Krisis

Am Abend des 6. August hat der neuernannte deutsche Gesandte in i. Moskau, Dr. Helfferich, Moskau verlassen, um sich zu mündlicher Berichterstattung nach Berlin zu begeben. Am 7. August ist das gesamte Personal der deutschen diplomatischen Mission samt der Hauptkommission für die Kriegsgefangenen von Moskau nach Petersburg übergesiedelt. Die Ursache dieser Veränderungen ist die allgemeine Lage in Russland. „In dem Augenblick, wo Indien das englische Joch abwirft, rufen unsere rechtsstehenden Sozialisten die englischen Räuber in das Land. Die Unterdrücker des irischen Proletariats nutzen die Schwäche Russlands aus, um Russland zu unterdrücken“, schreibt Ustinow in der „Iswestija“ mit Bezug auf die Lage in den Nordgebieten. In der gleichen Nummer des Blattes der Räteregierung beschäftigt sich ein Artikel mit dem Anwachsen der tschecho-slowakischtn Gefahr, die den Kampf für Wiederherstellung der Monarchie bedeute. Man macht in Sowjetkreisen kein Hehl aus dem Ernst der Lage nach innen wie nach außen. In den letzten Tagen lag etwas wie Panikstimmung über Moskau. Das Straßenleben geht zwar seinen gewöhnlichen Gang, aber in jener eigentümlichen Stille und Gedrücktheit, die irgendein unbestimmbares Ereignis ankündigt. Solche Stimmungen sind nur die Schatten vorübergehender Wolken, und das Gewitter lässt auf sich warten. Aber alle Gedanken und Gespräche drehen sich um die Tagesfragen: die von den Fronten vorliegenden Nachrichten und um die beunruhigenden lokalen Ereignisse. Zarizyn ist angeblich dieser Tage von den Truppen des Generals Denikin eingenommen worden. Archangelsk scheint fast ohne Kampf in die Hände der Engländer übergegangen zu sein, die dortigen Vertreter der Räteregierung sind geflohen. Es heißt, daß sich auch Wologda seit dem 7. August in den Händen der aufständischen Weißen Garde befindet, es gibt sogar Phantasten, die behaupten, die Engländer stünden nur noch sechzig[b] Werst[(b] [Eine Werst entsprach 1066,78 Metern. Eine russische Meile (russ. ????) hat 7 Werst, entspricht also 7,4676 km] von Petersburg, die Deutschen seien auf dem Vormarsch nach Moskau. Noch immer dauert die Mobilisierung der Roten Armee. Am 6. August erließ das Kriegskommissariat an alle in Moskau anwesenden ehemaligen Offiziere bis zum Alter von sechzig Jahren unter Androhung der schwersten Strafen den Befehl, sich am Vormittag des 7. in der Manege der Alexejewschen Kriegsschule im Lefortowo-Stadtviertel einzufinden. Über zwanzigtausend Offiziere haben sich zu dieser Musterung eingefunden. Ohne weitere Erklärung wurden sie alle festgehalten. Bis zu diesem Augenblick befindet sich noch nicht einer der Internierten auf freiem Fuße. Abermals herrscht in zahllosen Familien Moskaus der Schrecken und die bange Sorge um das Schicksal von Vätern, Brüdern, Söhnen. Es ist bis zu diesem Augenblick noch nicht bekannt, wie sich die Frage der Offiziere lösen wird. Voraussichtlich wird man nur diejenigen freilassen, die eine schriftliche Erklärung abgeben, daß sie die Räteregierung anerkennen und bereit sind, in der Roten Armee Dienst zu tun. Der Aufruf der Räteregierung an alle gedienten Unteroffiziere der alten Armee, zu den Waffen zu eilen und für die bedrohte Revolution zu kämpfen, scheint keinen großen Erfolg zu haben.

Den bürgerlichen Zeitungen, die sich dieser Tage mit einer Anfrage an die Regierung wandten, wann ihre Wiedereröffnung genehmigt werden könne, erhielten den Bescheid, daß sie vor dem ersten Siege der Räteregierung über die Tschecho-Slowaken nicht wieder erscheinen würden. Viele schließen aus dieser Auskunft, daß mit dem Wiedererscheinen der bürgerlichen Presse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei.


Da die Zensur gegenwärtig unnachsichtiger als je ihres Amtes waltet, so haben in ganz Moskau die Gerüchte um so freieren Spielraum. Alle diese Gerüchte, denen zweifellos ein System zugrunde liegt, schaffen den Eindruck, als ob die Agonie der Räteregierung bereits begonnen habe. Über den Verrat ganzer Divisionen an der Front, über die Haltung der in Moskau liegenden Räteregimenter, über die Stärke und Führung der aus dem Osten und Norden gegen Moskau vorrückenden gegenrevolutionären Truppen laufen Gerüchte um, die je nach den Ohren, denen sie zugetragen werden, Furcht oder Hoffnung erwecken sollen. Auf den Straßen hat man wieder begonnen, den Bessergekleideten heimliche hektographierte Zeitungen anzubieten. Die meisten der Blätter sind nur auf Gimpelfang berechnet, denn das Blatt kostet anderthalb Rubel und ist äußerst armseligen Inhalts. Die Regierungsblätter widersprechen kategorisch dem allgemein verbreiteten Gerücht von einem an die Räteregierung gerichteten Ultimatum des Generals Alexejew, der den Bolschewiki eine weitgehende Amnestie zugesichert habe, falls sie ihre Macht freiwillig niederlegen. Im anderen Fall werde kein Pardon gegeben werden. Auf Grund dieses Ultimatums sei am 5. ds. im Kreml der „Rat der Fünf“, bestehend aus Lenin, Trotzki, Tschitscherin, Swerdlow und Steklow zusammengetreten. Es sei zwischen Lenin und Trotzki zu einer scharfen Auseinandersetzung gekommen. Lenin habe die Ansicht ausgesprochen, daß die Zeit gekommen sei, die Gewalt niederzulegen. Man müsse sich mit einer Erklärung an das Volk wenden, die Räteregierung habe sich zwar in ihrer Erwartung der nahen allgemeinen Weltrevolution geirrt, sie betrachte aber die bisherigen revolutionären Taten des russischen Proletariats als eine geschichtliche Leistung, deren Spuren nicht mehr verwischt werden können. Trotzki dagegen habe jeden Tag des Aushaltens als einen Gewinn für die Sache der Revolution bezeichnet und gedroht, jeden Abtrünnigen erschießen zu lassen und Moskau eher in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, als kampflos das Feld zu räumen.

Jedenfalls ist sowohl die Menge wie der Inhalt der in diesen Tagen in Moskau umlaufenden Gerüchte für die kritische Atmosphäre des Augenblicks symptomatisch. Es wird behauptet, daß eine Anzahl Mitglieder der Räteregierung Moskau in den letzten Tagen verlassen habe. Tatsächlich haben in den letzten Tagen viele Einwohner Moskau verlassen. Ein Dekret der Regierung fordert alle, die in der Stadt keine ständige Beschäftigung haben, auf, sich aus Moskau zu entfernen. Auch ist es Tatsache, daß die oberen Stockwerke der großen Geschäftshäuser an der Lubjanka und ihren Nebenstraßen, eines hochgelegenen Viertels, von wo aus sich die gesamte Stadt gut übersehen und beherrschen lässt, in den letzten Tagen auf Befehl der „Außerordentlichen Kommission“ von ihren Bewohnern geräumt und mit Kriegsgerät für irgendwelche strategischen Zwecke ausgerüstet wurden. Die Räteregierung hat in den letzten Wochen in fast allen Städten und Dörfern die Bewaffnung des Proletariats, d. h. die Versorgung der Arbeiter und Bauern mit Gewehren, Maschinengewehren, Handgranaten und Munition, systematisch durchgeführt. Arbeiter und Arbeiterinnen, mit dem Gewehr auf der Schulter, marschieren in Kolonnen zu ihren Übungen durch die Straße. Moskau ist des Nachts ohne Straßenbeleuchtung, eine dunkle Häuserwüste unter dem sommerlichen Sternenhimmel. Nur der große, weithin sichtbare Kremlpalast, durch Bogenlampen von außen taghell beleuchtet, ruht wie eine einsame weiße Insel in diesem Meer von Dunkelheit. Die Gerüchte behaupten natürlich längst, der gesamte Kreml sei unterminiert und werde im Falle eines Aufstandes in die Luft gesprengt.

Die russische Öffentlichkeit versteht es, ihre Erzählungen mit den interessantesten Einzelheiten auszuschmücken. Sie zitiert mit dem Talent eines geborenen Dramatikers mühelos ganze Dialoge, wie beispielsweise die apokryphen Auseinandersetzungen zwischen Lenin und Trotzki oder eine angebliche Unterredung zwischen Lenin und Helfferich, in der der letztere den Bolschewik! den militärischen Beistand Deutschlands gegen die Tschecho-Slowaken habe aufnötigen wollen, was aber von Lenin mit stolzen Worten abgelehnt worden sei. Die Wirklichkeit ist nüchterner, Dr. Helfferich befand sich nur acht Tage auf seinem Posten in Moskau und hat Lenin in dieser Zeit überhaupt nicht gesehen. Seit dem Attentat auf den Grafen Mirbach waren für die Sicherheit der deutschen Gesandtschaft so umfassende Schutzmaßnahmen nötig geworden, daß der Zustand beinahe einer Internierung gleichkam. Es war für jeden, der in den letzten Wochen nach Moskau kam, nicht schwer, sich von der Unhaltbarkeit der augenblicklichen Verhältnisse, die ein gedeihliches Arbeiten zwischen den Organen der Räteregierung und den Vertretern einer fremden Macht unmöglich machten, zu überzeugen. Sichtlich besteht bei den leitenden Männern der Räteregierung der beste Wille, die Schwierigkeiten und Hindernisse, die der Ausführung des Brester Friedensvertrages auf Schritt und Tritt entgegenstehen, hinwegzuräumen. Der Kriegszustand gegen die Entente lässt es der Räteregierung ohnehin als wünschenswert erscheinen, die Reibungsmöglichkeiten mit Deutschland zu verringern. Trotz alledem kamen selbst die einfachsten Angelegenheiten des täglichen Geschäftsverkehrs nicht vorwärts. Somit ist die Verlegung der gesamten deutschen Gesandtschaft nach Petersburg, die unter anderen Verhältnissen eine enorme Erschwerung des geschäftlichen Verkehrs mit der Moskauer Regierung zur Folge gehabt haben würde, fast ohne Bedeutung. In Sowjetkreisen hat man zwar anfänglich den plötzlichen Entschluss der deutschen Mission, Moskau zu verlassen, nicht ohne Bestürzung aufgenommen. Aber die innere Notwendigkeit dieses Schrittes lag zu sehr auf der Hand, als daß man nicht aufgeatmet hätte, auf diese einfache Weise der schweren Verantwortung für das Gelingen etwaiger weiterer Attentatsversuche enthoben zu sein. Das Verhalten der Räteregierung war korrekt. Radek, der als Vorsteher der mitteleuropäischen Abteilung des Kommissariats für auswärtige Angelegenheiten mit persönlichen Vollmachten Lenins bereits seit einigen Tagen die Bürgschaft für den Schutz der Gesandtschaft übernommen hatte, entledigte sich seiner Aufgabe auch bei der Abreise der Mission in einer umsichtigen und entschlossenen Weise. Radek war anfänglich beauftragt, sich zugleich mit der Gesandtschaft nach Petersburg zu begeben, um von dort aus die Verbindung mit der Moskauer Regierung aufrechtzuerhalten. Er ist statt dessen am Mittwoch auf die Nachricht, daß der Zug des am Dienstagabend nach Orscha abgereisten deutschen Gesandten unterwegs aufgehalten worden sei, dem Gesandten in einem Sonderzuge nachgereist. Inzwischen ist die Nachricht eingetroffen, daß der Zug die sichere Grenze passiert hat. In Moskauer Sowjetkreisen waren am Mittwoch Nachrichten über die unsichere Haltung eines Teiles der in Orscha liegenden Sowjettruppen eingelaufen. Gestern haben Schießereien zwischen einzelnen Abteilungen der russischen Truppen bei Orscha stattgefunden.

Die Kräfte der Gegenrevolution, die Widerstände aller Art gegen die Gewalt der Räte, die Unzufriedenheit weiter Kreise der Bevölkerung, auch der unteren Klassen, sind in den letzten Monaten sichtlich gewachsen. Handel und Wandel sind zur Zeit so gut wie ganz ins Stocken geraten. Die Ernährungsschwierigkeiten sind unerhört. Am schlimmsten geht es hier wie auch in anderen Ländern dem kleinen Beamtentum, dem Mittelstande der kleinen Geschäftsleute, außerdem aber auch den ehemaligen begüterten Offiziers- und Beamtenfamilien. Viele von ihnen bestreiten jetzt ihren Lebensunterhalt nur noch durch den Verkauf von Kunstgegenständen und Möbeln. Auf dem Lande wie in den Städten, überall dasselbe Bild. Die einzelnen Bevölkerungskreise stehen einander mit einem Misstrauen, einem stillen Hass gegenüber, der immer weiter hin wegführt von jenem Himmel auf Erden, den die Bolschewiki in ihrem sozialistischen Staat verheißen hatten. Die Herrschaft der Räteregierung wird, wenn sie nächstens enden sollte, von dem alten Russland nach neun Monaten nur Ruinen übrig lassen. Ihre neu geschaffenen Verwaltungsorganisationen haben noch keine Zeit gehabt, Positives zu leisten. Nur nach außen besteht einigermaßen ein Anschein von Ordnung. Straßenraub und Überfälle sind in der letzten Zeit seltener geworden. Um so zahlreicher aber sind die Fälle von gesetzlichen Eingriffen gegen das Eigentum. Die Nerven der Bevölkerung sind krank und verbraucht. Zweifellos vergrößert die Räteregierung ihre inneren Schwierigkeiten dadurch, daß sie hinter ihre agitatorische Tätigkeit die Erfordernisse selbst einer nur primitiven Weiterführung des Wirtschaftslebens weit zurückstellt, und daß sie es nicht verstanden hat, auch nur einen Teil der Intelligenz auf ihre Seite zu ziehen. Im Gegenteil. Wenn bisher ein Gemeinsamkeitsgefühl der bürgerlichen Kreise in Russland nicht bestanden hat — jetzt ist es im Entstehen.

Über eine kommende andere Regierung ist es überflüssig, Vermutungen zu äußern. Es mag sein, daß die Männer schon vorhanden sind, die den Mut haben werden, als die ersten das Erbe der Bolschewiki anzutreten und eine neue Regierung zu bilden. Vielleicht ist bereits in der sibirischen Regierung, die sich scheinbar aus Vertretern aller nicht kommunistischen Parteien zusammensetzt, das Urbild dieser neuen russischen Regierung vorhanden. Die Orientierung aller als gegenrevolutionär bezeichneten Kreise scheint im Augenblick ausschließlich darauf hinauszugehen, die Bolschewiki zu stürzen. Was das Gebiet der äußeren Politik anlangt, so wird keine verantwortliche Regierung in Russland, aus welchem Lager sie auch kommen möge, imstande sein, eine andere als eine neutrale Politik zu führen. Jede neue Regierung in Russland wird auf lange Zeit durch die inneren Aufgaben vollkommen gebunden sein. Sie wird, mindestens im Anfang, mit dem bewaffneten Widerstand eines Teiles der Massen zu rechnen haben, in denen die Saat der Bolschewiki Wurzel gefaßt hat, und hart kämpfen müssen.

Die Entente betrachtet die Unterstützung der Gegenrevolution in Russland als ihre besondere Aufgabe. Sie glaubt eine neue Front gegen Deutschland schaffen zu können. Diese Berechnung wird sich als ein Irrtum ersten Ranges erweisen. Russland will nichts als Ruhe. Deutschland gibt ihm keinen Anlass zu einer Wiederaufnahme des Krieges, und es wird ihm diesen Anlass nicht geben. Das russische Volk in der elementaren Macht seines Ruhebedürfnisses kennt die alten Losungen eines Buchanan und Kerenski viel zu gut, um sich noch einmal als „kriegführender Staat“ am Kragen packen und ins Feuer schicken zu lassen. Die Bolschewikiregierung wollte einmal der Welt den allgemeinen Frieden bringen. Ihre Versuche, den Frieden durch die allgemeine Revolution herbeizuführen, waren bis jetzt umsonst. Für einen Frieden ohne Revolutionen hatte diese Regierung von Agitatoren kein Interesse. So konnten unter der Herrschaft der Räte die Wunden nicht heilen, die der Krieg Russland geschlagen hat. Vielleicht aber wird die jetzige Zeit der Wirren gerade in Russland die neuen Männer und die neuen Gedanken gebären, die imstande sind, den allgemeinen Frieden herbeizuführen, so wie einst die Gedanken und die Männer des vergangenen, niemals wiederkehrenden Russland vor 1914 den Krieg über die Welt heraufgeführt haben.*)

*) Ich würde heute, wo die Frage der Urheberschaft am Weltkriege vielen Deutschen aufs neue zum Gegenstand der leidenschaftlichsten Forschung geworden ist, diesen Satz nicht mit derselben überzeugten Ruhe niederschreiben können, wie damals im August 1918; ich erwarte auch die neuen Männer und die neuen Gedanken nicht mehr von Russland allein. Der Verf.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau