Fortsetzung 2 - Ich habe keinen Anlass gefunden, mich mit diesen Elementen auseinander zu setzen, ...

Ich habe keinen Anlass gefunden, mich mit diesen Elementen auseinander zu setzen, und ich hätte ihnen kaum etwas zu sagen. Die Geschichte spricht nicht zu ihnen, sie lehnen ihre Lehren wohl auch mit Bewusstsein ab. Ich aber weiß keinen andern Weg, für die Zukunft zu lernen und zu arbeiten, als indem ich die Geschichte, d. h. die Erfahrung des Volkes, befrage. Sie versagt die Antwort nicht, und sie spricht eine deutliche Sprache.

Wir Germanen sind unter den indogermanischen Völkern das bodenständigste und, vielleicht darum, fast das schwerst bewegliche gewesen; nur die Slawen scheinen noch langsamer: es gab eine Zeit, wo die Kelten uns sehr weit voraus waren. Die unbequeme Wahrheit, daß uns die natürliche Anlage zur Form fehlt, ist beinahe zur Trivialität geworden. Man sollte sich nur ernsthaft klar machen und klar halten, was dieser Mangel bedeutet.


Leidenschaftliche Energie stürzt auf ein Ziel los und sieht nicht rechts noch links: Eine Silbe des Wortes bekommt alle Wucht und allen Klang der Stimme, die andern mögen verkümmern; eine Wortgattung beherrscht den Satz, wenige Begriffe die Kunst unsrer Ahnen; ein Held sammelt die Taten aller: Superlative mehr als Typen oder gar Individuen. Gewaltige Kraft, die doch verbraust, weil sie sich nicht zu formen weiß: ein mächtiges Volk, das sich selbst so gar nicht kennt Germanen haben die Fremden uns genannt; den Deutschen gabs nur Burgunder und Langobarden und Cherusker.

Nicht die Erziehung zur Schönheit, zur Kunst steht uns in diesem Zusammenhange voran. Es bedurfte Normaler Bildung’, damit die Germanenvölker sich als eine Nation erkannten, ‘formaler Bildung, damit sie das Individuum duldeten, ja ehrten, das sich losriss von Sippe und Tradition, und wiederum damit dies Individuum sich hingeben lernte an das Ganze. Jede Bildung, jede Schöpfung ist Form. Und nun vollzieht sich das große historische Phänomen: dieser formspröde Stamm entwickelt in der Schule der Antike eine Fähigkeit des Lernens und Werdens, in der er schließlich allen Genossen der großen Schule, ja dem Meister selbst über den Kopf zu wachsen scheint. Aber er braucht immer wieder die Fühlung mit diesem ihm wahrhaft mütterlichen Boden, und wo er sie verliert, da tauchen die natürlichen Triebe zur Verwilderung immer wieder auf. Herr Harnack hat schon angedeutet, was ich hier näher berühren will: bei allem Großen, was wir vollbracht, wo immer wir uns zur Leistung sammelten, sind die Alten dabei gewesen, und man begreift den guten Glauben, den ein braver Aristophanesübersetzer des 16. Jahrhunderts hegte, daß Gott seine lieben Deutschen besonders im Auge gehabt habe, als er die alten Griechen zu neuem Leben erweckte.

Bei allem Großen, und bei wieviel Kleinem! Der Prozess nationaler Selbstbesinnung beginnt mit der Völkerwanderung. Wie die Sieger von den Besiegten in gierigem Durste zu lernen wussten, haben die Goten erwiesen: auch die Schwäche deutscher Art, die leidenschaftliche auflösende Hingabe an die fremde Kultur, hat sich tragisch an ihnen bewährt: wir stoßen wohl auf einen Fürsten, der über dem Plato Schaden an seinem deutschen Mannesmut gelitten hat. Opfer heischt jeder bedeutende Fortschritt. Die künstlerische Frucht dieser großen Zeit, den Heldensang, kennen wir leider wenig: das aber sehen wir, daß er wenigstens Anläufe nahm, sich über die Enge der Stammespoesie zu erheben zu den Anfängen nationaler Dichtung: der Gote und der Burgunder, der Franke und der Thüringer finden in ihr neben einander Platz. Und der große Volkskönig, der im Begriffe stand, ein Reich gotisch-römischer Kultur zu schaffen, der ein Erzieher seines Volkes war zur civilitas custodita, Dietrich von Bern rückt auf den Ehrensitz der Sage, obgleich sein Volk längst verschwunden war.

Was jene Jahrhunderte, was die Tage der Karolinger, der Ottonen an antiken Einflüssen über uns Deutsche ausgegossen haben, das ist gar nicht zu erschöpfen. Heidentum und Christentum. Im Gefolge des neuen Glaubens strömen die ungeheuren Massen des antiken Aberglaubens mit herein. Der Fortschritt auf den Pfaden zumal der niederen Mythologie deutet wieder und wieder auf antikes Gut: selbst unser Weihnachts- und Julfest hat das eigentlich Germanische vor der historischen Forschung fast hoffnungslos eingebüßt; und auch was unsre fleißige Volkskunde heute ausgräbt, wird sich wahrscheinlich noch in ganz anderem Maße als bisher auf römisch-griechische Grundlagen zurückführen. Der Priester, der Mime, der Kaufmann haben eingeschleppt, und die wandernden Völker selbst haben sich auf dem Boden des römischen Reichs und seiner Provinzen mit römischer Kultur vollgesogen. Man redet so viel von deutscher Art Gut! Nur soll man nicht vergessen: von einer reinen deutschen Art vor antiken Einflüssen wissen wir auf dem Kontinent so gut wie gar nichts. Der vergleichenden Forschung schälen sich ja gewisse sittliche und rechtliche Gedanken und Empfindungen als urgermanisch heraus; aber der Weg der Vergleichung führt seinem Wesen nach nur zu verschwimmenden Bildern. Auch unsre schönen und reichen Personennamen geben doch nur vage Umrisse der nationalen Physiognomie. Im übrigen muss die Sprache schon darum mit Vorsicht befragt werden, weil sie durchtränkt ist mit greifbaren und ungreifbaren lateinischen Elementen. Von den harmlosen durchsichtigen Lehn- und Fremdworten will ich gar nicht reden: viel bedeutender und schlimmer sind die Nachbildungen, von denen unsre Sprache wimmelt, die fremde Begriffe mechanisch übersetzen, ohne sie ganz zu verdauen: wie wir etwa expressio in ‘Ausdruck’, Providentia in ‘Vorsehung’, conscientia in ‘Gewissen’, mortales in ‘die Sterblichen’ umdeutschen. Wir haben einst sogar lateinische Suffixe entlehnt, wie das -er von Jäger, Müller (molinarius), und der Berliner ‘Kellneer’ hat nicht nur die vokalische Länge, sondern vielleicht sogar die Be- tonung des cellerarius bewahrt. Und wenn wir Norddeutschen die Frau Müller behaglich nachlässig zur ‘Müllerschen’ machen, so greifen wir wieder zu einem lateinischen Suffix. Unser trauliches Diminutivum, der älteren Sprache wenig geläufig, steht unter dem selbst missverstandenen Einfluss lateinischer und romanischer Vorbilder: daß wir eine Sache am Schnürchen kennen und nicht an der Schnur, beruht auf der Wortform des lateinischen, perpendiculum, und wenn wir im Kämmerlein unser letztes Stündlein abwarten, so spielen uns cubiculum und articulus mortis unbewusst mit herein. Und nun gar die Syntax. Kein Teil unserer Sprache hat eine so strenge lateinisch-griechische Zucht erfahren: durch Jahrhunderte ist alle unsre Prosa unfreiste Übersetzungsliteratur gewesen; ja man kann getrost behaupten: die innerliche Befreiung unserer Prosa von fremdartigen lateinischen und romanischen Eindringlingen und Einwirkungen datiert erst von unsern Klassikern, datiert von den Tagen, da Griechenland sichtbar für alle Welt mildernd neben Roms herbe Strenge trat. Sollen wir wirklich beklagen, daß wir gelernt haben, Sätze in Perioden zu binden, über- und unterzuordnen, daß wir Participial- und Infinitivkonstruktionen anzuwenden wissen, daß wir dem Präteritum das Perfect und Plusquamperfect, dem Präsens das Futurum angliedern konnten? Wir haben eine echter germanische Prosa gehabt, drüben in Island — freilich auch vor der germanischen Urechtheit dieser entlegenen nordischen Kulturen haben sich neuerdings beständig wachsende Zweifel geregt — , und ich fühle tief die eindrucksvolle anschauliche Wucht ihrer kurzen sparsamen Sätze. Aber die Fähigkeit, Stimmung zu geben, Zusammenhänge fest und lose zu knüpfen, die feineren Seelenschwingungen anzudeuten, das alles besitzt sie nicht, und sie strebt gar nicht danach, so lange sie sich treu bleibt: nur große und feste Züge, kein Haarstrich, kein Schatten. Wer heute seine Muttersprache liebt, wird die lateinische Zucht, die ihr beschieden war, still und laut preisen, nur vielleicht bedauern, daß die süße Rede von Hellas nicht früher ihre befreiende Wirkung geübt hat. Die wissenschaftliche Arbeit zeigt, wo sie hinleuchtet, mehr und mehr, was uns Deutschen bis in die tiefsten Winkel unsers Lebens hinein der Einfluss der Antike gewesen ist. Man mag das beklagen, aber man darf es nicht leugnen. Wer deutsche Art und Eigenart verstehen will, er muss selbst durch die lateinische Schule, die die Nation in langen Jahrhunderten durchgemacht hat.