Fortsetzung 3 - Aber mein Weg hat mich zu weit geführt. Ich kehre zurück in die Anfänge ...

Aber mein Weg hat mich zu weit geführt. Ich kehre zurück in die Anfänge unsers nationalen Lebens. Die Nation wird geboren in den Tagen des großen Karl, des Kaisers, der stolz den Bauernnamen mit der Krone vermählt. Damals endlich war der Kampf um das Imperium Romanum ausgespielt: an die deutsche Nation war es übergegangen. In dieser großen Vorstellung wurzelt nicht nur das verführerische Trugbild der Weltmonarchie, ihr entwächst zugleich der nationale Einheitsgedanke, der dauert, so lange jene antike Vorstellung ihre erziehende Kraft behält Und jetzt erst tritt das Wort ‘deutsch’, zunächst für die Sprache, später für das Volk hervor. Aber schon damals ist es von symbolischer Bedeutung, dass der große Kaiser, der alles Deutsche einigt, sei es auch mit Blut und Eisen, der freudig und bewusst sich zu dem Berner Dietrich als seinem Vorbilde bekennt, der für eine deutsche Grammatik und für eine Sammlung deutscher Heldenlieder sorgt, dass dieser deutsche Fürst daneben seinen feinsten Ruhm darin sucht, von Alkuin zu lernen, dem Träger lateinischer Gelehrsamkeit: in Italien lässt er authentischen Handschriften nachspüren; gleich seinem edlen Gesinnungsgenossen, dem Sachsen Alfred, liebt er die erlesene Geselligkeit seiner gelehrten Akademie, in der er, der königliche Sänger David, neben den Freunden Horaz und Homer sich hingibt an den Reiz humanistischer Bildung, deren erziehende Kraft sein weitblickendes Auge wohl erkannte.

Vier Jahrhunderte später! Dem letzten größten Hohenstaufenkaiser erblüht aus arabischer Kultur eine Ahnung hellenischen Geistes: Friedrich II. hat das Seinige getan, um Aristoteles seine Herrschaft über das ausgehende Mittelalter zu schaffen. Damals zuerst besitzt Deutschland eine bedeutende Literatur in deutscher Sprache. Sie ist zeitweilig romanisch bis zur Beschämung: Frankreich hat uns oft gelähmt, wo uns Hellas und selbst Rom befreiten. Für Sie alle heben sich drei Namen heraus: Nibelungen, Walther, Wolfram; und unsre teutonischen Freunde glauben wohl gar, durch diese deutschen Dichter die Alten ersetzen zu können. Ich fürchte, sie wissen nicht ganz was sie wollen.


Gewaltig steht vor uns das Bild der furchtbaren Frau, die um des Gatten willen ihr Geschlecht hinmordet, des finstern Helden, den, wie einen, jene deutsche pervicacia leitet, ipsi fidem vocant. Ein germanisches Epos! im Grunde das einzige: denn der Beowulf stellt nach Inhalt, Kunst und Stimmung viel angelsächsische Sonderentwickelung dar, und die nordische Heldendichtung ist über den Liederzyklus nicht hinausgekommen. Ein germanisches Epos! Gewiss — bei all seinen argen künstlerischen Schwächen, die Lachmanns Feingefühl wie eine Unmöglichkeit empfand, und die dem Schulgebrauch der mittelhochdeutschen Dichtung enge Schranken setzen, doch ein Epos großen Stils. Es ist sehr ungleich geraten: zuerst eine bunte Mischung von Gold und Spreu, dann lange öde Strecken; erst tief in seiner zweiten Hälfte ein einheitlicher, mächtig anwachsender Aufbau. Aber gerade in dieser zweiten Hälfte begegnet uns eine warnende Gestalt. Wie kommt der Bischof Pilgrim von Passau, ein Kirchenfürst des späten 10. Jahrhunderts, in dieses Lied? In demselben Jahrhundert, in dem der junge Mönch Eckehart auf Vergils Spuren, halb Poet halb Scholar, seinen Waltharius zu Stande brachte, dies kostbare herzerfrischende Gedicht lateinischer Form und doch deutschen Gehalts, nur wenige Dezennien später, hat ein Conradus — kaum dürfen wir zweifeln — den Untergang der Helden germanischer Vergangenheit, die germanische Heroendämmerung, zum Gegenstand eines lateinischen Epos gemacht. Eine unverdächtige Tradition hat uns die wichtige Kunde erhalten, die man lange bezweifelt hat und auf deren Wahrheit doch schon innere Gründe hinleiten konnten. Wenn es sich fände, jenes poema heroicum! Das große Lied von der Nibelungen Not, dieser Höhepunkt mittelalterlicher deutscher Kunst, ist, fürchte ich, zuerst in lateinischen Versen erklungen, wahrscheinlich auch in der Sprache Vergils. Der Schüler Homers hat noch uns Deutschen den Schritt vom Heldenliede zum nationalen Epos erleichtert

Und Wolfram, und Walther? Was hat sie frei gemacht von dem romanischen Zwang? Die Antwort ist nicht einfach und glatt zu geben: wir haben nur undeutliche Spuren. Die deutsche Geistesgeschichte hat seltsam gespielt: dasselbe Eisenach, das Luther die Bibel in humanistischer Gewissenhaftigkeit aus dem besten Text übertragen, das Goethe im Thüringer Walde dichten und leben sah, dasselbe Eisenach hat jene beiden größten Gestalten der mittelhochdeutschen Dichtung zusammengeführt. „Tiutsche man sint wol gezogen, rehte als engel sint diu wîp getân.“ Walthers Sang war wohl herausgefordert durch den übermütigen Peire Vidal, der das gleiche überschwängliche Lob nur der Provence einräumt und in beschränktem Hochmut die deutschen Männer wüst und tölpisch schilt Aber in Wien hätte der junge Walther den Mut zu diesem stolzen nationalen Lied schwerlich gefunden. Der Süden beugt sich lange der fremden hövescheit, der Norden steht ihr von vorn herein freier gegenüber. Wir übersehen nicht, was entscheidend war. Das aber sehen wir, daß grade in Thüringen und Hessen und sonst in Mitteldeutschland von Veldeke an antike Stoffe en vogue sind und zugleich ein fröhliches nationales Empfinden gedieh, das der romanischen Liebestrauer nur bescheidenen Raum lässt. Von ‘deutschen’ Frauen sprach beiläufig schon Heinrich von Morungen, der leidenschaftliche Poet, dem man hat nachweisen können, daß ihm Ovid nicht fremd war, Ovid, den sein Landsmann, der Halberstädter Albrecht, übersetzte. Mit keckem nationalem Selbstgefühl hebt der hessische Dichter des ‘Grafen Rudolf’ den deutschen Kaiser hoch über alle Könige. Sollte der nationale Sinn, der uns Walther teuer macht, der ihn zum Vorkämpfer des hohenstaufischen Kaisertums prägt, nicht auch aus dem humanistischen Geist mitteldeutscher Bildung stammen, die wir freilich nur unsicher aus ihren Früchten und Symptomen kennen?

Und da tritt Wolfram ergänzend dazu. Ein wundervolles Rätsel, dessen volle Lösung, wenn sie je gelingt, vielleicht ein wichtiges Kapitel nationaler Bildung erschließen wird. Wahrscheinlich kennen wir die französische Quelle seines „Parzival“. Aber sie bedeutet nichts: ihr fehlt nahezu alles, was uns dies Epos wert macht. Und Wolframs eigene sonderbare Gelehrsamkeit, die Gelehrsamkeit des Illiteraten, die ist curios lateinisch: allerlei Solinus oder Plinius; im Hintergrunde jedenfalls ein beratender Freund, der mit dem Altertum wohl vertraut war: Virgilius, Lygdamus, Antigone heißen Figuren des Parzival. Es ist nicht der nationale Sinn, der für Wolfram aus dieser Berührung keimt: hier erwächst der einfache reine Mensch, der auch im Heiden den Menschen liebt, der zwar die sittlichen Momente höfischer Zucht verehrt, der aber vor allem sein eignes Leben lebt, mit seinem Gott in sich fertig werden muss. Durch alles Bizarre und Seltsame hindurch doch die Geschichte des Menschen, der immer strebend sich bemüht. Die mittelhochdeutsche Poesie zeigt sonst nirgend seinesgleichen: das höfische Ideal will Vollkommenheiten für die Gesellschaft, das christliche Entsagung und Weltflucht. Man hat Faust und Parzival gelegentlich in einem Atem genannt. Im Grunde widerstrebt mir der Vergleich. Aber ein leiser Hauch von der Freiheit humanen humanistischen Geistes weht wirklich durch Wolframs Reime.