Der Jahrestag

Über Moskau liegen die Nebel des beginnenden Winters. Am 7. November begeht die Sowjetregierung den Gedenktag der vorjährigen Oktoberrevolution mit festlichen Veranstaltungen in allen Städten. In der Hauptstadt haben diese Festlichkeiten heute mit einer öffentlichen Versammlung des Moskauer Rates zu Ehren der Revolution in Österreich und Ungarn begonnen. Vom Balkon des früheren Generalgouverneurhauses sprach Lenin zur Menge. Die Zeitungen bringen die Nachrichten aus dem Südwesten mit großen Überschriften. Am 5. November beginnt im ehemaligen Kaiserlichen Theater der 6. Allrussische Rätekongress. Auf den öffentlichen Plätzen werden Rednertribünen gezimmert. Einige Bildhauer sind mit ihren Aufträgen fertig geworden: in Moskau allein wird im Laufe dieser Woche nicht weniger als ein Dutzend neuer Denkmäler enthüllt werden, darunter ein Denkmal Heines. Mit der Enthüllung der Denkmäler wurde heute der Anfang gemacht. Die Dichter werden sich künftig daran gewöhnen müssen, gruppenweise in die steinerne Unsterblichkeit einzutreten. Man enthüllte die Standbilder des ukrainischen Dichters Schewtschenko und der beiden aus Woronesh gebürtigen Volksdichter Koltzow und Nikitin. Sie haben ihren Platz in den Anlagen neben dem roten Backsteingebäude der ehemaligen Stadtverwaltung, im Hintergrunde des Theaterplatzes. Man könnte sich für die Poeten einen schöngeistigeren Lobredner denken als den derben Agitator Kamenew. Aber viel russisches Volk war nicht mit. Und von diesen Anlagen zog die kleine Volksmenge mit ihren Kränzen und roten Bannern in den unweit gelegenen Alexander-Park, der jetzt den Wallgraben vor den altersgelben Mauern des Kreml ausfüllt. Hier waren Abteilungen Moskauer Regimenter mit ihren Musikkapellen im Viereck um ein Postament versammelt. Bis in die Aste der entlaubten Bäume saßen die Zuschauer; andere standen zwischen den Zinnen des Kremls, über der Menge tummelten sich Schwärme von Dohlen, die an den dunkeln Abenden mit ihrem Gekrächz die alten Türme umkreisen. Als die Hülle fiel, stand über der Menge die Bildsäule des Bürgers Robespierre mit einer harten Grimasse. Kamenew sprach abermals. Nach ihm das ehemalige Mitglied der französischen Militärmission in Russland, der Hauptmann Sadoul, der sich in seinen dieser Tage auf Betreiben der Sowjetregierung in der Schweiz veröffentlichten Tagebüchern als ein Freund der russischen kommunistischen Revolution bekannte, und schließlich, mit ihrer festen Männerstimme, Frau Kollontai. Herr Sadoul ergriff sogar noch einmal das Wort, um seiner Lobrede auf Robespierre eine Verteidigung des Terrors als Mittel zur Rettung der Revolution hinzuzufügen.

In der inneren Stadt ist Leben und Bewegung. Marschierende Truppen, Handwerker, die mit Hilfe von Feuerwehrleitern schwarz-gelb-rote Transparente mit den Namen der Führer der Internationalen an den Häusern befestigen. Man liest in grotesker Keilschrift die Namen Adler, Liebknecht, Maclean, Debs, Namen von Italienern, Franzosen, Spaniern aus den Tageskämpfen der Weltrevolution. Die Zeitungen verbreiten das Programm des 7. November: in allen Speiselokalen, in geräumten Privathäusern, wird an diesem Tage an jedermann ein Mittagessen umsonst verabreicht; in den Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen gibt es Extraportionen; die Inhaber der Lebensmittelkarten erhalten zur Feier des Tages zwei Pfund Brot, ein halbes Pfund Butter, außerdem Süßigkeiten; die Theater geben Festvorstellungen bei freiem Eintritt; den Schulen werden Konzerte geboten; abends überall Tanzmusik ....


Und dann? Der Rausch dieser Tage, das Volksfest, das mit einem beträchtlichen Aufwand an öffentlichen Geldern nach Art des französischen 14. Juli begangen werden soll, die zur Schau getragene Begeisterung und Freigebigkeit kann über den Ernst des Augenblicks nicht täuschen. Die aus einigen Hauptstädten des unglücklichen Europa nach Moskau gelangenden Drahtnachrichten mit ihrer Steigerung von Sensationen erhellen zwar die ziemlich dunkle Stimmung mancher Kreise. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der täglich zunehmenden Verteuerung und Verödung des Lebens, der allgemeine Widerstand gegen die neuen Einberufungen und die geplanten rigorosen Extrasteuern, die dem Bürgertum und der Bauernschaft mit einem Schlage nicht weniger als zehn Milliarden abnehmen sollen, hat in den letzten Wochen begonnen, sich in vereinzelten Versammlungen und Umzügen Luft zu machen. Auf einer Reise nach Twer fand ich dieser Tage die Züge und die Wartesäle von lungernden Soldaten überfüllt. Es waren Bilder, wie man sie in Russland seit der Auflösung der Front im Sommer 1917 nicht mehr gesehen hatte. Da der Masse die großen Versammlungssäle versagt sind, so sind jetzt die Kinos zu Schauplätzen kleiner, mehr oder weniger bemerkter Kundgebungen geworden. Es fehlt in Moskau wie in Petersburg — von den Provinzstädten ganz zu schweigen — an Naphtha und Brennholz. Die Wohnungen sind kalt und halbdunkel, die Trambahnen verkehren nur noch zu gewissen Tagesstunden. Die Fabriken stehen still bis auf wenige Ausnahmen. Die Bauern verweigern die Hergabe von Getreide, essen sich lieber doppelt satt und schlachten eher ihr letztes Vieh, nur um es nicht requirieren zu lassen. Der innere Feind im Lande beginnt sich zu rühren. In Petersburg scheinen aus unbekannten Quellen beträchtliche Gelder umzulaufen. Eine gegen die Sowjetregierung gerichtete Kundgebung von Matrosen, die am 14. Oktober auf dem Newski-Prospekt stattfand, wurde zwar durch ein entschlossenes Eingreifen rasch beendigt. Die Blätter bestätigen, daß bei dieser Gelegenheit 19 Matrosen verhaftet wurden, von denen die Außerordentliche Kommission 11 erschießen ließ. Die übrigen unzufriedenen Matrosen, sie gehören angeblich zur Partei der linken Sozialrevolutionäre, wurden schon am Tage nach der Kundgebung von der Sowjetregierung zu einer Vorstellung in das Marientheater eingeladen. Kein Geringerer als Schaljapin sang ihnen an diesem Abend die Versöhnungsarie. Trotz der schwierigen Lebensmittelverhältnisse und der ständig vor sich gehenden Requisition von Wohnungen, die in der von der Hälfte ihrer Bevölkerung verlassenen Stadt nicht etwa durch Wohnungsnot gerechtfertigt ist, herrscht in Petersburg äußerlich vollkommene Ruhe. Dennoch erörtert man vielfach den politischen Abfall der Nordkommune von der Moskauer Sowjetregierung als eine nahe Möglichkeit. Hartnäckige Gerüchte über ein bevorstehendes militärisches Eingreifen Schwedens, das sich bei England der Rückendeckung versichert habe, gegen Petersburg oder gegen Reval, sind sowohl in Petersburg wie sogar in Moskau verbreitet, „Utro Moskwü“ schreibt heute von einem Zusammengehen der finnischen Armee mit den russischen Truppen der Nordarmee. Über eine unmittelbar bevorstehende Intervention der auswärtigen Mächte gegen die Sowjetregierung werden so von allen Seiten Gerüchte umhergetragen. Die Moskauer Sowjetblätter veröffentlichten dieser Tage die Aufrufe einer in der Gegend von Pskow in der Bildung begriffenen, von dem Generalmajor Nikiforow befehligten und angeblich mit deutschen Waffen ausgerüsteten russischen Nordarmee, die sich bereitmache, gegen die vertragsmäßige Besetzung des Pleskauer Gebietes Widerstand zu leisten und nach Petersburg zu marschieren. In Petersburg eingetroffene Flüchtlinge wissen bereits von Zusammenstößen zwischen „weißen“ und „roten“ Abteilungen in der Nähe von Luga zu berichten. Bei meiner Anwesenheit in Pleskau vor acht Tagen war ich zufällig Zeuge des Einzuges einer aus mehreren hundert Mann bestehenden Abteilung von Überläufern der Roten Armee, die sich mit ihren Pferden und einem mit allerhand Habseligkeiten bepackten Feldgeschütz in die dortige Kaserne am Kochanowski-Boulevard begaben. Um die rote Front zu festigen, ist inzwischen Swerdlow aus Moskau in die Gegend von Toroschino und Luga abgereist.

Nicht besser als die Nachrichten, die der Sowjetregierung von den Grenzen der Nordkommune zufließen, sind die Meldungen von den verschiedenen alten Fronten. An der Murmanfront ist Winterruhe eingetreten. Auch die Wolgafront ist ohne größere Ereignisse, aber in den riesigen Gebieten, die östlich des Stromes liegen, vollzieht sich der Aufmarsch der Amerikaner und Japaner. Ein Mitglied der Sowjetregierung bestätigte mir die Nachricht, daß sich bereits die gesamte sibirische Bahn in den Händen amerikanischer Ingenieure befinde, daß der amerikanische Botschafter in Tokio, Morris, vor kurzem in Harbin eingetroffen sei, daß sich der amerikanische Bevollmächtigte Elliot in Ufa oder Jekaterinburg aufhalte, daß japanische Divisionen hinter dem Baikal stehen und ihre Spitze bereits in Irkutsk. Gelegentliche Zerstörungen der Geleise und Scharmützel mit den bolschewistischen Truppen in Sibirien vermögen an der Tatsache dieses planmäßigen Aufmarsches nichts zu ändern. In England fordert die konservative Presse den Vorstoß der amerikanisch-japanischen Entente noch in diesem Winter; die liberalen Blätter, die vor einem Abenteuer warnen, stellen den Vorstoß für das Frühjahr in Aussicht. Nach einer dieser Tage gemeldeten Interpellation zu urteilen, haben zwar die Mitglieder des englischen Parlaments gegenwärtig alle Hände voll zu tun, um einer „bolschewistischen“, jedenfalls gegen die Intervention in Russland gerichteten Propaganda unter der englischen Arbeiterschaft entgegenzuarbeiten, doch sind die Moskauer Politiker Realisten genug, um sich nicht auf das Durchdringen einer Strömung in England zu verlassen, die ihnen freilich sehr gelegen käme, solange der Druck der Entente auf die Murman-Wolga-Fronten noch besteht. Sie erwarten eine Erleichterung von diesem Druck zunächst nur von der Zersetzung der Tschecho-Slowakenarmee. Bekanntlich haben sie an diese den Vorschlag gerichtet, die sämtlichen tschecho-slowakischen Regimenter einzeln, aber mit voller Kriegsausrüstung, nach Böhmen und Kroatien durch das Gebiet der Sowjetrepublik reisen zu lassen.

Am bedrohlichsten erscheint den Führern der Sowjetregierung die Lage im Süden. „Iswestija“ veröffentlichte dieser Tage eine eigentümliche Meldung aus Kiew. Diese besagte, daß vor kurzem die Donregierung gemeinsam mit der Regierung des Kubangebietes mit Vertretern der Entente in Verhandlungen getreten sei und danach, auf einen englischen Vorschlag hin, an die deutsche Oberste Heeresleitung den Vorschlag gerichtet habe, gemeinsam mit allen anderen „auf dem Boden des Gesetzes und der Ordnung“ stehenden Regierungen der Welt den Kampf gegen die Sowjetrepublik aufzunehmen, und zwar durch Unterstützung der freiwilligen Astrachaner Armee, der in der Ukraine aufgestellten „ Südarmee“ und der um Pleskau versammelten „Nordarmee“. Was von dieser in bestimmter Form gebrachten Meldung, die sich an den Namen des Generals Krasnow knüpft, zu halten ist, sei dahingestellt. Die damit aufgetauchte Kombination eines gemeinsamen Interesses aller „auf dem Boden des Gesetzes und der Ordnung stehenden Staaten“ an der Bekämpfung des moskowitischen Bolschewismus bestätigt nur, was ich schon am 18. August über die Unmöglichkeit, in Russland eine neue Ostfront gegen Deutschland aufzurichten, sowie über die notgedrungen neutrale Politik jeder etwaigen neuen Regierung in Russland, geschrieben habe.

Die geschilderten Schwierigkeiten der äußeren und der inneren Lage werden von den einsichtigen Mitgliedern der Sowjetregierung zugegeben. Dennoch vermögen sie den zur Schau getragenen Enthusiasmus, die sanguinischen Hoffnungen dieser Leute auf den Ausbruch der Weltrevolution nicht abzuschwächen. Lenin sagte dieser Tage: „Wir haben jetzt hohen Wellengang. Wir befinden uns vielleicht morgen auf dem Kamm der Welle, und übermorgen im tiefsten Tale; aber untergehen können wir jetzt nicht mehr.“ Die Note der Sowjetregierung an Wilson, die nach dem Zeugnis der „Times“ einen starken Eindruck in Amerika hervorgerufen hat, die am Abend des 2. November in deutscher, ungarischer, tschechischer und kroatischer Sprache an das Arbeitsvolk der österreichisch-ungarischen Länder drahtlos ausgesandten Aufrufe, das am 3. November von der Sowjetregierung an die Ententeregierungen gerichtete Friedensangebot, die Sprache der Sowjetpresse gegenüber dem demokratischen Deutschland unter der Regierung des Prinzen Max von Baden, — alle diese Äußerungen verraten den herausfordernden Geist der Moskauer Agitatoren. Sie haben kritischere Augenblicke überstanden. Sie rechnen mit der immer breiter werdenden revolutionären Front in Europa, mit der Uneinigkeit und Verbissenheit der Regierungen, mit der Dumpfheit und Stutzigkeit der bürgerlichen Volksmassen. So sehen sie selbst dem drohenden konzentrischen Angriff von außen mit entschlossen funkelndem Auge entgegen, bereit, wenn der Zusammenbruch der Sowjetrepublik sich nicht vermeiden lassen sollte, die bisherigen Fronten im Norden und Osten einfach zusammenbrechen zu lassen oder aufzulösen, das ausgesogene Moskau preiszugeben und sich mit zusammengeraffter Kraft nach Polen oder in die Ukraine durchzuschlagen. Es mag sogar manchem von ihnen, der schon lange genug das alte Nomadenleben mit der Moskauer Sesshaftigkeit vertauschte, verlockend genug erscheinen, sich in den bisher geschonten, kornreichen Gebieten der Ukraine oder Polens festzusetzen und den Zug durch die Welt aufzunehmen. In Wien hat die Revolution begonnen. Man kann sich im Flugzeug nach Budapest oder nach Wien begeben. Nach der Anschauungseiner Adepten ist der Bolschewismus nicht an Petersburg oder Moskau, überhaupt nicht an ein bestimmtes Land gebunden. Er muss bereit sein, auf der europäischen Landkarte gegen die Schachzüge des Kapitalismus hin und her zu rochieren.

Es mag unerörtert bleiben, ob die Voraussetzungen dieser kühnen Rechnung stimmen. Sicher ist nur, daß diese Rechnung mit jedem Tag der weiteren Dauer des Krieges und der Unruhe in Westeuropa eine breitere Grundlage findet. Dass ein den Mittelmächten aufgezwungener „Brester“ Friede dieser Rechnung die weitesten Perspektiven geben würde, auch das steht für jeden Betrachter, der den Lauf der Dinge in Russland seit den ersten Anfängen der Revolution verfolgt hat, außer Frage.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau