Neue Ereignisse

Es dauerte fast zwei Wochen, bis es der Räteregierung gelang, den bedrohlichen Aufstand in Jaroslawl niederzuschlagen. An den Straßenecken in Moskau sind gegenwärtig die Aufrufe des Exekutivkomitees angeschlagen, welche die Volksmassen zum äußersten Kampf gegen die kapitalistische Gegenrevolution im Norden und gegen die Tschecho-Slowaken auffordert. Trotzki sprach am 31. Juli zu den Matrosen in Kronstadt. Unter den Roten Truppen an der Wolgafront werden zur Zeit Umgruppierungen vorgenommen, aus Petersburg und Moskau gehen ständig Verstärkungen an die Front ab. Gegen die angeblich von General Gurko befehligten anglo-russischen Truppen, die am 31. Juli Onega besetzt haben und auf Archangelsk marschieren, kämpfen hauptsächlich Kronstädter Matrosen, deren Kriegseifer durch besonders hohe Löhnung und noch höhere Versprechungen angespornt werden mußte. Die Tschecho-Slowaken haben während der letzten Woche allein vier wichtige Städte, Simbirsk, Jekaterinburg, Kasan und Pensa, eingenommen. Angeblich kämpft auf ihrer Seite japanische Artillerie. Die Sibirische Bahn in ihrem Rücken soll durch amerikanische Ingenieure organisiert worden sein. Hinter der Front der sogenannten Tschecho-Slowaken kostet angeblich das Pud Getreide bereits wieder den normalen Preis von 3 Rubel. In Moskau kostet jetzt das Pud 300 — 400 Rubel. Tatsächlich rücken die Tschecho-Slowaken Moskau täglich ein Stück näher. Es gibt hier Propheten, die der alten Reichshauptstadt bereits das Schicksal der unglücklichen Stadt Jaroslawl verheißen.

Zwar liegen Gründe vor zu hoffen, daß es zu einem solchen tragischen Ereignisse nicht kommen werde. Aber die Möglichkeit eines plötzlichen Vorstoßes, der sich auf die Haltung eines Teiles der Moskauer Truppen stützen könnte, ist nicht ausgeschlossen. Im Auftrag der in Moskau verbliebenen Ententekonsulate sprach dieser Tage der Amerikaner Pool auf dem Außenkommissariate vor, um von der Räteregierung Auskunft zu fordern, was mit ihrem Kampfruf gegen den anglo-französisch-amerikanischen Kapitalismus gemeint sei. Die Räteregierung antwortete durch den Erlass eines Manifestes, in dem sie hervorhebt, daß sie nicht gegen die Völker der Entente, sondern nun gegen die Söldner der kapitalistischen Regierungen kämpfen werde. Andere Sorgen erwachsen der Räteregierung durch die Aufstände in Turkestan, Ferghana und Khokand. Die „Prawda“ weist heute darauf hin, daß um die Räterepublik bereits ein Halbring von Englisch-Indien bis zum Murman geschlossen sei. Lenin erwähnte in einer dieser Tage vor dem Exekutivausschuss gehaltenen Rede, daß der Aufstand der Mohammedaner in Mittelasien von Afghanistan ausgehe. Der endgültige Verlust von Turkestan wäre für die Sowjetrepublik, der dadurch die dortigen großen Baumwollvorräte der vorjährigen Ernte verlorengingen, ein schwerer Schlag.


In diese kritische Gesamtlage fiel am 30. Juli die Nachricht von dem Attentat auf den Feldmarschall von Eichhorn und von dem versuchten Attentat auf den Minister Butenko in Kiew. Die Ereignisse eilen. In dem Verhältnis der Räterepublik zu Deutschland war in den letzten Wochen eine Entspannung eingetreten, vielleicht auf Grund des erwarteten Abschlusses der neuen Berliner Verträge, die endlich die Aufnahme der gegenseitigen Handelsbeziehungen zur Folge haben sollten. Aber unter den jetzigen Umständen bieten die besten Verträge wenig Sicherheit. Spät am Abend des 31. Juli fielen zweimal in einem Hinterhof der deutschen Gesandtschaft Schüsse. Es handelte sich um den Versuch einiger mit Revolvern bewaffneter Personen, in das Grundstück einzudringen. Die Wachsamkeit der Posten verhinderte die Ausführung. Wieder einmal eine „Provokation“. Das Wort „Provokation“ ist die Universalsauce, nach der heutzutage in Russland alle Schurkenstreiche schmecken. Wer, wie die Räteregierung, dieses Wort automatisch für alle unqualifizierbaren Taten anwendet, die nachher offen von einer der größten Parteien des Landes auf deren Kongressen und in deren Presse gebilligt werden, der sagt damit nicht einmal, daß er mit ihnen nichts zu tun haben will, sondern er stellt nur fest, daß es „die anderen“ gewesen sind.

Angeblich waren es auch dieses Mal wieder in Kiew „die anderen“. Das erst vor einigen Tagen neu erschienene Organ des angeblich gemäßigten Flügels der linken S.-R., die „Snamja Borby“, verkündete ihren Lesern sofort in großen Lettern, daß auch das Attentat auf den Feldmarschall von Eichhorn auf offiziellen Beschluss der Partei erfolgt sei. Die „Iswestija“ stellt mit dürren Worten fest, man sehe aus dem Kiewer Ereignisse, daß auch die stärkste Truppenmacht gegen entschlossene Taten keinen Schutz biete; die Räteregierung sei im Recht gewesen, als sie die Entsendung eines deutschen Bataillons nach Moskau als nutzlos bezeichnete und ablehnte. Es ist zweifellos richtig, daß auch ein Bataillon Soldaten gegen die Heimtücke von Fanatikern keinen absoluten Schutz zu bieten vermag. Auf die Dauer mag die Auflösung der Militärmissionen der Entente in Moskau eine bessere Sicherung gegen Anschläge bieten als eine noch so große Leibwache. In Russland herrscht die nur durch dürftige Ordnungsorganisationen des Proletariats und durch das Ruhebedürfnis der Bourgeoisie gemilderte Anarchie. Trotz des friedlich-alltäglichen Aussehens der schönen, zusehends verwildernden Stadt ist Moskau ein heißer Boden, Noch hat Deutschland den wirklichen Frieden mit Russland nicht geschlossen. Die „Iswestija“ selber bezeichnete gestern das augenblickliche entspannte Verhältnis zu Deutschland nur als einen „kurzen Flirt“. Dieser Flirt erscheint noch immer nicht frei von Hintergedanken auf beiden Seiten. Vielleicht haben die Völker längst Frieden geschlossen, aber zwischen den Führern geht die Fehde weiter.

Nach den Erklärungen der Moskauer linken Sozialrevolutionäre könnte es scheinen, als liege der Fall des Attentats in Kiew nicht anders als das Attentat vom 6. Juli in Moskau. In Wirklichkeit besteht zwischen beiden Fällen ein grundsätzlicher Unterschied. Richtet sich das Attentat vom 6. Juli wesentlich mit gegen die Moskauer Räteregierung, so erscheint das Attentat in Kiew ausschließlich als eine Phase des auch von den Bolschewiki mit allen Mitteln geförderten Kampfes um die „Befreiung“ der Ukraine, d. h. um den Versuch, die deutsche Besetzung der Ukraine rückgängig zu machen und damit der dortigen bürgerlichen und Gutsbesitzerklasse ihre letzte Stütze zu entziehen. Man will nicht so sehr eine russische Ukraine als eine bolschewistische Ukraine. Die Haltung der hiesigen offiziösen Presse ist die der unverhohlenen Billigung des Kiewer Attentats, Erst vor einigen Wochen machte die Räteregierung den früheren Vorsitzenden der Charkower bolschewistischen Rada, Skrypnik, zum Nachfolger des in das Murmangebiet entsandten Kommissars Lazis von der bekannten „Außerordentlichen Kommission“. Hinter Rakowski, der in Kiew auf russischer Seite die Friedensverhandlungen leitet, steht Skrypnik, ebenso wie hinter den Delegierten der Räteregierung bei den Berliner Friedensverhandlungen mit Finnland die vom Gram der finnischen Niederlage gebeugte Gestalt Sirolas auftaucht.

Bei dem Attentat auf den deutschen Gesandten in Moskau hat die Räteregierung von dem Terrorismus ihrer Parteiverbündeten, der linken S.-R, schüchtern Abstand genommen. Sie hat einige „Weichensteller“ und „Unschuldige“ erschießen lassen; die eigentlichen Schuldigen sind in die Ukraine entkommen. In dem Kiewer Falle hat die Räteregierung den Versuch zu einer moralischen Verurteilung des Geschehenen gar nicht unternommen. Im Gegenteil. Die „Prawda“ druckt mit der Nachricht von den Kiewer Attentaten zugleich die demagogische Meldung ab, die deutschen Truppen seien zugleich mit ukrainischen Hilfstruppen an die Westfront abberufen worden. Die offiziösen Blätter melden mit Befriedigung, daß gerade am heutigen Tage in verschiedenen Räteorganisationen Geldsammlungen für die streikenden ukrainischen Eisenbahner eröffnet worden seien; besonders glänzende Resultate habe die Sammlung in der „Außerordentlichen Kommission“ ergeben. In den letzten Julitagen hat in Moskau eine städtische Parteikonferenz der linken S.-R. stattgefunden, in der sich die Partei, die innerlich geschlossener als je dazustehen scheint, mit Rücksicht auf die Zwecke ihrer Kampftaktik in drei Gruppen spaltete: die intransigente Gruppe der aus Brest bekannten Dame Bizenko, welche die Tat vom 6. Juli rückhaltlos begrüßt; die Partei des Zynikers Kollegajew, die, um ihren Einfluss in den Räten nicht zu verlieren, eine vermittelnde Stellung einnimmt mit der originellen Begründung, „daß die weiteren unausbleiblichen Schläge unter Bedingungen erfolgen müssen, welche die Parteimitglieder an Ort und Stelle vor Verfolgungen schützen“, und die dritte, angeblich gemäßigte, aber namenlose Gruppe um das neugegründete Blatt „Snamja Borby“, das gestern ebenfalls den Kiewer Mord rückhaltlos billigte, heute aber schreibt: „Wenn das ukrainische Proletariat schon jetzt zum Aufstand vorbereitet wäre, dann war das Attentat nicht nötig. Dann müsste der Aufstand proklamiert werden, wobei vielleicht nicht der eine Eichhorn, sondern ein Dutzend seinesgleichen hätte vernichtet werden müssen. Sind aber die Massen noch nicht zum Aufstand bereit, so kann das Attentat gegen Eichhorn nur der Vorbereitung des allgemeinen Aufstandes schaden.“

Der Parnaß der politischen Tagesgeschichte Russlands wimmelt von Tagesberühmtheiten, von „Heiligen“ und „Spartanern“, die, bei Licht besehen, nichts anderes sind als auf die politische Bahn gedrängte Halbliteraten und Halbverbrecher. Der größte Name in der gegenwärtigen inneren Geschichte Russlands ist B. W. Sawinkow, der die Attentate auf Plehwe und den Großfürsten Sergej organisierte, der unter der Regierung Kerenskis kurze Zeit den Posten des Kriegsministers bekleidete und jetzt als Leiter des großangelegten Komplottes gilt, dem Graf Mirbach und Marschall von Eichhorn zum Opfer fielen. Die Ermordung des Mitgliedes der Räteregierung Wolodarski, der im Frühjahr in der Nähe Petersburgs erschossen wurde, fällt nebenher auf sein Konto. Sawinkow ist übrigens unter dem Pseudonym Ropschin der Verfasser zweier auch in Deutschland bekannter Romane, Gegenwärtig leitet er aus seinem Versteck die Fäden des künftigen Aufstandes. Sawinkow gehört zum rechten Flügel der Sozialrevolutionäre, der mit der Entente in offener Verbindung steht. Was den rechten Flügel mit dem linken einigt, ist sein Programm des Terrorismus; was beide hauptsächlich trennt, ist das Fußen der rechtsstehenden Gruppe auf dem Boden der konstituierenden Versammlung. Der linke Flügel hat sich dagegen seit der Auflösung der Konstituante den Bolschewiki angeschlossen und billigt deren Widerstand gegen jeden Versuch zur Bildung eines Parlaments. Diktatur und Terrorismus sind verwandte Begriffe. Die Bolschewiki verkünden in ihren Dekreten und durch ihre Presse täglich aufs neue die Diktatur des Proletariats. Der von ihnen gegen das Bürgertum angewandte Massenterror ist denn auch im öffentlichen Leben Russlands auf das gründlichste täglich zu verspüren; er führt zu einer für jedermann offensichtlichen, ständig fortschreitenden Proletarisierung des Bürgerstandes. Die geschieht vor allem durch die planmäßige Entwertung des Geldes, durch Requisitionen und Expropriationen, durch Brandschatzung jeder Art und schließlich durch die Nationalisierung von Geschäften und Betrieben. Von den linken S.-R. ist bisher behauptet worden, daß sie mit der Entente nichts zu tun hätten. Die Führer der rechten S.-R., hauptsächlich Sawinkow, stehen dagegen mit der Entente, vor allem mit dem Oberst Robins, dem puritanischen Geschäftsmann, den Wilson als Vertreter des amerikanischen Roten Kreuzes nach Russland entsandte, in enger Verbindung. Den Bann der Indifferenz der linken S.-R. gegen die Entente hat deren Parteimitglied Wosnesenski durch seine Zusammenkünfte mit dem französischen Botschafter Noulens und dem amerikanischen Botschafter Francis in Wologda gebrochen. Die „Iswestija“ brachte zwar bald danach einen Protest Wosnesenskis gegen die Behauptung von der Verkäuflichkeit des Zentralkomitees der Unken S.-R. und zugleich einige entschuldigende Worte von selten der Räteregierung für denselben Wosnesenski*) wie für das Zentralkomitee, an dessen Spitze dieselbe Spiridonowa steht, über welche der Lehrer Sawinkows und Parteihistoriker Oganowski einmal geschrieben hat: „Mariechen Spiridonowa kam direkt von der Schulbank ins Zuchthaus; sie ist auf dem Niveau einer schülerhaften Weltauffassung Stehengeblieben, hat aber mit einem Häuflein ebensolcher nichtausgelernter junger Leute in der Meisterschaft des Judasgewerbes die gelehrtesten und ausgekochtesten Schurken der Welt übertroffen.“

Die terroristische Taktik der linken S.-R. gegenüber dem Brester Deutschland wurde zum erstenmal auf einer Zusammenkunft von Mitgliedern des Zentralkomitees und einiger geladenen Gäste am Silvesterabend 1917 auf dem Kamenny Ostrow in Petersburg in einer kleinen gemütlichen Wohnung gegenüber dem Botanischen Garten besprochen. Lenin hatte damals seine „Gastrolle“ in Russland erst begonnen. Der schlaue Viktor Michailowitsch (Tschernow) fühlte schon voraus, daß Iljitsch (Lenin) auf dem begonnenen Wege nicht stehenbleiben und es meisterhaft verstehen werde, die „Utschredilka“ (Konstituante) matt zu setzen. Da erinnerte der anwesende Oganowski an die Zeit, wo G. Sasonow „ruhig und überzeugt Bomben auf die Feinde des Volkes warf“. Und man begann die Hoffnung auszusprechen, daß bald vom Westen neue Piehwes, Dubassows, Pawlows erscheinen und daß dann die Helden jener hervorragenden „alten Garde“ von Attentätern, wie Jeljachow, Kibaltschik, Sasulitsch, Helfmann, Sawinkow, neue Bomben werfen würden. Es scheint, daß in jener Silvesternacht für beide Flügel der Sozialrevolutionäre das terroristische Programm für die Zukunft festgelegt wurde.

*)Herr Arsen Wosnesenski bestritt später in einer persönlichen Unterredung entschieden die Richtigkeit meiner Behauptung, daß sein Besuch in Wologda der Anknüpfung von Beziehungen seiner Partei zur Entente gegolten habe. Seine Partei führe jetzt wie auch früher den Kampf gegen jede Form des Imperialismus, des deutschen wie des Imperialismus der Entente. D. Verf.

Die von mir am 9. Juli ausgesprochene Voraussage, daß der von Moskau aus gegen die Besetzung der Ukraine geführte Kampf noch weitere Opfer fordern werde, hat sich leider erfüllt. Und noch besteht die offene Drohung auf eine Fortsetzung dieses kriminellen Krieges weiter. Keine Regierungsmacht in Russland scheint stark genug, um das lichtscheue Treiben zu unterbinden. Die Schuld liegt an den bis in den Grund verrotteten Zuständen dieses Landes, das die Mittel seiner Politik einer langen Zeit der zarischen Unterdrückung entnommen hat und nun, mit der pathologischen Mentalität fanatischer Parteiführer, in den Vertretern Deutschlands nichts anderes als die Vertreter eines neuen Zarentums bekämpft. Sie liegt aber auch darin, daß der innere Gegensatz zwischen einer im Grunde bürgerlichen Regierung wie der deutschen und einer proletarischen Regierung wie der gegenwärtigen russischen durch nichts, auch nicht durch noch so reale wirtschaftliche Beziehungen, zu überbrücken ist. Es kann in diesem Kampf der Systeme kein Gleichgewicht, sondern nur Sieger und Besiegte geben. Die bisherigen Ereignisse in Russland sind nur das Vorspiel einer europäischen Schicksalsfrage.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau