Zustände

Trotz der strengen Bewachung der Städte, die durch Milizen aufrecht erhalten wird, häuft sich in letzter Zeit die Zahl der Raubanfälle, sowohl in Moskau wie an anderen Orten Russlands. Die Zustände erinnern vielfach an die Zeit vor dem vorigen Anarchistenaufstand im Dezember. So drangen am 15. August fünf mit Revolvern bewaffnete Männer, die in einem Auto vorfuhren, in die an der Schmiedebrücke, einem der belebtesten Punkte Moskaus, gelegene Auszahlungsstelle der Arbeitslosenunterstützung, bemächtigten sich der Kasse, deren Inhalt 400.000 Rubel betrug, und fuhren unbehelligt davon. Ein ähnlicher Überfall wurde auf die Zentralkasse der Genossenschaften (Kooperativen) unternommen. Hier fielen den Räubern fünf Millionen Rubel in die Hände. Vor einigen Tagen wurde die Kasse der Kursker Eisenbahn mit etwa anderthalb Millionen Bargeld, die auf einem Lastwagen nach der Hauptkasse geführt werden sollte, mitten in der Stadt von sechs bewaffneten Männern geraubt. Bei diesem Überfall wurde der den Transport begleitende Milizsoldat durch einen Revolverschuss getötet, der Kutscher verwundet. Die Räuber luden in der allgemeinen Verwirrung die Geldkisten auf ein Automobil, warfen unter das Publikum eine Sprengbombe, die eine Anzahl Opfer forderte, und entkamen. Im Kriegskommissariat des Arbeiterviertels Präßnenskaja wurde in der Nacht auf den 19. August ein feuersicherer Schrank erbrochen und geleert. Sogar die Parteikasse der linken Sozialrevolutionäre, die nach dem Attentat vom 6. Juli bei einem Vertrauensmann der Partei in Sicherheit gebracht wurde, ist nicht verschont geblieben, Sie ist dieser Tage samt dem vorzüglichen Vertrauensmann in die Ukraine verschwunden. Besonders häuft sich der Raub von Automobilen. Die Räuber suchen sich für diese Unternehmungen die lebhaftesten Straßen der Stadt aus.

Mit dem Gefühl der zunehmenden Unsicherheit wächst in der Bevölkerung der russischen Hauptstadt zugleich das Gefühl einer täglich schlimmeren Lage auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung. Vorige Woche konnte in den meisten Stadtvierteln Moskaus die tägliche Ration von einem Achtel Pfund Brot nicht mehr verteilt werden und ebensowenig die als Ersatz versprochene Grütze. Der Preis für das Pud [= 16,38 kg] Roggenmehl ist jetzt auf die ungeheuerliche Höhe von 500 Rubel gestiegen. Mehrere Waggons mit Getreide, die dieser Tage an einem Moskauer Bahnhof für die Lebensmittelverwaltung eintrafen, wurden in der Nacht von Eisenbahnbeamten abgehängt und noch in derselben Nacht an die Bewohner des nächstgelegenen Stadtviertels verkauft. In vielen Familien herrscht einfach der Hunger. Ein Pfund schlechtes, schwarzes Brot kostet jetzt 12 Rubel, das Pfund Zucker kostet 28 Rubel. Fleisch und Fleischwaren sind entsprechend gestiegen. So kostet Wurst je nach der Güte zwischen 18 und 28 Rubel das Pfund. Käse ist seit Wochen nicht mehr aufzutreiben. Für Fische, Konserven, Gemüse gelten entsprechend hohe Preise. An die Stelle des Brotes tritt überall die Kartoffel. Auf den Feldern in der Nähe Moskaus sind die Kartoffeln bereits überall eingeerntet und verzehrt. Ganze Expeditionen von Familien wandern auf das Land, um sich einen Sack Kartoffeln zu verschaffen. Das russische Pfund Kartoffeln wird mit zwei Rubeln bezahlt. In den Speisehäusern kostet eine Kartoffel, statt des Brotes als Zuspeise gegeben, einen Rubel. Man verheißt allerdings in den Kreisen der Regierung eine entschiedene Besserung der jetzigen schweren Lage in den nächsten Wochen. Verpflegungskommandos, bestehend aus siebzig Mann mit Maschinengewehren, werden auf das Land gesandt, um Lebensmittel zu requirieren. Im besten Fall kann aber die Abhilfe nur für die nächste Zeit gelten. Ich sprach dieser Tage den früheren Besitzer einer großen Moskauer Druckerei. Die Firma arbeitet noch, allerdings sind ihre früheren ausgezeichneten Leistungen auf dem Gebiete des Kunstdrucks unmöglich geworden; es werden nur noch Broschüren, Zeitungen und Plakate hergestellt. Die Zahl der Arbeiter hat sich bedeutend verringert. Das Lohnbudget der Firma belief sich noch vor etwa einem Jahr auf 48.000 Rubel im Monat, es beläuft sich jetzt auf 593.000 Rubel. Der Inhaber eines Teegeschäfts erzählte mir, daß die normale aus Staniol und Papier bestehende Emballage für ein Pfund Tee, die früher 5 Kopeken kostete, jetzt auf 2 Rubel zu stehen kommt. Die Ersetzung einer der großen zerstörten Fensterscheiben im Hause der deutschen Gesandtschaft kostete 15.000 Rubel. Ein Herrenanzug ist nicht unter 1.600 Rubel zu haben. Wie in den kommenden kalten Monaten die Heizungsfrage gelöst werden soll, ist unklar; ein Kommissar erklärte mir dieser Tage: „Wir werden im nächsten Winter mit Klavieren heizen.“ Auf den Gütern fehlt es nicht an Holz, wohl aber an Arbeitskräften, die das Fällen, Zerkleinern und den Abtransport des Holzes in die Städte besorgen. Charakteristisch ist eine Zeitungsmeldung, daß die Zahl der Kinder in Moskau seit dem vorigen April um 40 v. H. zurückgegangen ist. Als Ursache wird die Verlegung der meisten Asyle auf das Land und die Abreise vieler Familien angegeben.


Trotz aller dieser Umstände, die geeignet scheinen, ein recht düsteres Gesamtbild der Lage in Moskau hervorzurufen, zeigt das Straßenleben keine Veränderung. Inzwischen behauptet die „Außerordentliche Kommission“, vielleicht um ihre Berechtigung nachzuweisen, einen zum 20. August geplant gewesenen Aufstand organisierter Offiziere unterdrückt zu haben. Die Festnahme der 15.000 Offiziere, die sechs Tage gefangengehalten, dann aber wieder entlassen wurden, erklärt sich nachträglich als eine dieser Maßnahmen, um eine Anzahl der mutmaßlichen Führer dieses Aufstandes in die Hände zu bekommen. Ebenso heißt es, daß die Räumung der hochgelegenen Stockwerke in den dem Kreml benachbarten Stadtvierteln nur geschehen sei, um dem Auf Stands versuch vorzubeugen. Faktisch ist Moskau jetzt fester als je in der Hand der Räteregierung. Irgendwelche Überraschungen, etwa durch einen plötzlichen Vorstoß der Tschecho-Slowaken, erscheinen nach der jetzigen Lage an den Fronten als ausgeschlossen. Die Lage der Tschecho-Slowaken in Sibirien ist schwierig, und in Samara, dem Hauptquartier der Bewegung, herrscht ein Zwist zwischen der dort eröffneten, meist aus radikalen Sozialrevolutionären bestehenden Rumpfsobranje und der Omsker Sibirischen Regierung. Die Tschecho-Slowaken gelten als kriegsmüde. Sie stellen außerdem nur einen bescheidenen Teil der gegen die Räteregierung kämpfenden Armee dar, deren Hauptkräfte aus russischen Elementen gebildet werden. Im übrigen sind aus der Omsker Regierung neuerdings sämtliche Sozialrevolutionäre ausgetreten. Faktisch herrscht in Russland der Kampf aller gegen alle. Im Norden wie an der Wolga, im Dongebiet wie in Sibirien stehen Reste ehemaliger Heeresverbände einander feindlich gegenüber, umgehen einander, besetzen Städte, verlassen sie wieder, liefern einander Gefechte, gehen auch gelegentlich von der einen auf die andere Seite. Es scheint, auch östlich der Wolgafront herrscht jetzt dieselbe politische und faktische Zersetzung wie im übrigen alten Russland. Die Süduralregierung, die Omsker Regierung, die Charbiner Regierung und die Regierung in Samara, die sich anfangs zu einheitlichem Handeln zusammengeschlossen hatten, gehen immer mehr ihre eigenen Wege. Die Rückwirkung dieses Zustandes auf die Truppen, die gegen Moskau kämpfen sollen, bleibt nicht aus.

Trotz der schwierigen Lage im Innern, trotz der sich mehrenden Aufstände in den Gouvernements und trotzdem die Wiederkehr der deutschen Gesandtschaft nach Moskau sich verzögert, trägt man in Sowjetkreisen eine zuversichtliche Stimmung zur Schau. Gelingt es der Sowjetregierung und den energischen Maßnahmen Trotzkis tatsächlich, die tschocho-slowakische Gefahr zu beschwören, so ist die Existenz der Bolschewikiherrschaft wieder einmal gesichert, und die Bewohner Moskaus werden sich mit den örtlichen Verhältnissen, so wie sie nun einmal sind, abzufinden haben. Ob sie sich im Laufe der nächsten Wochen bessern oder sich verschlechtern werden, ist schwer zu sagen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau