbergen, bis er körperlich und geistig im Stande ist, ein Wiedersehen mit ihnen zu ertragen. Jetzt, da die Trennung von seiner Frau erfolgt ist, wird es uns ein Leichtes sein, ihn allmälig seinen Eltern und seinen früheren bürgerlichen Verhältnissen wieder zu geben.

Beruhige Deine Frau deshalb und sage ihr, daß es ihm an der Pflege und Sorgfalt, die sein Zustand erfordert, nicht fehlen soll. Ich bürge dafür und hoffe, Dir bald tröstlichere Nachrichten geben zu können.

Mit der Entschlossenheit, die William’s ganzes Wesen charakterisirte, erklärte er gleich nach Lesung dieses Briefes sich bereit, nach Clara’s Vaterstadt zu reisen, um nicht Eduard allein die Sorge für den Unglücklichen aufzubürden, und unter strömenden Thränen beschwor ihn seine Frau, sie mit zu nehmen, es ihr zu vergönnen, daß sie selbst die Pflege des Bruders übernehmen und seine Rückkehr in das väterliche Haus einleiten könne. Auch dazu war William geneigt, nur die Unmöglichkeit, mit den Kindern eine so schleunige Reise zu machen, wie sie hier erforderlich war, schien ihren Wünschen ein Hinderniß in den Weg zu legen, bis Jenny mit ihres Vaters Zustimmung sich erbot, die Kinder unter ihre Obhut zu nehmen und mit sich nach Hause zu bringen. So ward es beschlossen, noch an demselben Nachmittage abzureisen, und in trauriger Stimmung sah Clara der Stunde entgegen, in der sie zum ersten Mal sich von den Lieblingen ihres Herzens trennen sollte, während William und Jenny ihr Muth zusprachen und das Nöthige besorgten.

Natürlich mußten Walter’s persönliche Wünsche vor diesen Ereignissen in den Hintergrund treten. Jenny schien des vorigen Abends vergessen zu haben. Sie war eifrig um Clara bemüht und gönnte sich nicht eher Ruhe, bis sie die Freundin wohlversorgt auf dem Wege in die Heimath wußte. Dann ließ sie die Kinder in ihre Zimmer bringen, richtete sie dort gehörig ein und traf endlich zur Theestunde mit dem Grafen und ihrem Vater zusammen.

Jetzt erst fühlte sie, wie sich seit gestern ihr Verhältniß zu Walter geändert hatte. Sie wußte nun, daß er sie liebte, und obgleich er ihr sehr werth war, war ihr seine Liebe nicht willkommen. Sie konnte den rechten Ton für die Unterhaltung nicht finden, wurde zerstreut, dann verdrießlich, daß sie sich so wenig zu beherrschen wisse, und entfernte sich unter dem Vorwande, Frau von Meining ihren Besuch zugesagt zu haben.

Walter, dem Jenny’s befangenes Wesen, ihre Zurückhaltung nicht entgangen war, glaubte sie durch sein leidenschaftliches Betragen verletzt und benutzte ihre Abwesenheit dazu, ihrem Vater seine Bitte um Jenny’s Hand auszusprechen, um sich dann auch gegen sie zu erklären und in seiner Liebe eine Entschuldigung für den Ungestüm zu finden, mit dem er sie gestern erschreckt hatte.

So oft der Vater auch in gleicher Lage gewesen war, so sehr überraschte ihn Walters Antrag. Er fragte, ob der Graf die Liebe seiner Tochter besitze?

Ich glaube mit Zuversicht, daß mir ihre Freundschaft und Achtung gewiß ist, ich hoffe, ihre Liebe zu erwerben, antwortete Walter.

Und ist Ihre Familie von dem Schritte unterrichtet, den Sie thun wollen, lieber Walter?

Nein, aber Sie wissen, daß ich unabhängig und Herr meiner Handlungen bin.

Indem Sie mir diese Erklärung geben, sagte Herr Meier, gestehen Sie mir zu, daß Sie die Meinung der Ihrigen gegen sich haben würden. Das fürchte ich selbst, und ich wünschte, ich könnte Ihre Werbung ungeschehen machen. Ich weiß nicht, ob Jenny Sie liebt, noch wenigstens ist sie, wie ich hoffe, frei genug, eine Trennung von Ihnen zu ertragen; darum folgen Sie meinem Rathe, Herr Graf, benutzen Sie William’s Abreise, uns gleichfalls zu verlassen, und geben Sie einen Wunsch auf, dessen Erfüllung Ihnen und uns leicht Kummer machen könnte.

So verweigern Sie mir Jenny’s Hand? fragte Walter erbleichend und setzte mit einem Ton, dem man den gekränkten Stolz anhörte, hinzu: Darauf war ich nicht vorbereitet.

Ruhig nahm der Vater des Grafen Hand und zog ihn zu dem Sitze nieder, von dem er aufgestanden war.

Verstehen Sie mich nicht falsch, sagte er. Ich glaube Ihnen durch mein Betragen gegen Sie, gezeigt zu haben, daß ich Sie achte, Sie für einen edlen Menschen halte. Sie selbst wissen, daß Ihre Stellung in der Welt den Ansprüchen des ehrgeizigsten Vaters genügen müßte. Aber die gräflich Walter’sche Familie könnte vielleicht die Tochter eines Juden nicht der Ehre würdig erachten, welche Sie ihr mit Ihrer Wahl erzeigen. Davor möchte ich mein Kind bewahren und Sie vor der schweren Pflicht, Ihre Frau gegen die Vorurtheile Ihrer Familie und Ihrer Standesgenossen zu schützen.

Und glauben Sie, daß mir dazu der Wille oder die Kraft fehlt? fragte Walter. Glauben Sie, daß Jenny’s persönlicher Werth nicht die Einwendungen besiegen würde, die mein Onkel gegen diese Verbindung machen könnte? Er ist der Einzige, dessen Meinung mir Etwas bedeutet, dessen Ansichten ich schonen möchte, und er wird den Schritt billigen, wenn er Jenny kennt und meine Liebe für sie. Ich war glücklich, seit ich denken kann, ich habe Alles, was das Leben schön macht, nur eine Gattin fehlt mir, mein Glück zu theilen. Da führt ein günstiges Geschick mir Jenny zu. Ich liebe sie, ich möchte Ihrer Hand mein höchstes Gut verdanken, und Sie verweigern es mir, weil Sie mich von Vorurtheilen nicht frei glauben, die man in unsrer Zeit kaum noch der Unbildung verzeiht.

Wollte Gott, es wäre so! sagte der Vater ernst, dann sollte mir kein Gatte willkommener für Jenny sein, als Sie; Keinem würde ich meine Tochter mit größerer Zuversicht vertrauen als Ihnen. Diese Erklärung muß Ihnen für meine volle Achtung bürgen. Bei den Worten reichte er dem Grafen seine Hand, der sie herzlich drückte. Was aber nun Ihren Antrag und Ihr Verhältniß zu Jenny betrifft, darin folgen Sie mir. Es gilt das Giück meiner Tochter und das Ihre. Trauen Sie mir, der ich die Welt und die Menschen länger kenne, als Sie. Ich betrachte Sie für frei von jeder Verpflichtung gegen uns. Uebereilen Sie nichts. Lassen Sie sich Zeit, die Ansicht Ihres Onkels zu hören, prüfen Sie selbst die Meinung des Kreises, dem Sie angehören, und wenn Sie dann Ihren Wunsch noch hegen, wenn Jenny damit einverstanden ist, will ich von Herzen einen Bund segnen, der in Bezug auf Sie schon jetzt meine vollkommenste Zustimmung hat. Sind Sie damit zufrieden? fragte er.

Muß ich nicht? antwortete der Graf, der sich nur ungern in den Gedanken fand, sein Ziel so weit hinausgeschoben zu sehen, obgleich er fühlte, daß der Vater seiner Denkart nach nicht anders handeln konnte, und ihn deshalb nur um so höher schätzte. Aber nur mit Widerstreben verstand er sich dazu, sich gegen Jenny nicht zu erklären, bis er seinen Onkel von seiner Absicht in Kenntniß gesetzt und dessen Antwort erhalten haben würde, und er verließ den Greis, um seinem Onkel schreiben zu gehen. Auch Herr Meier zog sich zurück, um Eduard seinerseits von dem Geschehenen zu benachrichtigen. Er machte ihn auf die glänzenden Verhältnisse, auf den trefflichen Charakter Walter’s aufmerksam und sagte: Dennoch widerstrebt meine innere Ueberzeugung dieser Verbindung fast eben so sehr, als einst der mit Reinhard, mit dem Unterschiede, daß jetzt meine Besorgniß den Verhältnissen gilt, während sie bei Reinhard den Charakter des Mannes betraf. Niemand ist so gleichgültig gegen das Urtheil der Menschen, daß Lob oder Tadel seiner Umgebung ihn kalt ließe, und es könnte für Jenny’s Glück eine harte Probe werden, wenn sie es erleben müßte, Walter’s Entschluß von seinen Standesgenossen getadelt und ihn dadurch verletzt zu sehen. Ihre erste Verlobung brachte sie in geistiger Beziehung in einen traurigen Conflikt, diese könnte sie in ein schwer zu überwindendes Mißverhältniß zu den äußern Umständen versetzen, und sie leicht ebenso unglücklich machen, als jene. Wie ich Jenny beurtheile, fühlt sie das selbst und hat Scheu vor Walter’s unverkennbarer Neigung, weil sie sich nicht den Muth zutraut, seiner Liebe und seiner Werbung zu widerstehen. Bei Walter’s persönlichen Eigenschaften und seiner Stellung in der Welt würde das vielleicht jedem Mädchen schwer, da keines von Eitelkeit frei und Walter ganz der Mann ist, Liebe und Zutrauen zu erwecken. Doch bin ich überzeugt, daß diese Heirath früher oder später zu Stande kommt, und theile Dir diese Nachricht mit als Etwas, das ich nicht gern sehe, aber nicht zu hindern vermag. Deinen Ansichten dürfte das Verhältniß willkommen sein. Gott gebe, daß meine Besorgniß mich trüge und Jenny so glücklich werde, als sie es verdient.

In seiner Ansicht von Jenny’s Scheu vor der Bewerbung Walter’s und ihrem Mißtrauen gegen sich selbst hatte ihr Vater sich wirklich nicht getäuscht. Jenny war zu sehr an Huldigungen gewöhnt und nicht mehr jung genug, um in jeder Annäherung eines Mannes Liebe zu erblicken. Gerade deshalb hatte sie sich in ihrem Verhältniß zu Walter, in seiner Gesellschaft um so behaglicher und freier gefühlt, als sie mit Sicherheit glaubte, hier keinen andern Ansprüchen zu begegnen, als denen, welche man einem geachteten Freunde willig zugesteht. Jetzt war ihr plötzlich die Ueberzeugung des Gegentheils geworden und mit ihr das Bewußtsein, daß sie durch Walter’s Liebe manchem neuen Kampfe ausgesetzt werden könnte: sei es, daß er ihre Hand verlange, oder aus Rücksicht auf seine weltliche Stellung darauf verzichte. Verstimmt gemacht durch diese Gedanken, langte sie, während Walter die Unterredung mit ihrem Vater hatte, bei Frau von Meining an, die in Jenny’s beweglichem Gesicht die Spuren einer innern Unruhe leicht bemerkte. Sie fragte um die Ursache derselben, obgleich Jenny anfangs die Thatsache leugnete, und erst nach freundlichem Bitten und Dringen von Seiten der Geheimräthin sagte Jene:

Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe eines Mannes zu besitzen, an die ich nie gedacht habe, und das ist mir unangenehm.

Die Geheimräthin sah sie verwundert an, lächelte dann und meinte: Das heißt, Du bemitleidest ihn, weil Du diese Liebe nicht erwiderst und er Dir nicht gefällt. Das kommt wohl vor im Leben und sollte Dir nicht so neu sein, Dich so sehr zu verstimmen.

Im Gegentheil, antwortete Jenny, er ist mir lieb und werth, und gerade darum thut es mir so wehe.

Jenny, sagte die Geheimräthin plötzlich ernsthaft geworden, ich will kein Vertrauen erzwingen, wenn Du nicht geneigt bist, es mir zu gewähren. Nur das Eine sage mir, mich zu beruhigen: Ist der Mann, der Dich liebt, verheirathet, oder sonst in einer Weise gebunden, die Deine Unruhe erregt? Nur die Eine Frage beantworte mir.

Nein, nein! rief Jenny, über den feierlichen Ernst ihrer Freundin lächelnd, Er ist frei und unumschränkter Herr seines Willens; ich zweifle nicht, daß er mir seine Hand anträgt, aber das ist es, was ich fürchte und was mein Vater ungern sehen wird.

So ist er arm und seine Stellung der Deinen all zu ungleich? fragte Frau von Meining.

Kennst Du meinen Vater und mich so wenig, entgegnete Jenny im Tone des Vorwurfs, zu glauben, daß dergleichen uns irren könnte? Nein, im Gegentheil, es ist Graf Walter, der mich liebt, und dessen Liebe ich befürchte.

Walter! rief die Geheimräthin erfreut und setzte dann hinzu: Du bist unwahr gegen Dich oder mich. Walter’s Liebe kann Dir nicht unwillkommen sein, denn gleichgültig ist er Dir nicht.

Das habe ich auch nicht behauptet, antwortete Jenny. Aber ich habe durch meine Verlobung mit Reinhard so viel gelitten, mich so an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere, neuen Stürmen ausgesetzt zusein. Ich habe in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder – denn auch Joseph ist mir ein Bruder – in der Kunst mir eine Welt geschaffen, in der ich Freude finde und sie den Andern bereite. Nenne es Feigheit oder Selbstsucht, wie Du willst, ich mag aus diesem sichern Hafen mich nicht aufs Neue in das Meer des Lebens wagen. Ich will nicht heirathen.

Und wenn Dein Vater stirbt?

Dann leben mir die Brüder ...,

Die wahrscheinlich Deinen Entschluß nicht theilen, fiel ihr die Geheimräthin ins Wort, die sich verheirathen würden, wenn Du Dich Ihnen durch einen vernünftigen Entschluß entzögest und so ihr und Dein Bestes fördertest. Wie viel hundert Mal hast Du mir über die hohe Ansicht gesprochen, die Du von der Ehe hegst! Wie erhaben hast Du mir Walter’s Idee davon geschildert, als Du mir neulich von der Unterhaltung erzähltest, die Du über diesen Gegenstand mit ihm gehabt hast. Also Gleichnisse zeichnen kannst Du, aber im Leben sie durch Dich zu verwirklichen, stehst Du an!

Sie war ganz erhitzt durch den Eifer, mit dem sie gesprochen hatte, lehnte sich in ihren Sessel zurück und sagte lächelnd, da Jenny nachdenkend schwieg: Wie sich doch Alles im Leben wiederholt. Meine Tante würde eine Freude haben, könnte sie sehen, wie ich jetzt an Dir die Ermahnungen probire, die sie mir gemacht hat, ehe ich mich verheirathete. Ich denke aber, sie finden bei Dir ein so williges Ohr, als bei mir, und nehmen auch ein so glückliches Ende.

Das sagst Du, Clementine, rief Jenny, Du, die mir selbst erzählt, welchen Kampf Du noch nach Deiner Hochzeit zwischen Pflicht und Liebe bestanden hast.

Clementine strich mit der Hand über die hohe, zarte Stirn und sagte mit unbeschreiblicher Weichheit und Demuth: Ich halte Dich nicht für schwächer als mich. Was ich vermochte, mußt Du auch vermögen. Du sollst es auch kennen lernen, das Glück, seine Neigung dem Glücke eines Andern zu opfern, und darin ein neues, besseres Glück zu finden. Dann nach einer Pause fuhr sie fort: Uebrigens, was will ich denn? Von dem Opfer einer Neigung ist ja hier die Rede nicht! Du liebst keinen Andern; Du bist frei und Walter ist Dir werth. Was drückt und ängstigt Dich also?

Der Gedanke, man könne mir ehrgeizige Motive unterlegen, sagte Jenny lebhaft, wenn ich Walter’s Hand annehme; und – daß ich es Dir gestehe – die Möglichkeit, er könne es einst bereuen, eine Bürgerliche, eine Jüdin, geheirathet zu haben, wenn irgend ein Ereigniß ihn unangenehm daran erinnert. Ich mag nicht, wie Walter es in jenem Gleichniß nannte, die kümmerliche Pflanze sein, die sich zu einer Höhe emporrankt, für die sie nicht geboren ist. Liebte ich Walter, vielleicht wäre ich dann schwach genug, meine Vernunft zu verleugnen; jetzt nimmermehr! Mag Walter sich eine Gefährtin wählen, die ihm gleich ist an Vorzügen des Ranges und der Geburt, die mit ihm auf gleicher Höhe erwuchs. Ich will keinem Menschen Etwas verdanken, das er jemals bereuen könnte, mir gegeben zu haben.

Aus der Hand eines geachteten Gatten entehrt keine Gabe und er bereuet sie nicht, wenn er sie, wie Walter Dir, mit ruhiger Ueberzeugung darbringt, sagte Clementine, die es fühlte, daß hier der Punkt läge, von dem Jenny’s Weigerung gegen Walter’s Wünsche ausging. Auch sie kannte Walter und, erfreut durch den Gedanken, ihn und Jenny verbunden zu sehen, wünschte sie wo möglich dazu beizutragen. Darum vermied sie es für diesmal, Jenny auf dieser für sie empfindlichsten Seite anzugreifen und bemerkte ablenkend: Und das ist doch der einzige Grund, der Dich besorgt machen kann!

Nein! antwortete Jenny, auch in mir sind Gründe dagegen. Mir fehlt die Fähigkeit, mich in dem Leben eines Andern aufgehen zu lassen. Meine Existenz ist eine fest bestimmte, in sich abgeschlossene. Ich habe mich an eine gewisse Freiheit gewöhnt, die ich nicht mehr entbehren kann und die ich in der Ehe doch aufgeben müßte. Vor Allem aber, wie ich Reinhard liebte, kann ich nicht wieder lieben. Mir fehlt die Jugendlichkeit, die Frische des Herzens, das fühle ich tief. Ich kann so nie wieder lieben!

So liebe Walter anders! wandte Frau von Meining ein. Auch Du bist sicher nicht das erste Mädchen, das ihn die Liebe kennen lehrt. Er ist ein Mann, der in der Schule des Lebens und des Hofes seine Prüfungen bestand. Den ruhigen Mann reißt keine Leidenschaft blindlings hin; was er thut, hat er überlegt, was er verspricht, will und wird er halten. Und was die Frische des Herzens betrifft, so ist es mit der Liebe, wie mit dem Menschen überhaupt. Die Geschlechter gehen und kommen, jedes hat die Erfahrungen des vorigen für sich, sie gleichen sich fast alle und doch – hat jedes neue Geschlecht seine Thorheit und seine Weisheit, seine Jugend, seine Blüthe, nach seiner Individualität; eine Blüthe, die rein und schön ist, obgleich sie erst auf der Asche der geschiedenen Generation erwuchs. Darum Muth, mein Herz! Den falschen Stolz besiege und im Uebrigen vertraue der Liebesfähigkeit und der Liebebedürftigkeit des Frauenherzens.

Eine innige Umarmung beendete diese Unterhaltung, die in Frau von Meining den Entschluß hervorrief, sich so bald als es ihr möglich sein würde, der Gesellschaft anzuschließen, um Jenny und Walter schnell an ein Ziel zu bringen, das ihr für Beide so glückversprechend schien. Diese freudige Hoffnung that für die Anregung ihrer Nerven mehr, als irgend eine Arzenei vermochte, und schon am nächsten Tage nahm sie zum ersten Male Walter’s Besuch an, der fast täglich in ihrer Wohnung gewesen war, um sich nach ihrem Ergehen zu erkundigen.

Zwei Gefühle waren es besonders, die Jenny beunruhigten und sie bewogen, sich von Walter zu entfernen: Die Furcht, welche sie Frau von Meining gestand, vor einer Verbindung, die man gerade in den Kreisen eine Mißheirath nennen würde, in denen sie als Walter’s Frau zu leben bestimmt war, und, was sie nur sich selbst bekannte, Scham vor sich selbst, daß sie einer zweiten Neigung fähig sei, die sich entschieden zu Walter’s Gunsten in ihr geltend machte. Trotz ihres klaren Verstandes besaß Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Herzens und hatte mit Treue das Andenken des Geliebten ihrer Jugend in sich gepflegt, bis sich nach Reinhard’s Verheirathung der Gedanke in ihr ausgebildet, sie habe jetzt keinen Anspruch mehr an Liebesglück zu machen, ihr Leben sei in der Beziehung beendet.

So hatte sie sich seit Jahren mit der Idee: „entsagt zu haben“ wie mit einem Wittwenschleier geschmückt, den sie jetzt abzulegen sich nicht entschließen konnte. Sie fühlte ihre wachsende Neigung für den Grafen, aber sie kämpfte dagegen, wie gegen ein Unrecht, weil sie sich scheute, den Ihrigen zu sagen: Ich liebe wieder! und weil sie doch zu wahrhaft war, um eine Verbindung mit Walter, die sie trotz aller Bedenken wünschte, für eine bloße Verstandsheirath auszugeben, was außerdem kränkend für ihn gewesen wäre.

Nach Jahren innern Friedens mit sich selbst machte dieser Zwiespalt ihrer Seele ihr doppelte Unruhe und gab ihr einen Anstrich von Kälte, die Walter irre an ihr zu machen drohte; da ohnehin die Sorge für Clara’s ihr anvertraute Kinder ihr einen Grund gab, den Grafen weniger zu sehen, als es früher der Fall gewesen war. Dadurch trat eine Art von Spannung zwischen Walter und Jenny ein, von der Beide gleich viel zu leiden schienen, bis es Frau von Meining gelang, des Grafen Vertrauen zu gewinnen. Sie bat ihn Geduld zu haben, Jenny Zeit zu lassen, bis sie sich selbst klar geworden sei: Glauben Sie, lieber Graf! sagte sie, je deutlicher in uns Frauen das Bewußtsein von der Heiligkeit der Ehe wird, je langsamer entschließt man sich, den Schritt zu thun. Jenny steht jetzt bang und zögernd auf der Schwelle des Tempels, die sie vor zehn Jahren leichtherzig und sorglos überschritten haben würde. Lassen Sie sich dadurch nicht irren! Ich würde es für unrecht halten, Jemand zu einem Entschlusse hin zu drängen, zu dem er keine Neigung hat, oder dem seine Eigenthümlichkeit widerstrebt. Jenny wird aber nur durch ein von ihr mißverstandenes Gefühl gehindert, ihr Glück und das Glück eines Mannes zu gründen, den sie hoch und werth hält. Da muß man aus Freundschaft ein Uebriges thun und die Gute gelinde dazu zwingen, glücklich zu sein und zu beglücken.

Das ist ein hartes Wort! bemerkte Walter, und selbst Jenny’s Hand möchte ich weder der Ueberredung noch dem Zwang verdanken.

Aber Sie sind damit zufrieden, wenn Jenny sich und Ihnen gestehen lernt, daß ihre eigene Neigung sie zwingt, die Ihre zu werden? fragte Frau von Meining freundlich.

Wenn Sie Jenny davon überzeugen könnten, erwiderte Walter, wie würde ich es Ihnen danken!

Lassen Sie das, mein Freund! wandte die Geheimräthin ein. Ich bleibe Ihnen verpflichtet und mein Mann wird es Ihnen Dank wissen, daß Sie mich aus meiner Abspannung befreiten, indem Sie mir Gelegenheit gaben, an Ihnen und meiner Freundin ein gutes Werk zu üben. In wenig Tagen denke ich Jenny in ihrer Wohnung selbst aufzusuchen und rechne dann auf Ihre Begleitung.

Heute ist ein wahrer Glückstag, sagte Jenny zu Frau von Meining, als dieselbe an einem heitern Morgen in Walter’s Begleitung zum ersten Male Jenny besuchte und mit ihr unter dem Schatten der Bäume saß. Du scheinst den letzten Rest von Schwäche von Dir geworfen zu haben und auch meine arme Kranke ist heute so wohl, daß ich es wagen konnte, sie gehörig um ihre Verhältnisse zu fragen.

Und was haben Sie erfahren? fragte Walter, den die Frau interessirte, weil Jenny Theil an ihr nahm.

Eigentlich nicht viel mehr, als mein Vater schon durch die Behörde wußte. Es ist eine von den traurigen Geschichten, die sich leider täglich wiederholen. Sie ist die Tochter eines Handwerkers aus Gernsbach und kam gewöhnlich während des Sommers nach Baden, um in einem Hause auszuhelfen, in dem man Wohnungen vermiethet. Hier hat sie einen armen Jägerburschen kennen gelernt und ihn gegen den Willen ihres Vaters geheirathet, der sie einem wohlhabenden, aber sehr alten Bürger in Gernsbach bestimmt hatte. Ein unglücklicher Fall auf der Jagd, in Folge dessen das Gewehr losging, raubte ihrem Mann im Herbst das Leben, lange ehe ihr Kind geboren wurde. Im Winter gab es kein Verdienst für sie und in die bitterste Armuth versunken, aus Mangel erkrankt, ist sie nun schwach und elend nach Gernsbach gegangen, um dort das Mitleid ihres Vaters anzuflehen. Der aber hat sie und ihr Kind mit Verwünschungen von sich gestoßen, sie hat hierher zurückkommen und Arbeit suchen wollen, als sie auf dem Wege zusammenbrach, wo ich sie fand. Sie sagte mir, daß ihr Vater kein anderes Kind hätte, als sie, und wohl die Mittel, für sie zu sorgen. Aber er hätte gehofft, mit dem Gelde des reichen Schwiegersohnes sein Gewerbe zu vergrößern und selbst ein reicher Mann zu werden, und daß sie ihn um diese Hoffnung betrogen, werde er ihr nicht vergessen und verzeihen.

So muß man hier für sie sorgen! meinte Frau von Meining.

Sie selbst verlangt nichts mehr, als die Mittel, sich durch einige Pflege Kräfte zu erwerben, um wieder arbeiten zu können, sagte Jenny. Wie sie mir erzählt, hätte ihr Vater sie, ohne das Kind, wohl zu sich genommen, weil er hoffte, jener Bürger würde sie auch jetzt noch heirathen, wenn sie sich von ihrem Kinde trenne. Das aber will und soll sie natürlich nicht und so meint mein Vater, man müsse einen der nächsten Tage dazu benutzen, nach Gernsbach zu fahren und versuchen, ob man nicht durch ein Jahrgeld, das man an das Leben des Kindes knüpft, den Vater vermögen könne, Tochter und Enkel bei sich aufzunehmen, wo sie am Ende doch am besten untergebracht sein würden.

Walter stimmte dieser Ansicht bei und man verabredete eben einen Tag für diese Fahrt, als ein Mann von etwa vierzig Jahren mit einer jungen Frau am Arm sich dem Platze näherte, auf dem die Gesellschaft vor dem Hause saß. Ein Diener trug ihnen, trotz des schönen Wetters, einen Männerüberrock und einen kleinen Teppich nach.

Steinheim! rief Jenny, als sie ihn erkannte, und stand auf, ihn und seine Begleiterin zu begrüßen: Vielmals willkommen!

„Erneute Huldigung gestatte mir!“ sagte Steinheim, ihr mit steifer Galanterie die Hand küssend, und vergönnen Sie mir zugleich, Ihnen meine Frau vorzustellen und sie Ihrer Freundschaft zu empfehlen.

Madame Steinheim war ein sehr hübsches, siebzehnjähriges, höchst schüchternes Wesen, das zu ihrem Manne wie zu einer Gottheit emporsah und sich nicht der Ehre werth zu fühlen schien, ihm anzugehören. Steinheim war sehr stark geworden und pflegte sein Aeußeres und seine Gesundheit noch mit deralten übertriebenen Vorsicht. Die junge Frau, welche diese seine alte Schwäche noch nicht zu kennen schien, stand ihm darin mit ängstlicher Sorgfalt bei.

Nachdem Jenny die Angekommenen mit ihren Freunden bekannt gemacht hatte, fragte sie Steinheim, was ihn, den abgesagten Feind alles Reisens, zu dem Entschluß gebracht habe, sich dennoch auf den Weg zu machen und eine Häuslichkeit zu verlassen, die jetzt erst wahren Reiz für ihn haben müsse.

Ich bin mir selbst ein Räthsel! antwortete er, und mir scheint, daß mit dem Liebesfrühling, der so urplötzlich in meiner Brust erwachte, ein ganz neues, junges Leben für mich begonnen hat. „Ein unbegreiflich holdes Sehnen trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn.“ Ich wünschte meiner Frau zu zeigen, wie schön die Welt sei und konnte mich der Gefahr, die das Reisen für meine Gesundheit hat, jetzt leichter aussetzen, da Hannchen – er wies dabei auf seine Frau – mit dankenswerther Sorgfalt über mir wacht. Aber findest Du nicht, sagte er, sich unterbrechend, daß der Fußboden hier feucht ist, mein lieb’ Schätzchen?

Das liebe Schätzchen bejahte es, und nach einer leichten Entschuldigung gegen die Damen, ließ Steinheim den Teppich unter seine Füße breiten und zog den Ueberrock an, wobei der Diener und seine Frau ihm behülflich waren. Dann fragte er nach William und Clara, von deren Anwesenheit in Baden er durch Eduard gehört hatte, während ihre Abreise ihm fremd war, denn auch er war schon längere Zeit auf der Reise und vom Hause entfernt. Er erkundigte sich, wem die Kinder gehörten, die seitwärts unter Obhut der Wärterinnen sichtbar waren. Man rief Richard herbei, ließ Lucy bringen und auch das hübsche, nun sauber gehaltene Kind der armen Frau, wobei die Verhältnisse derselben nochmals flüchtig besprochen wurden.

Da sieht man, sagte Steinheim, wie tief das Gefühl für Standesunterschiede im Menschen begründet ist, das man einen leeren Wahn schilt. „Doch dieser Wahn ist uns ins Herz gelegt, wer mag sich gern davon befreien“, besonders, wenn es darauf ankommt, eine Ehe zu schließen, in der vollkommene Gleichheit der Verhältnisse die erste Bedingung zum Glücke ist?

Hätte Steinheim absichtlich eine Aeußerung machen wollen, die für alle Anwesende gleich verletzend wäre, er hätte keine bessere finden können. Seine Frau und Frau von Meining waren Beide wohl um zwanzig Jahre jünger, als ihre Männer, und welch unangenehmen Eindruck Jenny und Walter durch die Behauptung empfingen, bedarf keiner Erwähnung. Steinheim fühlte aber davon nichts, da er die Verhältnisse der einzelnen Personen nicht kannte und fuhr, immer nur mit sich beschäftigt, fort: Es hat eine Zeit gegeben, in der ich auch an ein Verschmelzen der Stände, wo möglich gar an eine gleichmäßige Vertheilung der Güter dachte und, von Eduard’s Ueberspanntheit angesteckt, nur von Reformen und von Weltverbesserungen träumte. „Der Traum war kindisch, aber göttlich schön“; ich gestehe es, obgleich ich mich freue, daraus erwacht zu sein.

Und was hat denn Ihre plötzliche Sinnesänderung bewirkt? fragte Walter.

Herr Graf! „die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gut’s in Ruhe schmausen mögen“, antwortete der Gefragte, sich selbst Beifall lächelnd. Dies Reformiren, Politisiren und dergleichen schickt sich nur für die Jugend, die Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen hat. Zudem trieb der ewige Aerger, in dem solch ein Parteikampf uns hält, mir die Galle in’s Blut, raubte mir den Schlaf und hätte mich zuletzt noch um Gesundheit und Leben gebracht, wenn mir nicht endlich die Erkenntniß gekommen wäre, daß es für mich Zeit sei, den Liberalismus Andern zu überlassen und fortan nur mir, der Literatur, die Ansprüche an mich hat, und meiner kleinen Frau zu leben, die mit meinem Entschlusse sehr zufrieden ist. Gestehen Sie, Herr Graf! das ist das Vernünftigste, was man thun kann. Sie, ein Edelmann aus altem Hause, werden es begreiflich finden, daß ich, ein nicht unbemittelter Bürger, das Haupt einer Familie, mich aus Grundsatz zur äußersten Rechten halte und entschieden gegen Alles eifre, was gegen das Bestehende läuft. Der Unterschied der Stände ist ein heiliger und muß aufrecht erhalten werden, wie der des Besitzes und des Glaubens; und nur wenn das geschieht, kehrt sie wieder: „die goldne Zeit, womit der Dichter uns zu schmeicheln pflegt“.

Steinheim glaubte, als er das Schweigen der Gesellschaft, das entzückt aufhorchende Gesichtchen seiner Frau bemerkte, des allgemeinen Beifalls sicher zu sein und warf sich mit der Bravour einer Sängerin, die eine große Arie glücklich beendet hat und nun des Bravo harrt, in seinen Stuhl zurück. Umsonst! Niemand rief ihm Beifall zu, die Frauen warfen einzelne Worte hin und nur Walter sagte kurz: Ich bekenne Ihnen, daß ich nicht Ihrer Meinung bin! als ob er es nicht der Mühe werth hielt, sich in irgend eine nähere Erörterung einzulassen. Dann ging er schnell zu andern Dingen über, fragte Steinheim nach seinen Reisen, und bald war dieser auf ein neues Steckenpferd gebracht. Er sprach von den Theatern, die er besucht, von der Art, in welcher der berühmte Seidelmann, den Alle kannten, den Nathan dargestellt hatte, und erklärte dieselbe für die vollendetste Schöpfung der Schauspielkunst.

Der Kunst, bemerkte Walter, insofern sie der Natur entgegensteht, denn diese fehlt den Schöpfungen von Seidelmann, mehr oder weniger, fast immer.

„Wo fehlts nicht irgendwo auf dieser Welt? dem dies, dem das“, recitirte Steinheim, und Sie müssen doch eingestehen, daß Lessing’s Nathan ein Meisterwerk ist, und daß jener Schauspieler die Absicht des Dichters immer vollkommen begreift und versinnlicht.

In diesem Falle bestimmt nicht! sagte der Graf. Mir scheint, was die Dichtung anbetrifft, Nathan der Weise überhaupt mehr eine großartige Allegorie, ein didaktisches Gedicht, als ein darstellbares Schauspiel zu sein. In dem Bestreben, die positiven Religionsunterschiede als unwesentlich darzustellen, sobald die innere, wahre Religion vorhanden, hat Lessing den einzelnen Repräsentanten der verschiedenen Confessionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, so daß Saladin, der Templer und Nathan, drei so ganz abweichende Charaktere, eine Art von protestantischer Familienähnlichkeit bekommen. Das thut dem Interesse Abbruch, welches man an ihnen nähme, wenn die Gegensätze schärfer gezeichnet wären. Dazu kommt noch, daß die Ruhe, mit der der Templer, der strenggläubige Christ, sich als den Abkömmling eines Muselmannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, etwas Unwahres hat, wie der ganze Schluß, der nicht befriedigt – wenigstens auf der Bühne nicht. Das Schauspiel unterhält den Zuschauer nicht, so herrlich das Gedicht ist, und wird durch den Darsteller noch langweiliger1.

Madame Steinheim, die bis dahin fast kein Wort gesprochen, sondern sich mit den Kindern beschäftigt hatte, stimmte dem Grafen schüchtern bei.

„Brutus! auch Du?“ rief ihr Mann, und drohte ihr mit dem Finger, in einer Weise, die er für schalkhaft zu halten schien.

Madame Steinheim hat Recht! bekräftigte Walter. Gerade da liegt jenes Schauspielers Fehler in dieser Rolle. Er ist nicht der schlichte, klare Mann, der aus eigener Anschauung Gott, die Welt und den Menschen begriffen hat; nicht der anspruchslose Weise, der sich seiner hohen Weisheit kaum bewußt ist und sie für die natürlichste Erkenntniß hält – sondern ein selbstbewußter Gelehrter, der seine Sentenzen im Kathedertone vorträgt, weil er ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb stellt er sich jedesmal in Position, ehe er eine seiner moralischen Behauptungen spricht und der Schein von Demuth, von Schlichtheit, mit dem er sich umgibt, täuscht uns keinen Augenblick. Lessing dachte sich einen Erzvater in heiliger, erhabener Einfalt und jener stellt uns einen Professor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der wohl fühlt, daß er tausend Mal gescheuter sei, als sein Auditorium, sich aber hütet, es zu zeigen, weil er weltklug genug ist, Niemand beleidigen zu wollen. Er erscheint feig und arrogant zugleich.

Frau von Meining lächelte und stimmte dem Grafen bei, auch Jenny schien seine Ansicht zu theilen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny