Proletkult

Dieses neue Schlagwort des bolschewistischen Russland bedeutet proletarische Kultur. So zweifelhaft sein Begriff auch sein mag, so ist es schon zu einer jener offiziellen Hieroglyphen geworden, die umständliche Ausdrücke ersetzen. Man bezeichnet den Rat der Volkskommissare mit den Silben „Sownarkom“, den Obersten Volkswirtschaftsrat mit „Sownarchos“, die „Räte der Arbeiter-, Bauern-, Armee- und Kosakendeputierten“ mit dem komischen Wort „Sowdep“, die Verwaltungsstelle der Wasserwege heißt“ Glaw-Wod“, die Papierverteilungszentrale“ Glaw-Bum“. Das jetzige Russland hat sich mit diesen Afrikanismen, die an die Wumba, Zeg und Ohla bei uns zu Hause erinnern, anderen fortgeschrittenen Nationen entschieden gleichgestellt.

Wenn es eine Tätigkeit der Massen und eine Seele der Massen gibt, so muss es, trotz Jakob Burckhardt, allerdings auch eine Kultur der Massen geben. Und wo es sie nicht gibt, da muss sie sich gründen lassen.


Proletkult ist eine Gründung des Kommissariats für Volksaufklärung. In ihm steckt ein Teil des Erziehungsproblems, das in jede Revolution eingeschlossen ist. Tatsächlich hat dieses Kommissariat unter seinen sechs oder sieben Abteilungen, deren neue, sehr zahlreiche, ein wenig despotische und zerfahrene Bureaukratie sich in den Sälen eines ehemaligen kaiserlichen Lyzeums in Moskau einrichtete, eine Abteilung, die die in den Städten und auf dem Lande gegründeten Volksbildungsausschüsse unter dem Namen „Proletkult“ zusammenfasst. Es handelt sich hier nicht nur um eine usurpatorische Vereinigung der Ansätze von Kunst und Kunstpflege, die großenteils schon vor dem Kriege in Russland vorhanden waren, sondern auch um den Willen, diese Ansätze im revolutionären Sinn weiter zu treiben. Es ist kein Zufall, daß die Richtung dieser sozusagen offiziellen Kunst in Russland futuristisch ist und den Satz „Religion ist Opium für das Volk“ als steinerne Inschrift weithin sichtbar an die Stelle eines berühmten Heiligenbildes beim Moskauer Kreml gesetzt hat.

Es ist in Russland viel von den großen Zielen der Menschheit die Rede, aber im Rat der Volkskommissare gibt es nur wenige, die durch die derbe Art der Verwirklichung des Kommunismus nicht zunächst hartnäckig dazu beitrügen, das Leben der Menschen bitter zu machen. Als im November 1917 die Kommissariate der Arbeiter- und Bauernrepublik das Erbe der alten Ministerien übernahmen, teilte Lenin dem Literaten A. Lunatscharski die Volksaufklärung zu. Diesem Kommissariat obliegt die Auseinandersetzung des Bolschewismus mit der Kirche und mit der Religion überhaupt; der Aufbau eines neuen Schulwesens, und nicht nur das, sondern auch die Durchführung eines neuen pädagogischen Systems durch die Einheitsschule und die Fachschulen; der Schutz der Denkmäler und der Altertümer wie die Verwaltung der Museen, und noch mehr, auch die praktische Einführung der Kunst in die Massen. Diese Aufgaben sind in Russland schwieriger als in irgendeinem anderen Lande, soweit es sich darum handelt, mitten in einer bedrohten äußeren Lage, mitten in Hungersnot und Klassenkämpfen, unersetzliche Gemälde der niederländischen Schule, chinesische Vasen, Heiligenbilder aus dem sechzehnten Jahrhundert vor den Aktionen erregter Fabrikausschüsse, Rotgardisten, Matrosenabteilungen, oder auch der Außerordentlichen Kommission, in Schutz zu nehmen. Sie sind schwieriger als anderswo, weil auch das Kommissariat für Volksaufklärung, wie die meisten übrigen Kommissariate, äußerlich einem Bienenhause gleicht, überfüllt von Menschen, die zu arbeiten scheinen, aber größtenteils nur im Herzen froh sind, einen Posten an einem noch so ärmlichen Schreibtisch erwischt zu haben und nun in ihrer Weise zu faulenzen oder auch zu sabotieren. Doch sie sind auch leichter als anderswo. Das russische Volk ist geistig beinahe ein unbeschriebenes Blatt. Es bringt, wenn eine kräftige Propaganda nebenhergeht, selbst komplizierten geistigen Dingen ein Verständnis, eine natürliche Unvoreingenommenheit, eine Fülle von Begabung, die ganze Gelehrigkeit und Beweglichkeit seines jugendlichen Charakters, entgegen, die man nicht hoch genug anschlagen könnte, wüsste man nicht, wie der durchschnittliche Russe abstumpft, wenn er älter wird.

Die Hydra der Volkskommissare hat im ersten Revolutionsjahre manchen ihrer Köpfe gegen einen anderen vertauscht. Lunatscharskis kluger Kopf ist bisher an seiner Stelle geblieben. Mitten in stürmischen Nachtsitzungen im Kreml, zwischen Mobilmachungsbeschlüssen und Terror, zwischen Verhandlungen über die Komplotte fremder Diplomaten, aufreibenden Parteistreitigkeiten, Debatten über Brandschatzungen oder Notstandsmaßnahmen, wußte er den Genossen die Dekrete über die Nationalisierung der Petersburger Konservatorien oder für den Schutz der Altertümer, Kredite für sein Budget der Volksbildung zu entreißen. Lenin hat dem Freunde manchesmal in solchen Sitzungen unwirsch den Rat gegeben, den Mund zu halten und schlafen zu gehen. Dennoch wird es sich vielleicht eines Tages zeigen, daß die Unternehmungen Lunatscharskis für das Prestige der Sowjetrepublik mehr getan haben als eine Million von Maueranschlägen gegen die Wucherer oder von Propagandaschriften für die Weltrevolution.

Lunatscharski hat mit einer kleinen Gruppe von proletarisierten Interllektuellen den Versuch unternommen, die Künste an der Revolution in Brand zu stecken. Er nationalisiert nicht nur die Sängerchöre des einstigen kaiserlichen Hofes, die großen Bühnen und die Verlagsanstalten. Er errichtet in geräumten kleinen Moskauer Palästen, deren Fenster noch von Kugeln durchlöchert sind, Museen aus den Gemäldereichtümern des Kremls; er liefert, so zu sagen, Gastmähler während der Pest. Er hat einen neuen, vielleicht nicht rein künstlerischen, aber sehr suggestiven und revolutionären Typus von Konzerten eingeführt, die Konzertversammlung. Diese Konzertmeetings, mit ihrer Mischung von ernster Musik und politisch-philosophischer Ansprache, zielen nach einer zwanghaften doppelten Durchdringung der Gehirne. In einstigen Akademien und Patrizierhäusern werden auf öffentliche Kosten Arbeiterklubs, Redaktionen und Dichterkurse hergerichtet, Ateliers für Maler, Bildhauer und Bühnenkünstler. Man darf über das chaotische Gemisch von Talent und Kitsch, das da zutage kommt, nicht gleich die Fassung verlieren. Es sind Anfänge. Für Architekten, Bildhauer, Zeichner und Maler sind Preise ausgeschrieben. Merkwürdig allerdings, Geldpreise in einem Lande, dessen Volkswirtschaftsrat das Geld systematisch entwertet, und dessen Handelskommissariat den freien Einkauf von Waren verbietet. In fast allen Städten Russlands sind im Handumdrehen zahlreiche neue Denkmäler entstanden, die diesen Orten wirklich etwas zu denken geben. Denkmäler, die im Galopp gekommen sind, und im Galopp, wie eine Kosakenpatrouille, wieder verschwinden, wenn nicht eines Tages ihr Holz, Gips und Zement durch Stein und Erz ersetzt wird. Kühne Plakate hängen in den Wachtstuben, den Versammlungsräumen und an den Straßenecken. Die Sowjetrepublik hat eine neue Briefmarke eingeführt; freilich gab man vor allerhand gewagten Entwürfen einem außerordentlich banalen, der eine zerbrochene Kette zeigt, den Vorzug. Auf enteigneten Druckerpressen werden billige Klassikerausgaben, naturwissenschaftliche Lehrbücher in Mengen hergestellt. In Industriestädten wie Petersburg, Moskau, Iwanowo-Wosnessensk, Nishni-Nowgorod, errichtet das Kommissariat für Volksaufklärung Proletarieruniversitäten auf polytechnischer Grundlage, Lesehallen, Studienkurse. Alles das ist Proletkult. Hinzu kommen noch die neugegründete Sozialistische Akademie in Moskau, die kürzlich Franz Mehring und zwei sozialistische Denker in Holland, Pannekok und Madame Roland Holst, für ihre Bücher mit Geldpreisen auszeichnete, sowie die neue „Lenin-Gesellschaft“, die in ihren Sitzungen die literarischen Probleme der Revolution erörtert.

Der Moskauer Proletkult bietet ein Beispiel für die anderen im Lande. Ersetzt sich aus Vertretern der Gebietsarbeiterräte, der Berufsgenossenschaften, der Angestelltenverbände, der Krankenkasse und des Kommissariats für Volksaufklärung zusammen. Er hat auf einer Konferenz im Februar 1918 die ersten Thesen und Beschlüsse aufgestellt und trat mit seinen ersten fertigen Leistungen in diesem Herbst bei der Jahresfeier der Novemberrevolution hervor. Das prächtige Haus des Großindustriellen Morosow ist von den Arbeitern zu ihrem Klub hergerichtet worden. An den Wänden dieses Hauses hängen neben Gemälden und Stichen von geringem Wert naturwissenschaftliche Sammlungen und Atelierzeichnungen in einem seltsamen Durcheinander. Ein Achtzehnjähriger, hinter einem königlichen Mahagonischreibtisch, der eben mit einem grauhaarigen Musiker ein Konzertprogramm aufstellte, gab mir eine mit Bleistift geschriebene Eintrittskarte für eine Arbeitervorstellung, die ich am nächsten Abend besuchte. Es wurden Gedichte junger Arbeiter vorgetragen und zwei dramatische Massenszenen, auf denen Barrikadenkämpfe vorkamen und deren gesprochene Chöre einen unvergesslichen Eindruck machten. In dem Hause Morosow stehen Schreibmaschinen auf weißen Marmorkaminen, Arbeiter sitzen auf Goldsesseln. Ein Mann führte mich in den Keller und verkaufte mir Proben dort aufgespeicherter Drucksachen: Dünne Heftchen mit unbeholfenen Versen, die Verhandlungen der Proletkultkonferenzen, die neue Wochenschrift des Bildungskommissariats mit den Tätigkeitsberichten seiner Sektionen, Kurse und Seminarien, daneben eine Handvoll jetzt erscheinender literarischer, illustrierter Kunstzeitschriften, wie „Gorn“, „Iskußtwo“, „Graduschtscheje“ und die von Lunatscharski selbst redigierte „Plamja“. Diese Zeitschriften mit ihren Rubriken für bildende Künste, Musik und Literatur haben begonnen, die russischen Arbeiter mit Rodin, Daumier, Walt Whitman oder Heine bekannt zu machen. Daneben handeln sie von den Geheimnissen der Verslehre und von den Programmen einer jungen, selbstbewussten, russischen Kunst.

Noch spielen in Moskau und Petersburg die alten Theater. Ich sah im berühmten Petersburger Marientheater vor beinahe leerem Hause eine Aufführung des „Korsaren“ von Byron, das köstlichste Ballett von einer traumhaften Pracht und Heiterkeit der Farben, der Kostüme und der Stimmen. Und in Moskau im Großen Theater eine altrussische Märchenpantomime, die opulent und entzückend war wie je zur Zeit des früheren Glanzes. Im Künstlerischen Theater des verschollenen Stanislawski spielt man noch heute die Zarendramen von A, Tolstoi, setzt man ganze Romane von Dostojewski kleinmalerisch und liebevoll in Szene. Andere Moskauer Bühnen spielen die „Versunkene Glocke“, den „Biberpelz“, den „Blauen Vogel“, den „Standhaften Prinzen“, spielen Shakespeare, Schiller, Merimé. Und diesen vollwertigen Bühnen treten nun in allen Stadtvierteln die neuen primitiven Volksbühnen und Fabriksbühnen an die Seite, In den Tagen des Revolutionsfestes gab es in einem Vorstadtkabarett eine höchst groteske Aufführung des „Grünen Kakadu“ und ein reizendes Puppenspiel. Der Redner des Abends rühmte stolz die weiten künstlerischen Möglichkeiten der Revolution. Es schien kein Einwand möglich. Mit dem aristokratischen oder plebejischen Prinzip in der Kunst haben diese Möglichkeiten nichts mehr zu tun. Sie sind da, und sie bringen Überraschungen.

Sind nicht diese Möglichkeiten verlockend genug, um die Besten der russischen Intelligenz ohne Rücksicht auf politische Zustände zur Mitarbeit aufzurufen? Sie wären es, und doch setzt gerade hier der Riss, der das ganze russische Volk durchzieht, auch im Künstlertum sich fort. Denn wenn irgendwo, so erweist es sich hier, daß die Diktatur des Proletariats noch nicht die Diktatur der Vernünftigen ist. Nicht nur das Wissen als Kampfmittel — so heißt es in einer Entschließung des Kongresses der proletarischen Bildungsverbände, der Ende September in Moskau stattfand — sondern auch das Empfindungsleben soll mit Hilfe der neuen Kunst umgeschaffen werden. Das Proletariat müsse nicht nur materiell, sondern auch geistig das Bürgertum besiegen, um das Zukunftsreich herbeizuführen. Rohe Gewalthaber fordern in Russland auch von der Kunst die Unterwerfung unter den Kommunismus. Musik, Malerei und Dichtung haben von Staats wegen revolutionär, grell und unversöhnlich zu sein. Und die Anstellung selbst von Künstlern bei den Behörden und in den Klubs der Rätegewalt ist an die Bedingung des schriftlichen Beitritts zur kommunistischen oder mindestens der Sozialrevolutionären Partei gebunden. Der Bruch ist da. Viele verzichten lieber auf Brot und Obdach, erklären eher voll Hass das ganze Wesen des Proletkults als geistigen Diebstahl, als eitel Lug und Trug und weissagen seinen Zusammenbruch, als daß sie sich dem Gewissenszwang unterwerfen.

In den Monaten meines Aufenthaltes in Russland, einer politisch sehr erregten Zeit, bin ich nicht vielen Künstlern begegnet. Unerwartet traf ich einmal eine ganze Kolonie von namhaften Musikern im Gutshause eines Kunstfreundes, der sich aus den Unsicherheiten der Stadt auf das Land zurückgezogen hatte. Eines Tages kamen aber auch hier die Bauern und vertrieben die Bewohner dieser Insel so rasch, daß sie nachts durch den Wald die Flucht ergreifen mußten. Einen dieser Künstler traf ich in Moskau wieder. Ein Kommissariat hatte ihm eine große, ehrenvolle Aufgabe, die Leitung eines ehemals kaiserlichen Institutes, angetragen. Er schwankte sehr, er machte zunächst überhaupt einmal den Versuch, seine alte künstlerische Beschäftigung wieder aufzunehmen; für seine Stadtwohnung hatte er einen Schutzbrief, der ihn vor Requisitionen, Einquartierung und anderen groben Störungen einigermaßen sicherte. Dennoch entfloh er schließlich. Die Schrecknisse der Zeit, das Schicksal ihm nahestehender Personen, die, wie von einer Epidemie erfasst, plötzlich verschwanden und deren Gefangensetzung oder Erschießung dann bekannt wurde, ließen ihn fürchten, wahnsinnig zu werden. Er verschwand wie viele vor ihm, in der Verkleidung eines Soldaten über die ukrainische Grenze. Dieser Einzelfall beleuchtet das Schicksal vieler Künstler, und nicht nur Künstler, im gegenwärtigen Russland. Schriftsteller von europäischem Namen, wie Mereschkowski, Leonid Andrejew, in gewissen Sinne auch Maxim Gorki, obgleich er dem Proletariat entstammt und seinem Jugendfreunde Lenin eine rührende Anhänglichkeit beweist, erliegen allmählich demselben inneren Konflikt. Manche hungern buchstäblich, machen Bittgänge in fremde Konsulate. Ähnlich geht es den Professoren der alten Universitäten. Noch hält die Moskauer Universität die üblichen Vorlesungen. Noch immer hat sie einen Stamm von Lehrern und Studenten. Das Kommissariat für Volksbildung schützt ihre Wohnungen und Habe vor den Eingriffen roher Arbeiterausschüsse; mehr kann es nicht tun. Die Gelehrten und die ernstere Jugend, die vielleicht noch Ziele, aber keine Karriere mehr vor sich hat, suchen in einem leidenschaftlichen Studium ein Vergessen dieser unerhörten Zeit. Der russische Student hat seinen Charakter geändert. Er trägt nicht mehr die Uniform des alten Regimes und nicht mehr das lange Haar des Revolutionärs, er politisiert nicht mehr die Nächte hindurch, sondern er arbeitet. Die Hörsäle sind ungeheizt, aber ständig besucht. Bücher sind rar geworden, sie werden förmlich zerlesen. Es fehlt an wissenschaftlichen Hilfsmitteln, man ergänzt sie erfinderisch aus den einfachsten Materialien. Es ist, als verschließe sich die kleine Schar der Unbedingten instinktiv gegen alle Versuche der Popularisierung, die die geistig Schaffenden in die Masse werfen und ihnen selbst das Unfertige entreißen möchte, um es dem Volke zu geben. Die quietistische Reaktion der Geistigen in Russland ist vielleicht nicht so sehr die Absage gegen die neugegründete Kultur der Massen, die doch den Künsten wie den Wissenschaften unerhörte Resonanzen verspricht, als ein Vorzeichen des morgigen Tages. Das Tragische aller geistigen Revolutionen ist es wohl, daß sie ruhen, wenn die politischen Stürme toben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau