Die Bauernfrage

Die russische Revolution hat seit den Ereignissen im Oktober des Jahres 1917 ihr jetziges, proletarisches Gepräge angenommen. In ihrer bürgerlich-demokratischen Anfangszeit galt das allgemeine Stimmrecht und seine Frucht, die Nationalversammlung, als die Hauptforderung. Die Sprengung der Konstituante durch die Matrosen Lenins beseitigte indessen diese Frucht und ersetzte sie durch die Diktatur des Proletariats, die in Wirklichkeit eine Diktatur der Führer des Proletariats, Diktatur einer marxistischen Sekte, ist. In allen bisherigen Phasen der russischen Revolution, auch in den vorbereitenden, welche die Macht der Zarenregierung untergruben, war die Agrarfrage das eigentlich treibende Moment. Ein Erlöschen der Agrarbewegung in Russland ist aber nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: entweder mit einer vollkommenen Befriedigung der Bauernmassen, oder mit dem Scheitern des bisher radikalsten Versuches, der zur Lösung der Bauernfrage in Russland unternommen wurde, nämlich der revolutionären Landaufteilung. Jede selbst zeitweilige Lösung der Bauernfrage, sei es nun die einer redistributären Ordnung, welche die Ergebnisse der Revolution festhält, oder das Chaos, das reaktionäre Lösungsversuche vorbereitet, muss mit einem Schlage die Revolution, auch wenn sie in den Städten noch nicht „fertig“ sein sollte, zu Ende bringen.

Die Revolution der Kommunisten-Bolschewiki ist in erster Linie ein Aufstand des Industrieproletariats. Sie hat erst nachträglich, und nicht ohne Gewaltsamkeiten, die Revolution des Bauerntums in ihre Bahnen zu lenken gesucht. Die russische Bauernbewegung ist bei allen ihren wirtschaftlichen Antrieben doch im Grund nationalistisch. Ihr eine internationalistische Verkleidung zu geben, wie die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre es wollen, ist ein Widerspruch in sich selber. Der russische Bauerninternationalismus, von dem zuweilen geredet wird, umfasst zwar, wie man es auf dem fünften Allrussischen Rätekongress feststellen konnte, die Bauernbewegungen in Lettland, in Polen, in der Ukraine, aber er macht Halt vor den Grenzen des alten Russlands, er hat gegen alles, was vom Ausland kommt, das größte Misstrauen. Die aus der alten Volkspartei, den Narodniki, hervorgegangenen, einander jetzt heftig bekämpfenden Flügel der Sozialrevolutionäre haben noch jetzt die große Masse des russischen Bauerntums hinter sich. In Sibirien und in den außerhalb der Räterepublik gelegenen Teilen des Wolgagebietes scheint der Anhang der rechten S.-R. zu überwiegen. In der Ukraine und in Turkestan, wo erhebliche Teile des Kleinbauerntums die Organisation der Räte anerkennen, sind die linken S.-R. zwar Verbündete der Kommunisten, aber zahlreicher als diese. Hinter den Sozialrevolutionären nämlich steht noch immer der Bauer als ein selbständig wirtschaftender, bodenständiger Faktor. Hinter den Bolschewiki dagegen steht der marxistische Gedanke der Errichtung industrieller Armeen auch für den Ackerbau, die vollkommene Aufhebung des Privatbesitzes an Grund und Boden. Die Bolschewiki bezeichnen den Boden als Eigentum der Gesamtheit, also auch den Landbau als eine Sache der Gesamtheit. Um „industrielle Landarbeiterarmeen“ aufzurichten, müssen zuvor die Bauern proletarisiert und mit anderen Teilen des Proletariats vermischt werden.


Der gewaltige Erfolg der Oktoberrevolution beruht darin, daß den Bauern im Heere von Lenin und seinen Genossen zugerufen wurde: geht nach Hause, nehmt das Land, keine Minute ist zu verheren. Trotzdem aber die Bauernmassen auf diesen Ruf eiligst nach Hause liefen, und trotzdem sie alle, besonders im Räte-Russland, die Persönlichkeit Lenins willig als die des großen Führers anerkennen, standen sie bisher in ihrer erdrückenden Mehrheit nicht auf dem Boden der kommunistischen Partei, sondern der Sozialrevolutionäre. Der Bauer „nahm“ ja auch nur das Land, um es selbst zu besitzen, er fragte erst in zweiter Linie danach, ob er auch in der Lage sei, es selbst zu bewirtschaften. Bei dem Zusammentritt des schon mehrfach erwähnten fünften Rätekongresses im Juli dieses Jahres stellte es sich zur großen Beunruhigung der Moskauer Gewalthaber heraus, daß die Unken S.-R. über die absolute Mehrheit verfügten. Dem entsprach die triumphierende und drohende Sprache ihrer Redner auf diesem Kongress. Die Ermordung des Grafen Mirbach geschah am folgenden Tage, und zwar, wie bekannt, auf Parteibeschluss der linken S.-R. Der bis zu diesem Augenblick nur auf ihre dialektischen Mittel angewiesenen Räteregierung diente das Ereignis dazu, der ihr selber drohenden Gefahr ein rasches Ende zu machen. Die Führer der feindlichen Schwesterpartei wurden verhaftet, ihre Blätter unterdrückt, ihre Anhänger auf dem Lande ins Gefängnis geworfen. Nicht weniger als 200 Sozialrevolutionäre wurden in den folgenden Wochen erschossen, und man hatte bei diesem Verfahren noch den Vorteil, der deutschen Reichsregierung die Menge der Opfer als angebliche Sühne für die Ermordung ihres Gesandten präsentieren zu können. Der innerpolitische Erfolg trat schon auf dem sechsten außerordentlichen Allrussischen Rätekongress, der Anfang November in Moskau stattfand, in die Erscheinung. Einer überwältigenden Mehrheit von 640 Kommunisten stand auf diesem Kongress eine Opposition von nur noch 3 Sozialrevolutionären gegenüber. Und die große programmatische Rede Sinowjews über „Die Aufgaben der Ausschüsse der Dorfarmen“ zeigte, wie sich inzwischen die kommunistische Partei der Weiterführung der Revolution auf dem Lande angenommen hatte.

Die Komitees der Dorfarmut bildeten schon auf dem fünften Rätekongress eine stark umstrittene Frage. Die in den Dörfern gebildeten Bauernräte hatten sich nämlich in manchen Fällen keineswegs als so revolutionär erwiesen, wie es den Führern in Moskau als wünschenswert erschien. Gutsbesitzer, reiche Bauern und sogenannte Dorfwucherer hatten in manchen dieser Bauernräte eine entscheidende Stimme. Durch die Einwirkung gemäßigter Elemente war in einigen Gegenden die Landaufteilung zu einem gewissen Stillstand gekommen, vieles war beim alten geblieben, manche Bauern hatten sogar den ehemaligen Besitzern das Geraubte wieder herausgegeben, einzelne Bauern blieben in ihrem früheren Pachtverhältnis, nachdem ihnen unter dem Druck der allgemeinen Lage eine Herabsetzung ihrer Pachtabgaben ohne Schwierigkeit gelungen war. Wohl in jedem Gouvernement, z. B. in der unmittelbaren Nähe von Moskau und Smolensk, gab es noch in diesem Sommer Güter, auf denen trotz der Herrschaft der Bauernräte so ziemlich alles unverändert geblieben war. In anderen Gegenden wiederum schien es, als ob die Revolution beendet sei, nachdem nun die Bauern frei über den Boden der Gutsbesitzer, die einstigen Kronländereien, die Liegenschaften der Klöster und der Kirchen verfügten. Dort begannen die Bauern allmählich die Abgabe von Getreide an die hungernden Städte zu verweigern. Den von Moskau ausgeschriebenen Steuern und der Einziehung von Rekruten zur Roten Armee setzten sie bewaffneten Widerstand entgegen. Bauernaufstände gab es in fast allen Gebieten der Sowjetrepublik während des ganzen Sommers; in den Gouvernements Rjäsan, Tula und Moskau haben diese Aufstände in den letzten Wochen ernstere Formen angenommen und dauern noch an. Der russische Bauer hat im allgemeinen während des Krieges viel Geld verdient. Freilich Papiergeld. Er sammelt und vergräbt dieses Geld in Töpfen und Konservenbüchsen, um es bis zu der Zeit aufzuheben, wo er sich dafür etwas kaufen kann. Er will Zuchtvieh, Saatgetreide, Düngemittel, Maschinen, die es jetzt nicht gibt. Für sein Vieh und sein Getreide, das er verkauft, will er nicht mit Geld bezahlt werden, sondern mit Manufakturwaren, Sensen, Pflügen, landwirtschaftlichen Maschinen, zuweilen auch mit Schnaps, soweit er nicht längst heimlich selber begonnen hat, sich mit diesem Festgetränk zu versorgen. In anderen Gegenden wieder hat sich die Bodenaneignung wie ein Feuerbrand in so wilden Formen vollzogen, daß nichts unverwüstet geblieben ist, weder die riesigen noch unbebauten Latifundien des einstigen kaiserlichen, adeligen oder geistlichen Besitzes, noch die Konzessionen industrieller Waldausbeutungsunternehmungen, weder die verlotterten Gutswirtschaften, noch die vereinzelten Mustergüter. Die Bauern haben viele Gutshöfe nicht nur geplündert, sondern sie bis auf den Boden niedergebrannt, haben Ställe, Gewächshäuser, Molkereien, Ziegeleien zerstört, Wälder gefällt, das Inventar zerschlagen oder zum Verkauf in die Städte gefahren. Jagd, Fischfang, Nutzung der Wälder, alles ist frei. Wo es genügt hätte, die früher unerträglichen Einengungen, den übergroßen Privatgrundbesitz, die ökonomische Macht der Klöster und der Popen und den Zwang der alten Dorfgemeinschaften niederzulegen und in Ruhe die Arbeit auf den Äckern zu beginnen, da herrschen nun Durcheinander, Verwahrlosung, Misstrauen, Neid, Bandenkämpfe der Bauern untereinander. Von einer planmäßigen Zerlegung der zum Teil allzu dicht gebauten dörflichen Siedelungen über das Land, von der Anlage eines verzweigteren Wegenetzes, die eine volle Ausnutzung des Bodens erst möglich machen würde, ist keine Rede. Die letzten Gebildeten, wie Landärzte, Agronomen, Gutsbesitzer, sind vom Lande vertrieben. In vielen Gegenden herrschen nun mittelalterliche Zustände, Lynchjustiz von fürchterlicher Roheit, heidnischer Aberglaube. Aus einem Kreise des Rjäsanschen Gouvernements werden Hexenverbrennungen berichtet. Vielfach tritt an die Stelle des bereits eingeführten intensiveren Landbaues wieder die primitive Dreifelderwirtschaft. Felder, die seit Jahrzehnten unter dem Pflug gewesen waren, liegen unter einem Bewuchs von Unkraut, der auch die künftige Fruchtbarkeit des Brachlandes in Frage stellt. Die bei solchen Zuständen unausbleiblichen dauernden Schädigungen, die Einwirkung der großen Wälderzerstörungen auf das Klima des Landes sind einstweilen nicht abzuschätzen.

Jeder Einsichtige hatte diese Zustände vorausgesagt. Auch die Bolschewiki sind sicherlich wissend genug, um nicht die katastrophalen Folgen einer planlosen Landaufteilung klar zu erkennen. Aber sie stützen ja gerade ihre Macht auf die immer verzweifeltere Stimmung des Bauerntums, das sich unter diesen Zuständen rasch in ein gleichförmiges und resigniertes Proletariat verwandeln muss. Und um diesen Prozess noch zu beschleunigen, stellen sie den als gegenrevolutionär verdächtigten Bauernräten die Ausschüsse der Dorfarmen entgegen, denen mit eifriger Unterstützung der Außerordentlichen Kommission die Aufgabe übertragen ist, die verkappten Dorfwucherer und Gutsbesitzer ausfindig zu machen und zu beseitigen. Das Ziel dieser Ausschüsse ist die Überführung des Bodens in den Allgemeinbesitz. Dann kommt die Nutzung dieses Allgemeinbesitzes durch die künftigen proletarischen Arbeiterarmeen, denen die Maschinen, das Saatgetreide, die Wohnungen und alles übrige vom Staat geliefert werden sollen. Das Agrarprogramm der Regierung bewegt sich in dieser Richtung. Man spricht von der Errichtung von Musterfarmen und landwirtschaftlichen Versuchsstationen für die Kirgisen- und Kalmückensteppe, aber merkwürdigerweise nicht für das eigentliche Russland. Projekte für Gartenbausiedelungen und für ländliche Arbeitersanatorien werden wohl gelegentlich als Teile der allgemeinen Gesundheitspolitik erörtert, auch heißt es, daß künftig die Ackerschädlinge in gewissen Gegenden durch giftige Gase bekämpft werden sollen; neue Formen von Landarbeitsgemeinden sind geplant, aber noch nicht verwirklicht; wie sollte das alles auch beim jetzigen Stand der allgemeinen Verhältnisse möglich sein?

Die Folgen der augenblicklichen Zustände äußern sich in den ungeheuerlichen Ernährungsschwierigkeiten der Sowjetrepublik. Schon der Wegfall Sibiriens, der Ukraine und Turkestans als der eigentlichen Kornkammern des europäischen Russlands würde sich bei sonst unveränderten Bedingungen der Getreideerzeugung im Gebiete der Räterepublik in einer Steigerung der Getreidepreise bemerkbar machen. Immerhin würde sich die Steigerung in erträglichen Grenzen halten können, solange noch die Getreidegegenden von Samara, Saratow und Rjäsan zu Moskau gehören. Über den Rückgang der bebauten Saatfläche im eigentlichen Russland erlaubt der Stand der Statistik nur unsichere Vermutungen. Nach einer Äußerung des damaligen Landwirtschaftsministers Naumow in der Reichsduma im März 1916 betrug die Verminderung der Saatfläche 1914/15 bereits 10,3 v. H. Sie stieg, laut Naumow, 1915/16 in der Ukraine, im gesamten Wolgagebiet und im Kaukasus auf 20 bis 50, in Sibirien auf 22 v. H. Dem quantitativen Rückgang entsprach auch der qualitative. Der gesamte Viehreichtum Russlands, der im Jahre 1913 noch 52,4 Millionen Stück betrug, ist, bei ständig abnehmendem natürlichen Zuwachs und einem bei zunehmender Fleischeinfuhr erst seit der zweiten Hälfte des Krieges langsam eingeschränkten Verbrauch, nach vorsichtigen Schätzungen für das Gebiet der Sowjetregierung schon tief unter die Hälfte des früheren Bestandes zurückgegangen. Dem entspricht die Steigerung der Preise in Moskau von etwa 12 Kopeken für das Pfund Rindfleisch vor dem Kriege auf mindestens 13 Rubel, für Schinken von 35 Kopeken auf 40 Rubel, für Hühner von etwa 50 Kopeken auf 45 Rubel das Stück, für Käse von 20 Kopeken auf 30 Rubel das Pfund, für Eier von 1,5 Kopeken auf 1,8 Rubel das Stück. Selbst im Kartensystem und im direkten Bezug dieser Lebensmittel durch die Konsumgenossenschaften der Kommissariate, der Fabriken, der Mieterkomitees ermäßigten sich diese Preise nur unbeträchtlich. Tagelang sind Fleisch, Milch, Eier in Moskau überhaupt nicht zu haben. Der Preis des Mehls ist von 3 Kopeken auf 11 Rubel das Pfund gestiegen. Im freien Verkehr sind außer Kartoffeln, Kohl und Rüben andere Gemüse normalerweise nicht mehr zu finden. Berücksichtigt man bei dem Vergleich der jetzigen Preise mit den ehemaligen, daß der Papierrubel von heute höchstens noch eine Kaufkraft von 10 Kopeken hat, so ergibt sich, daß die Steigerung der Lebensmittelpreise, die eigentlich erst im Jahre 1917 unter der Kerenski-Regierung empfindlicher fühlbar wurde, und damals das zwei bis dreifache des Normalen betrug, unter der jetzigen Regierung das zehn- bis fünfzehn fache des früheren erreicht hat. Natürlich haben auch die zerfahrenen Verkehrsverhältnisse sowie Magazinierungsschwierigkeiten neben der Ausschaltung des Privathandels an dieser enormen Steigerung ihren Anteil; sie beruhen nicht ausschließlich auf der Lage der Landwirtschaft.

Schon vor dem Kriege konnte von einer relativen oder sogar absoluten Übervölkerung einer Anzahl der wichtigsten Gouvernements gesprochen werden. Die unhaltbaren Agrarverhältnisse haben das alte Russland revolutioniert. Die von einigen Gelehrten so belobten Stolypinschen Agrarreformen dienten dem Zweck, den Privatbesitz des mittleren Bauerntumes zu festigen. Sie begannen tatsächlich ein Bauerntum von konservativer Gesinnung zu schaffen. Dafür aber haben sie auch zehntausende landloser Bauern endgültig entwurzelt. Das gleichzeitige ungeheuere Wachstum einzelner Städte, wie Petersburg, Wologda, Saratow, besonders aber Kiew und dieselbe Zunahme des Stadtproletariats sogar in Sibirien erscheint wie ein Rätsel, bis man begann, ihre Ursache in den Agrarreformen zu entdecken. Tatsächlich hat erst die Revolution von 1917 durch die Freigabe des Bodens eine der wichtigsten Ursachen des russischen Bauernelends beseitigt, nur sind die Segnungen des neuen Zustandes einstweilen ausgeblieben. Die auf eine allmähliche Verländlichung der Städte und auf Industrialisierung des flachen Landes gerichtete innere Politik der Räteregierung mit ihrem mannigfachen Beiwerk zur geistigen Revolutionierung des Bauernstandes ist zwar sehr bemerkenswert, sie kann aber den Bauern die technische Schulung, die national wirtschaftliche Einsicht in ihre Lage, deren sie in erster Linie bedürfen und nach der sich ein lebhaftes Verlangen unter ihnen kundgibt, nicht ersetzen. Der kulturelle Tiefstand des russischen Bauernvolkes ist in der Tat erschreckend. Aber wenn die oben geschilderten Anzeichen nicht täuschen, so wehrt sich selbst das nur schwach entwickelte Individualgefühl des russischen Landbewohners instinktiv gegen eine allgemeine Proletarisierung und kommunistisch-industrielle Zustutzung des Lebens.*)

Vielmehr scheint es, als ob aus den russischen Bauernmassen, so viele oder wenige Jahre auch zu ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsolidierung nötig sein mögen, starke Reaktionen des Nationalgefühles zu erwarten seien, die sich in Expansionsbedürfnissen äußern können, von denen die des alten Zarenreiches nur in den Formen, aber im Wesen nicht so sehr verschieden waren.

*) Anfang Februar 1919 brachte die „Iswestija“ den folgenden offenen Brief eines Bauern, der auf die Ungelöstheit wichtiger Einzelfragen ein Licht wirft:

Ich wende mich an Sie mit einer Bitte und teile Ihnen einiges aus dem Leben und der Gedankenwelt der mittleren und der armen Bauern mit.

In einer allgemeinen Aussprache darüber, wie man den armen Bauern helfen, eine Kommune gründen könnte, kamen wir zu dem Schluss, daß das Leben der Landarmen ein sehr schweres ist. Ohne genügend Land, ohne Kuh, mitunter sogar ohne Pferd und ohne eine Kopeke in der Tasche, zudem mit einer zahlreichen Familie beiastet, können sie nur sehr schwer das Niveau eines mittleren Bauern erreichen oder in eine Kommune gelangen. Es ist zwar allbekannt, daß die Regierung des sozialistischen Vaterlandes die Kommunarden unterstützt, aber nur mit Geld. Wie steht es nun aber mit Kühen, Pferden und Inventar? Es ist für die armen Bauern schwer, in eine Kommune aufgenommen zu werden, da es auch in der Kommune unmöglich ist, ohne Vieh zu leben. Man braucht doch zur Bestellung der Felder Mist sowie Geräte zur Bodenbearbeitung. Wo soll man die hernehmen ? Sie sind nicht vorhanden. Und wenn, so nur in zu geringer Zahl, während die Zahl der Armen sehr groß ist. Wir dachten und berieten und kamen zu dem Schluss, daß es für die Landarmen sehr schwer ist, in eine Kommune hineinzukommen, solange sie nicht genügend Vieh besitzen, obgleich wir wissen, daß die Dorfarmen nur durch gemeinsame Bodenbearbeitung und gemeinsame Bewirtschaftung ihre Lage verbessern können. Anders verhält es sich mit dem mittleren Bauer, der über eine gute Wirtschaft verfügt. Er kann mit Leichtigkeit in die Kommune gelangen und den Boden gemeinsam bearbeiten. Denn der mittlere Bauer ist im wahren Sinne des Wortes ein werktätiger Bauer, der den Boden selbst bearbeitet, und zwar über die Kraft, nicht weil er zu viel Land besitzt, sondern weil er rechtzeitig alles einbringen und den Boden möglichst gut bearbeiten will.

Nachdem Genosse Lenin erklärt hat, daß die mittleren Bauern die beste Stütze des Staates bilden, wiederholen die mittleren Bauern dieses Wort alle Augenblicke und sagen: , .Würde die Regierung die mittleren Bauern von den Wucherern und den armen Bauern trennen, so würden die mittleren Bauern mit aller Macht die Räteregierung unterstützen, insbesondere mit Brot und anderen Produkten.“ Leider ist sich der mittlere Bauer bis auf den heutigen Tag nicht über seine Lage und das Verhalten der kommunistischen Partei ihm gegenüber im Klaren. Und nun denkt und grübelt der mittlere Bauer über das Verhalten der kommunistischen Partei ihm gegenüber, und man erzählt sich vielfach, daß Lenin und Trotzki uneinig seien. Lenin trete für die mittleren Bauern ein und verbiete, ihnen das Getreide fortzunehmen und ihnen Steuern aufzuerlegen. In Trotzki dagegen erblicken sie ihren Feind, weil er aus den armen Bauern die Rote Armee formiert und diese dazu verwendet, den mittleren Bauern das Getreide fortzunehmen, von dem sie einen Überschuss von 3 — 5 Pud besitzen.

Ich habe versucht, ihnen auseinanderzusetzen, daß Lenin und Trotzki einer Partei angehören und das gleiche Ziel hätten: die Bourgeoisie der ganzen Welt zu überwältigen. Die mittleren Bauern, die bei mir das Abzeichen der Roten Armee sehen, sagen, auch ich gehörte zur Trotzkischen Armee. So denken die mittleren Bauern über Lenin und Trotzki und treten wie ein Mann für Lenin ein. Sie sagen, würde Lenin allein das Land regieren, so würde er zweifellos die mittleren Bauern vor den Dorfwucherern und den armen Bauern schützen. Andere wieder aus der Zahl der mittleren Bauern erklären, daß diese, für den Fall, daß Trotzki an Lenin den Krieg erklären sollte, alle für Lenin eintreten und Getreide an sein Heer liefern würden. So denken die mittleren Bauern.

Jetzt, nachdem ich ihnen klargemacht habe, daß Trotzki an Lenin nicht den Krieg erklären würde, fragen sie: „Wie kommt es denn aber, daß die kommunistische Partei nicht für die mittleren Bauern eintritt, daß Lenin allein dies tut?“ Einige haben mich gebeten, in Erfahrung zu bringen, weshalb die Kommunisten die mittleren Bauern missverstehen, die in Wirklichkeit die ehrlichsten Bearbeiter des Bodens sind, den sie mit eigenem Schweiß tränken und durch eigene Arbeit bebauen. Ich bitte Sie daher, Genosse Lenin, erklären Sie den Genossen von der kommunistischen Partei, was die mittleren Bauern eigentlich sind und welche Hilfe sie unserer sozialistischen Regierung bringen können, wenn das richtige Verständnis für die mittleren Bauern vorhanden ist.

Ich, als Angehöriger der Roten Armee, als Sohn der Revolution und aktiver Teilnehmer an der Oktoberrevolution in Moskau, bitte Euch, diesen Brief aufmerksam durchzulesen und ihn in den Spalten der „Prawda“ oder der „Iswestija“ zu beantworten, da mich mittlere Bauern darum gebeten haben.

Als treuer Beschützer des sozialistischen Vaterlandes 28! Januar 1919 G. Gulow



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau