Von den deutschen Kolonisten an der Wolga

Unter den seit beinahe zwei Jahrhunderten von deutschen Kolonisten besiedelten Landgebieten des alten russischen Reiches ist das Kolonistenland zwischen Samara und Saratow an der Wolga eines der größten und menschenreichsten. Die Zahl der dort ansässigen deutschen Kolonisten ist ungefähr 700.000. Sie wohnen in großen, blühenden Dörfern, treiben Landwirtschaft und Industrie in bedeutendem Maßstabe und stellen unter sich eine Bevölkerung von beinahe städtischer Stufung dar, unter der eine Minderzahl von Landlosen und Industrieproletariat nicht fehlt. Die deutschen Kolonisten in Wolhynien, in der Ukraine, in der Krim und Taurien stehen jetzt unter dem Schutz der deutschen Truppen. Wenigstens das Leben und das Eigentum der deutschen Bauern in dem südlicheren Russland ist gesichert, mögen auch die Zeitereignisse noch so umwälzende politische Folgen mit sich führen. Anders ist die Lage der deutschen Kolonisten an der Wolga. Der große russische Strom bildet zur Zeit einen der wichtigsten Frontabschnitte des Bürgerkrieges zwischen den Bolschewiki und den sogenannten „weißen“ Truppen der durch Sibirier, Kosaken und Freiwillige aus dem Innern Russlands verstärkten Tschecho-Slowaken. Seit der Einnahme von Simbirsk haben die Tschecho-Slowaken begonnen, auch auf dem rechten Ufer des Flusses Fuß zu fassen. Sie bedrohen hier die für die Versorgung des mittleren und nördlicheren Russlands wichtigsten Getreidegegenden. In der jetzigen Erntezeit werden die Kämpfe, die sich dort abspielen, mit besonderer Erbitterung von beiden Seiten geführt, denn auf beiden Seiten weiß man, daß von dem Vorrücken oder der Vertreibung des Gegners unmittelbar das Schicksal der russischen Hauptstadt, vielleicht die ganze staatliche Zukunft Russlands abhängt.

Die deutschen Kolonien hegen an dem jetzt sehr aktuell gewordenen Frontabschnitt zwischen zwei Feuern. Bezeichnend für die schwierige Lage der Wolgadeutschen ist ein aus Saratow stammender Brief vom 20. Juli, der hier im Auszug folgt:


„Schon wieder eine Greueltat, groß genug, um jeden vernünftigen Menschen außer sich zu bringen. Seitdem 5. Juli ergingen an unser Kolonieamt fortwährend neue Aufforderungen von einem Stab der Weißen Armee in P., wir sollten uns der sogenannten „Bauernarmee“ anschließen, sollten Leute stellen für Wachtdienst, Streifzüge usw. Ich wurde von unserem Dorfrat nach P. gesandt, um Erkundigungen einzuholen. Die Gemeinde beschloß alsdann, sich nicht in diese Angelegenheiten zu mischen, zumal uns die Bolschewiki von der anderen Seite bedrängten. Die Aufforderungen zum Anschluss wurden von der Weißen Seite immer dringender, man versprach Waffen und Unterstützung gegen die Bolschewiki. Diese waren inzwischen abermals in unsere Kolonie gekommen und hatten Pferde „requiriert“. Die Gemüter waren aufs äußerste erhitzt. Dennoch brachten wir es dahin, daß sich die Gemeinde nochmals weigerte, ihren Anschluss an die Bauernarmee zu erklären. Nun aber traf ein Schreiben ein, binnen zwei Stunden müßten wir ja oder nein gesagt haben, je nach unserer Antwort sollten wir als Freunde oder Feinde behandelt werden. Unsere Beratung war noch nicht zu Ende, als vor unserem Kolonieamt ungefähr 300 Soldaten erschienen, drohten, sofort zum Angriff gegen uns vorzugehen, falls wir uns gegen sie erklärten. Der Gemeinderat beschloß nun, sich dem Weißen Stab zu unterwerfen, nahm eine ganze Reihe von Verpflichtungen auf sich und entsandte drei Mann, welche in P. die Waffen in Empfang nehmen sollten. Aber Waffen bekamen wir keine. Statt dessen fingen am nächsten Tage die Bolschewiki schon an, uns von der Wolga her zu bombardieren. Es vergingen fünf Tage in der größten Aufregung. Am 11. Juli kam es zwischen den Kämpfenden zu einem Zusammenstoß. Trotz unserer Proteste wurde die Kolonie Zürich zum Kampfplatz. Von den Bolschewiki wurde ein starkes Artilleriefeuer aufs Dorf gerichtet. Die meisten Bewohner flüchteten auf die Felder, die übrigen versteckten sich in den Kellern. 120 Kanonengeschosse wurden auf Zürich abgefeuert. Der größte Schaden ist an der Kirche und am Schulhaus. In der Kolonie Solothurn brannte das Schulhaus ganz ab. Die Abteilung der Bauernarmee zog sich zurück. Unsere Dörfer waren jetzt den Bolschewiki völlig preisgegeben. Weis da geschah, ist rein unbeschreiblich. Alles Wertvolle ist entweder mitgenommen oder vernichtet. „Geld und Schnaps“, schrie die Bande immer wieder. Nach vollständiger Ausräuberung erschien ein Kommissar aus K. und forderte 100.000 Rubel Kontribution, welche im Verlauf von sechs Stunden ausgezahlt werden mußten. O, könnten Sie den Schrecken, den Jammer, das Elend sehen, das unsere Kolonie betroffen hat! Elf Mann sind zum Tod verurteilt. Man wird uns noch alle zugrunde richten.“

Die Räteregierung entsandte dieser Tage auf Vorstellung von deutscher Seite einen ihrer Kommissare in das Wolgagebiet mit dem Auftrag, über die Lage der dortigen Kolonisten zu berichten. Nach den Absätzen 21 und 22 des Brester Zusatzvertrages steht den deutschen Kolonisten in Russland zehn Jahre lang das Recht zu, ohne weiteres aus dem russischen Untertanenverband auszutreten und in ihr Stammland zurückzuwandern. Die deutschen Kolonisten, welche die Absicht haben, auszuwandern, genießen infolge dieser Abmachung bereits die Rechte der Exterritorialität und stehen unter dem Schutz des Deutschen Reiches. Wie die Dinge im Wolgagebiet zur Zeit liegen, nimmt aber keine der kämpfenden Parteien auf die dortigen Deutschen die geringste Rücksicht. Die Räteregierung hat neuerdings in Saratow ein deutsches Kommissariat gebildet, dem deutsche Bolschewiki angehören und das die Enteignung des deutschen Grundbesitzes, die Nationalisierung der Industriebetriebe nach russischem Muster vornehmen will. Auch bildet die Räteregierung in der. Roten Armee besondere deutsche Abteilungen. Durch das Vorgehen der Räteregierung und ihre Agitation unter den Wolgadeutschen ist es ihr gelungen, einen Bürgerkrieg im kleinen zu entfesseln. Die Sachlage scheint allmählich vielen dieser friedlichen um ihr Leben und ihr Eigentum bangenden Menschen keinen anderen Ausweg zu lassen, als sich einer der kämpfenden Parteien anzuschließen. Wahrscheinlich ständen dabei die Sympathien der wohlhabenderen und gebildeteren deutschen Kolonisten auf Seiten der Weißen „Bauernarmee“, die versprochen hat, in Russland die Ordnung wiederherzustellen, wenn sich nicht auch diese Armee bei ihrer Zwangsmobilisierung zahllose Roheiten und Rücksichtslosigkeiten zuschulden kommen ließe.

Trotz des Verlustes von Simbirsk und anderer für die Lage der Roten Armee bedrohlicher Vorfälle an der Wolgafront äußert die Räteregierung in Moskau gegenwärtig nichts als Zuversicht auf den schließlichen Sieg ihrer gegen die Tschecho-Slowaken kämpfenden Truppen. Wie gesagt, wirbt auch sie Soldaten unter den deutschen Wolgakolonisten, denen sie volle Selbstverwaltung unter einem von den örtlichen Dorfsowjets gewählten deutschen Kommissariat verheißt, daneben ein eigenes Schulwesen und ungehinderte kulturelle Entwicklung. Alles das aber hatten die Wolgadeutschen bis auf die letzten Jahre auch unter der Zarenregierung. In der Hauptsache kommt es der Räteregierung darauf an, die patriarchalischen deutschen Siedelungen, die immer als Mustersiedelungen gegolten haben, auf kommunistischer Grundlage umzubilden, eine Absicht, die höchstens von einer durch die Sowjets gestützten Minderheit unterstützt wird und dem deutschen Charakter wenig entspricht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau