Humanistische und nationale Bildung, eine historische Betrachtung.

Vortrag gehalten in der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 6. Dezember 1905
Autor: Roethe, Gustav (1856-1926), Erscheinungsjahr: 1906.
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Meine Herren!

Uns vereinigt hier die dankbare Liebe zu einer Bildung, die wir bedroht wissen und in der wir doch starke Wurzeln unsrer persönlichen und unsrer nationalen Kraft sehen. Wir fürchten für das liebe Vaterland, wenn wir für das kostbare Gut humanistischer Bildung fürchten. Die Liebe fragt nicht viel nach Gründen: sie trägt eine innere Gewissheit, einen Glauben in sich, die keiner Beweise bedürfen: das tiefste und feinste ihres Gehaltes entzieht sich doch der Formulierung, und die Scham schließt ihr den Mund. „Wenn wir uns dem Altertum gegenüberstellen und es ernstlich in der Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.“ Etwas von dieser Erfahrung Goethes hat jeder gemacht, der als Schüler des Gymnasiums würdig war. Diese eigene Erfahrung greift ins Tiefste: wer mag davon reden? Aber bekennen sollen wir, im Weiten und im Engen. Vor einem Jahre hat Herr Harnack diesem Kreise in unbefangener Ruhe und vielseitiger Umschau, warm und klug entwickelt, was von Überzeugungen uns etwa gemein ist, die wir für die Fortdauer des echten humanistischen Gymnasiums einstehen. Gestatten Sie mir, daß ich heute persönlicher und einseitiger spreche!

Herr Harnack hat seine Worte in das Gleichnis von den drei Ringen ausmünden lassen: drei Ringe, drei höhere Schulen. Welcher von den drein seine Liebe gehört, das hat er nicht verschwiegen; aber allen drein gestand er die Echtheit zu. Wie in hundert und aber hundert Jahren des weisen Richters Wahrspruch lauten wird, das weiß ich nicht. Heute halt ich mich an die schlichte Fabel, und für sie hat der Mann im Osten, der seinen Wunderring von lieber Hand erhielt, doch nur den einen Opal, der in hundert schönen Farben schillernd seine geheimen Kräfte ausströmt. Diesen Opal kennen wir, so lange wir unser Volk kennen, und wir wissen, daß er seine Macht nicht verloren, ja daß sie sich im Laufe der Jahrhunderte fast wunderbar immer aufs Neue verjüngt hat Mag sein, daß es ernste Notwendigkeit ist, auch höhere Schulen stärker nach praktischen Bedürfnissen auszugestalten als die geschlossene Form des Gynmasiums das zuließ. Und gewiss, wir brauchen überall Männer, die derb und kräftig zufassen, dem Tage mit schnellem Auge und Willen ansehen, was er unmittelbar braucht; eine Hypertrophie der rein geistigen Bildung wird keinem Volke gut bekommen. Und Mannigfaltigkeit der Erziehung ist an sich ein großer Vorzug. Das alles ändert nichts daran, daß der geistige Generalstab noch auf lange, auf immer, wenn Menschen so reden dürfen, durch die Schule von Hellas und Rom gebildet werden muss. Regierungserlasse können verschiedene Bildungswege wohl gleichstellen, aber nicht gleichwertig machen, und die Universität wird — schon jetzt macht sich das fühlbar — schwer darunter leiden, daß ihr die sichern gemeinsamen Grundlagen aller geistigen Kultur nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzung gelten dürfen. Über die Erfolge der Oberrealschule kann ich aus eigner Erfahrung nicht sprechen, und so enthalte ich mich des Urteils, so wenig ich zweifle, daß Menschengeist und Menschenschicksal, nicht die eherne Gesetzmäßigkeit der Natur, die berufenen Erzieher der Unreifen sind. Dagegen sind die Realgymnasiasten längst zum Studium der neueren Sprachen zugelassen, und seit bald 20 Jahren kann ich die Ergebnisse der beiden Schulen vergleichen, von denen die eine das Griechische, die andere das Englische voraus hat, das gerade für deutsche Philologen einen Vorsprung fachlichen Wissens bedeutet. Fast bin ich erstaunt, wie weit an bildender Kraft die neuem Sprachen da zurückstehen: in Schmerz und Zorn hat mir schon manch braver Gesell sein Herz ausgeschüttet über die Überlegenheit, die nach kurzer Zeit die Gymnasiasten überall erwarben. Freilich als Philologen. Aber es handelt sich doch um die Jünger der Wissenschaft vom deutschen Geiste.

An dem einen Opal und seiner gottgegebenen Kraft, die um so sicherer wirkt, je geheimer sie waltet, bin ich nie irre geworden. Nicht ganz so zweifellos scheint mir, ob der Opal noch in der rechten Fassung steckt. Das Gold realistischer Bildung ist leichter in die Scheidemünze umgesetzt, die der Tag braucht, und so hat man bis heute, wies scheint, das Gymnasium allzusehr mit Dingen belastet, die seinem Wesen kaum gemäß sind.
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