Fortsetzung 4 - Und nun schreiten wir fort zu der schönen Zeit, da der Geist neugeboren ward ...

Und nun schreiten wir fort zu der schönen Zeit, da der Geist neugeboren ward! Seit dem Sturz der Hohenstaufen sinken bei uns Kunst und Wissenschaft Die großen ideellen Kämpfe zwischen Papst und Kaiser sind vergessen oder fratzenhaft verzerrt: die Interessenpolitik des Territoriums oder des Standes atomisiert die Nation. Nichts schmerzlicher, peinlicher als diese so reichen und doch so armen, des Zentrums entbehrenden letzten Jahrhunderte des Mittelalters. Nie vermisst man herber die bildende Macht der Form. Und siehe, da zieht er über die Alpen, der neue Geist! Ein leises Säuseln kündigt ihn an schon in den Tagen des vierten Karl; seit den Konzilien schwillt er zum Sturmwind. Italiener zuerst suchen in der Barbarei nach Handschriften, bald folgen ihren Spuren die Deutschen, die in Italien gelernt haben. Der geistige und — das sage ich getrost — auch der sittliche Reichtum des Humanismus ist erstaunlich. Allerdings treten vielfach formale Leistungen und Bestrebungen beherrschend in den Vordergrund. Aber was war diesem Deutschland nötiger als Form in dem hohen und weiten Sinne der Renaissance? Wie ungerecht pflegt man den Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts anzuklagen! Die Luther und Bismarck erschafft keine Bildung: erzieht sie die Reuchlin und Erasmus, die Humboldt und Moltke, wir wollen zufrieden sein. Mir wächst mit jedem Tage der Erkenntnis die Bewunderung für jene Epoche, da die Sonne Homers langsam über den Horizont aufstieg. Wie alle Wissenschaften, nicht nur Erasmus sondern auch Kopernikus, in dieser Sonne gediehen, muss ich es sagen? Aber es gedieh noch mehr. Das Individuum bekennt sich in freudiger Lebenslust zu sich selbst; und der nationale Staat dankt seine innere Begründung nicht zum wenigsten den Philologen der Renaissance.

Es war ein Glück, aber kein Zufall, daß eben damals die Germania des Tacitus gefunden wurde, dazu die Bücher der Annalen, die von Arminius erzählten. Erst dieser Spiegel hat in den Germanen die stolze Lust erweckt, sich in ganzer Figur selbst zu berichten. Wenn heute der echte Teutsche seine nationalen Ideale entwickelt, er ahnt selten, was alles er dem Tacitus verdankt. Das Mittelalter kennt wohl, bewundernd und tadelnd, den ‘furor teutonicus’, der ihm aus dem Lucanus geläufig war; aber den Deutschen, groß und blond, mit blauen Augen, gastlich und keusch, tapfer und redlich, den Verehrer der Frau, in der er etwas Heiliges sieht, die ihm in der Ehe die geliebte Genossin von Leid und Lust wird, den Deutschen, der seinem Gott in der Stille des Waldes dient, der freudig stirbt für König und Vaterland, der das schnöde Gold verschmäht und der seinem Worte die Treue hält und risse sie ihn in Sklaverei und Tod, diesen idealen Deutschen, der schwerlich ganz so nach der Natur gezeichnet war, hat uns des Tacitus sentimentale Rhetorik geschenkt. Wahrlich ein kostbares Geschenk, dessen stählende Wirkung wir durch die Jahrhunderte verfolgen können! Und fast in demselben Augenblick der erste nationale Held, der Befreier Deutschlands von römischer Knechtschaft, auch er in höchst wirksamer Stilisierung dargeboten, — die Macht dieser Eindrücke war ungeheuer. Wer in den Humanisten ein wenig belesen ist, weiß davon zu sagen. Ja, von Italien hatte man gerne gelernt, aber die Söhne wollen der Ahnen würdig sein; auch mit des Geistes Schwert galt es über die Wälschen zu siegen. Wer sich dieses kampffrohe Geschlecht ansieht, der lacht der Furcht, humanistischer Geist lähme zur Tat. Es ist unglaublich, wie sich die nationalen Interessen steigern. Der ängstliche und kränkliche Wimpfeling verficht mit Feuereifer, daß Elsaß deutsch, der Rhein nicht Deutschlands Grenze sei; Hutten wird nicht müde, durch flammende und treffende Verse dem unsicheren, erschlaffenden Maximilian die Pflicht des deutschen Kaisers, den großen Gedanken der Einheit und Weltherrschaft wieder und wieder ins Herz zu senken; das Bild der Germania antiqua ist nicht nur ein Traum der Sehnsucht, sondern in ernster Arbeit, durch Monumenten- und Sprachforschung wird ihm zugestrebt; ein schöner großer Zug nationalen Ehrgefühls loht verheißungsvoll auf, und deutsche Art sucht der Gelehrte bis hinunter in Volkslied und Sprichwort


Die Reformation war dieser Entwickelung auf den geistigen Höhen nicht günstig. Luther war ein Mann des Volkes, aber ‘volkstümlich’ ist nicht ‘national’, und der nationale Drang hat in dem Theologen, der aus der Mönchsklause hervorgegangen war, nie dominiert. Die Kirche war ihrem Wesen nach international: wo bei Luther der neue nationale Gedanke kräftig hervorbricht, wo er die deutsche Gesinnung gegen die Wälschen draußen in Rom aufbietet, da sind das Anleihen bei dem Humanismus, dem gerecht zu werden der große Mann schon darum schwer über sich gewann, da er sein latentes Heidentum, den sieghaften Stolz der Frau Klügel peinlich empfand. Es war eine Folge der Reformation, daß der Deutsche hinter dem Christenmenschen wieder zurücktrat. Aber der Humanismus war keineswegs tot im 16. Jahrhundert, wie sich noch immer viele einbilden, die verlernt haben, lateinische Verse mit Genuss zu lesen; denn das muss man freilich verstehen, wenn man über die deutsche Literatur vor dem 18. Jahrhundert mitreden will. Es ist noch heut ein Vergnügen, Frischlins ‘Julius redivivus’ zur Hand zu nehmen, in dem der ganze jubelnde Stolz der großen deutschen Nation gegenüber dem unterliegenden Rom herausbricht. Bekanntlich hat noch der junge Bismarck an dieser geistreichen Erfindung sein nationales Fühlen gestärkt. Die besten Zeugen, Cäsar und Cicero, müssen dem tapferen klugen Deutschen, der durch Poesie und Wissenschaft, durch Buchdruck und Schießpulver die Alten weit überflügelt hat, ihre Bewunderung zollen, während die entarteten Nachkommen Roms, der bettelnde Savoyardenjunge und der Schornsteinfeger, sie episodisch beschämen. Und es ist sehr charakteristisch, daß Johann Fischart, gerade als er sein Lob des Vaterlandes anstimmt:

„Dapfere meine Teutschen, adelich von gemüt und geplüte“

dafür den humanistischen Hexameter, die „sechshupfige Silbenstelzung“ wählt, um in ihr zu beweisen:

„Dás auch die Téutsche Sprách süsiglích wie Gríechische sprínge“.