Das Denkmal Alexanders

Russland hat wirklich seinen Zaren verloren. Vielleicht war es dem Volk bisher nicht so stark zum Bewusstsein gekommen. Besonders in Moskau, wo Tausende von alten Erinnerungen und Gebräuchen so zu Hause sind wie die Silhouette des Kremls, wie das Funkeln der goldenen Kreuze und Lanzenspitzen auf den blauen Kirchenkuppeln. Aber einmal kam doch die Nachricht, daß Nikolai Romanow in Jekaterinburg erschossen worden sei. Ohne ein Wort des Bedauerns, ohne ein versöhnendes Wort der menschlichen Milde begrüßten die Zeitungen Moskaus, die drei einzigen, die in diesen Tagen erschienen, den jähen Tod des Mannes, der einst auf dem Kreml feierlich gekrönt, in der Erlöserkirche vom höchsten geistlichen Würdenträger Russlands geweiht worden war. Im Juli 1918 gehörten Erschießungen zur Tagesordnung in Moskau. Nacht für Nacht, zuweilen auch am Tage, hörte man von irgendwoher aus der Ferne das Krachen von Gewehrsalven. Das Volk geht still, scheinbar gleichmütig seiner Wege. Und die Zeitungsjungen an den Straßenecken rufen mit heller, geschäftsmäßiger Stimme dem Werktagsvolk, den schmutzigen und proletarischen Menschen des gegenwärtigen Moskauer Straßenlebens, den Tod des ehemaligen Gossudars in die Ohren.

Um nicht von der jetzigen Regierung verhindert oder gestört zu werden, haben die am folgenden Sonntag in vielen Kirchen Moskaus veranstalteten kurzen Totenfeiern für den einstigen Monarchen ohne vorherige Ankündigung stattgefunden. Die Geistlichen im goldenen Ornat traten in die Mitte des Saales und verlasen die Gebete; den tiefen, eigentümlichen, wehklagenden Basstönen der Priester antwortete der Chor mit den Worten: „ewiges Gedenken“. In den Händen der Leute brannten Wachslichter. Einzelne Frauen weinten. Die Gesichter waren ernst — und gleichgültig, undurchdringlich. Das Volk hat es verlernt, seine Gefühle zu verraten. Vielleicht hat es überhaupt keine Gefühle mehr. Es ist nur unbeschreiblich müde. Es will nur Ruhe, nichts als Ruhe. Es wartet auf die Tschecho-Slowaken, auf die Deutschen. Und da beide nicht kommen, auf den Tod. Die Kirchen sind stärker besucht als früher.


Zu derselben Stunde, wo unter den schweren, goldstrahlenden Kuppeln, in den grau und braun glänzenden, von Weihrauchdampf erfüllten Marmorwänden der Erlöserkirche vom Erzpriester Serafim die Panichide für den „getöteten Imperator Nikolai Alexandrowitsch“ gefeiert wurde, begannen an dem Denkmal Alexandeis III., das in breiter, bronzener Schwere neben dem weißen Kirchenpalast steht, die Vorbereitungen zum Abbruch dieses Denkmals. Das Denkmal des sitzenden Imperators, in vollem Ornat auf einem Thronsessel, mit dem Zepter und dem Reichsapfel in den Händen und den Falten des kaiserlichen Mantels über den Knien, auf dem Haupt die gespaltene, einer hohen Ballonmütze ähnliche Krone, steht auf einem Sockel von glänzendem roten Marmor. Breite marmorne Rundstufen führen zu ihm empor. An den Balustraden dieser Stufen stehen Kandelaber wie vor einem Heiligenbild. An den Ecken des Denkmals spreizen gekrönte Adler ihre Fänge.

Man begann mit dem Anlegen einer gewöhnlichen roten Feuerwehrleiter. Die bronzenen Wappen an den Seiten des Denkmals waren schon abgeschraubt. Einige, so das Wappen der baltischen Provinzen, waren aber bis zuletzt geblieben. Offenbar war es den Handwerkern nicht gelungen, die starken Schrauben zu lösen. Den Adlerhäuptern waren die Kronen schon abgenommen, nur die Kronenbänder flatterten noch.

Inzwischen ging die Arbeit weiter. In den noch sorgfältig gepflegten, hübschen Anlagen vor der Kirche spaziert das Volk; alte Leute, Soldaten, sommerlich gekleidete Mädchen, Kinder sitzen auf den Bänken. Noch werden die Anlagen von ihrem braven Wächter gehütet, der seine alte Uniform nicht abgelegt hat. Zwei blinde Bettler gehen durch die Menge mit tastenden Schritten und lautem Wechselgesang. Um das Denkmal stehen Gruppen heftig diskutierender Menschen. Was diskutieren sie? Sie sprechen über das Denkmal des „Tyrannen“, sie sprechen über Arbeitslöhne und das neue Arbeitssystem. Die Agitatoren der Räteregierung beschäftigen das Volk. Um das Denkmal ist ein rohes Balkengerüst geschlagen. Um den Hals des mächtigen gekrönten Mannes, um den Reichsapfel in seiner linken Hand, um das dünne Zepter in seiner Rechten hat man Taue gewunden. Es wirkt wie die Vorbereitung zu einer Hinrichtung im elektrischen Stuhl. Alte Leute stehen wortlos bei dem Denkmal. Ihre Mienen verraten nichts. Sie stehen da mit dem äußeren Gleichmut von Spaziergängern. In ihr Herz sieht niemand. Niemand weiß, ob ihr russisches Herz monarchistisch oder kommunistisch ist . . . und wie es die wunderlichen Fügungen des Schicksals hinnimmt.

Ein paar Tage später. Das Werk ging unterdessen voran. Man sieht von weitem ein enthauptetes Denkmal, das Denkmal eines Enthaupteten. Die Arbeiter haben begonnen, die schwere Figur waidgerecht zu zerlegen. Siehe da, sie ist hohl. Stück für Stück nimmt man herab. Neben dem glänzenden Sockel liegt bereits der Kopf des Zaren mit der klaffenden Krone, die in roher Arbeit die Muster eines mit Edelsteinen besetzten Gewebes zeigt, auf dem zerstampften Rasen. Der Kopf und die Krone bilden ein hohles Ganzes, das einen leichten Blechton gibt, wenn man mit dem Fingerknöchel daran schlägt. Es ist eine Herme mit zu schmalem Sockel, denn das überschwere Haupt war am Halse wie ein Pfropfen in das Massiv des Rumpfes hineingesetzt. In dem Hohlraum der Krone haben Vögel genistet. Dicke helle Patinaflecke sitzen auf dem Metall, wie aus einer Farbentube hingestrichen. An den Wangen schimmert durch die schwärzliche Metallhaut das vom Flaschenzug blankgescheuerte, sonnige Kupfer. Die Züge der Figur sind ausdruckslos, dennoch erinnern sie mit der stumpfen Nase und dem gut frisierten Vollbart an die bekannten Bilder Alexander III. und seines Sohnes Nikolai. Auf dem Rasen liegen bereits die Arme mit den Seiten des Rumpfes, die gewaltigen, aus Manschetten hervorlangenden Hände mit den Reichsinsignien. Ein Stück von den Mantelfalten liegt daneben. Es sieht aus wie eine Röhre, die durch eine Explosion zu einem Stück Tuch zerquetscht ist.

Der Abbruch der Zarendenkmäler im kommunistischen Russland geschieht ja nach dem Willen der Volkskommissare. Mit dem steifen, zeremoniellen, überlebensgroßen Denkmal Alexander III. in Moskau geht irgendein künstlerischer Wert nicht verloren. Außerdem verspricht das Kommissariat für Volksaufklärung in ganz Russland Ersatz durch andere Denkmäler. Wartet nur, ihr werdet sie bald zu sehen bekommen! Zarendenkmäler haben nach der Geschichtsauffassung der Räteregierung nur dann einen didaktischen Sinn, wenn sie in aller Öffentlichkeit beseitigt werden. Man versammelte ebendeshalb auch gerade hier vor der Erlöserkirche die Soldaten der Roten Armee, die im Begriffe stehen, gegen die Tschecho-Slowaken an die Wolga zu gehen, zu einer Parade. An diesem Platze steht ein rotes, neues, äußerst verschrobenes Gebäude, das sich ein reicher Moskauer Bürger in früheren Jahren, nichts Schlimmes ahnend, errichtet hat. Es dient jetzt als Kriegskommissariat. Trotzki hält vom Balkon herab eine Rede an das Volk.

Von der Zarenzeit sind in Moskau nur die Geistlichen und die Droschkenkutscher in ihren alten langen Trachten übriggeblieben. Vielleicht hängt die Unveränderlichkeit ihrer Tracht mit der Unveränderlichkeit ihres Berufes zusammen und die Unveränderlichkeit ihres Berufes mit der Unveränderlichkeit ihrer Gesinnung. Diese Fuhrleute nehmen heute zwanzig Rubel für eine Fahrt, die früher vierzig oder sechzig Kopeken kostete. Bei schlechtem Wetter nehmen sie sechzig oder achtzig. Dennoch sind sie nicht zufrieden. Das Geld ist nichts wert. Der Hafer ist sehr teuer. Die Pferde sind anatomische Reliefs geworden. Dementsprechend ist der Gesichtsausdruck der Droschkenkutscher ernst, ihre Haltung zusammengesunken. Mehrmals haben Droschkenkutscher, vom Bock im Fahren halb zurückgelehnt, mich anzusprechen geruht. Der eine stellte mit einem rätselhaften, von jeder Ironie entfernten Lachen fest, daß „zur Zeit Nikolais“ das Leben leichter, das Brot billiger war. Der andere äußerte bestimmt, daß er im Begriffe stehe, einen Strick zu kaufen und sich aufzuhängen. Es sei nicht zum Aushalten . . . Der dritte, ein älterer Philosoph, bemerkte: „Es ist nun so weit, Herr, daß bei uns die Lebenden die Toten beneiden. Niemals hat man dem Volk die Wahrheit gesagt. In wessen Händen sind wir nun? Es ist, als ob es die Wahrheit überhaupt nicht gäbe . . .“

Die Moskauer Droschkenkutscher sind Schlaumeier. Sie verheren von Tag zu Tag ihre alte Kundschaft; die Bourgeoisie kann bald nicht mehr Droschke fahren. Umsonst sind alle Bemühungen, das Bürgertum durch teilnehmende Gespräche zum Droschkenfahren anzuregen. Die Selbstmordabsichten der Moskauer Droschkenkutscher sind weniger glaubhaft.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau