Der Handel von Alfred O'Swald, Vorsitzender des Verbandes des Hamburger Einfuhrhandels

An der Stelle, wo Hamburgs Gründer, um das Jahr 800 herum, die erste Burg erbauten, wird immer, so lange der Haupt-Güterverkehr noch auf dem Wasser befördert werden muss, ein großer Warenumschlagsplatz sein; denn bis Hamburg führt die Elbe die tiefgehenden Seeschiffe, von da aus trägt sie die Güter zum Innern Deutschlands und bis ins Herz von Österreich und Polen. Die für die nächste Zukunft überaus bedeutungsvolle Versorgung der nordischen Reiche und besonders Russlands, die im Mittelalter die kürzeste Landbarriere zwischen Hamburg und Lübeck gewählt hatte, ist seit dem Bau des Nordostseekanals in den Tätigkeitsbereich von Hamburgs Handel und Schifffahrt einbezogen. Die Natur hat unsere Stadt für Handel und Waren-Verkehr bestimmt. Und was die Lage an Vorteilen bot, ward von Generation zu Generation mit kluger Umsicht weiter ausgestaltet. Niedersächsischer Stetigkeit gesellte sich portugiesische Eindrucksfähigkeit, niederländische, englische und überseeische Handelserfahrung und französische Geisteskultur, zum germanischen Beharren in gegebener Überlieferung trat, stets als vollgültig anerkannt, jüdische Raschheit und Wendigkeit des Geistes. Selbständige staatliche Leitung seines Geschickes ermöglichte in geschickter politischer Anpassung Hamburg stets eine Pflege und Förderung seiner Sonderbedürfnisse. Vor der Sturmflut des dreißigjährigen Krieges schützten es seine mit Bürgerklugheit neu erbauten Wälle und Mauern. Rechtzeitige Abkehr von der zum allmählichen Absterben verurteilten im mittelalterlichen Weltbilde befangenen Hanse erschloss ein unendlich erweitertes Arbeitsfeld. Bald wurden direkte Handelsbeziehungen mit den reichen westindischen Inseln, mit Südamerika, mit dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten Nordamerika aufgenommen. Afrika verdankt nicht zum wenigsten Hamburger Unternehmungsgeist seine kommerzielle Erschließung. Später folgten Ostasien, die Südsee und Australien, bis für den Hamburger Handel das von Albert Ballin geprägte stolze Wort:

„Mein Feld ist die Welt"


mit Recht galt.

Die politische Stellung als Freie Stadt gab stets neu ergriffene Gelegenheiten zur Einstellung der gesammelten Kraft auf die Pflege des Handels. Was seiner Förderung dienstbar war, ward stets zur obersten Handelsrichtlinie Hamburgs. Die nie erlahmenden Ausbau- und Erhaltungsarbeiten am Elbefahrwasser, die Schöpfungen der großen schleusenfreien Hafenbecken sind ein im vergängliches Zeichen dafür. Doch unfruchtbare Einseitigkeit ward vermieden. Parallel zum Hafenbau ging schon in früher Zeit der Ausbau des schmalen Alsterflusses zu jener majestätisch breiten Wasserfläche, die dem Stadtbild eine Schönheit vor vielen anderen verleiht. Und die Landsitze an Elbe und Alster, die privaten und öffentlichen Kunstsammlungen, der vielfach noch verkannte Anteil am literarischen Leben Deutschlands, die ehrwürdigen, der Stadtsilhouette die Prägung verleihenden Kirchen sind Beweis dafür, dass auf der Grundlage des Handels ein reiches Geistesleben in Hamburg seine Stätte fand.

In stetiger Entwicklung stieg Hamburgs Bedeutung im Handel der Welt vom Kleinen zum Großen, vom Nahen zum Fernen, vom Engen zum Weiten. Aufbauend auf dem, was Väter und Vorväter geschaffen, führten es Söhne und Enkel weiter hinaus und hinauf. Zu unlöslicher Einheit verwuchs vielfach die Firma mit dem Familienschicksal, es erhebend zu stolzer Höhe in guten Tagen, es stürzend in den Abgrund der Vernichtung bei nicht ausbleibenden Rückschlägen oder aussterbender Tüchtigkeit; denn nur die beste Kraft ist gut genug, das Werk der Vergangenheit neuer Zukunft entgegenzuführen.

Als ewiger Jungbrunnen erwies sich immer wieder das Entstehen neuer Geschäftshäuser, deren Inhaber durch ihre Tüchtigkeit, Fleiß, Umsicht und Glück aufstiegen aus der Menge, bis sie das höchste Ziel Hamburger Kaufmannschaft erreicht hatten, ihre Firma zu führenden, ja zur Weltfirma gemacht zu haben. Dazu befähigte den Hamburger Kaufmann die seit Jahrhunderten geübte Überlieferung, in jungen Jähren hinaus zu fahren in die Welt, sich dort unter fremden Völkern zu betätigen, im Verkehr mit ihnen ihre Gebräuche und Bedürfnisse gründlich kennen zu lernen, sich einen weltweiten Blick, handelspolitische Schulung großen Stils zu erwerben. Jede Generation machte das Wort wahr, das mit goldenen Lettern an der Stirnseite unseres Rathauses steht: ,,Freiheit, die uns die Väter erwarben, würdig zu wahren". Und dass solcher Grundsatz nicht zum kleinlichen, engen Verweilen bei dem einmal Errungenen führte, dafür sorgte der belebende Hauch des benachbarten Meeres, die Konkurrenz der ganzen Welt, die kein Rasten und Ruhen auf dem Erreichten gestattete.

Feste Fundamente trugen das hochragende Gebäude des Hamburger Handels. Das haben nicht erst die schweren Hochsommertage des Jahres 1914 mit ihrer ruckartigen Abschnürung des gesamten Überseeverkehrs gezeigt, nicht die schicksalsschwer dahinrollenden Jahre dieses weltumgestaltenden Krieges, das erweist auch ein Blick auf Hamburgs Vergangenheit.

An anderer Stelle ist in diesem Buche aus berufener Feder dargelegt, wie der Hamburger Handel die schweren Erschütterungen nach dem siebenjährigen Krieg, die Krisis des Jahres 1799, furchtbare Not der Franzosenherrschaft in den Jahren 1806 bis 1814, die Februar-Revolution von 1848, die Kreditkrisen von 1857 und 1873 siegreich überwand; die Erinnerung daran kann und soll uns Zuversicht verleihen für die einstweilen düster verhangene Zukunft Hamburgs und soll aller Welt Kunde geben von dem, was Hamburg war, ist und sein wird nach dem unsagbaren Zusammenbruch. Hamburg lebt noch, Hamburg trotzt, wie die Buchen aus Bismarcks Sachsenwald, Unwetter und Sturm. Auch Zeiten anhaltender Dürre, die viel schwächeres lieben versengten, vermögen seine Lebenskraft nicht zu vernichten. Das ist nicht ein Wort, leichtfertig hingeschrieben, das ist tief innerlicher Glaube an die wurzelstarke Entwicklung unserer Stadt, an die Berufung zu neuen Aufgaben, die auch das Chaos unserer Tage für uns in sich trägt: Man frage den Hamburger, wann er seinen Hafen am meisten liebt, man wird die Antwort bekommen: an regenschweren, wölken verhangenen Tagen, wenn die belebende Kraft der Sonne, die auch verborgen alles erhellt, nur geahnt wird, wenn der Kampf der Elemente Menschenkraft und -werk zu doppelter Anspannung zwingt. So muss auch Hamburgs Not nur stählend wirken und alle Energie zusammenschweißen zu neuer Tat.

Verlockend wäre es, den Wegen zu folgen, die Hamburgs Söhne gegangen sind in die Weite der Welt, als ,,abenteuernde Kaufleute" neue Gebiete erschließend und, wo der Fuß Raum gewonnen, mit zäher Energie Zelle an Zelle fügend, bis der Bau vollendet ward. Und doch — das war gerade ein Zeichen des Hanseatengeistes: eine Vollendung gab es nicht. Immer wieder erschloss Gewonnenes neue Möglichkeiten, und Möglichkeiten zum Schaffen werden zur moralischen Verpflichtung. Es gab kein Beharren. Auch bildlich genommen, lag Hamburg an lebendigem, nie ruhendem Strom, nicht am seichten Brackwasser toter Flussarme.

Ost-, West- und Südafrika, Marokko und der Orient, Japan und China, Niederländisch-Indien und die ,,Perle aller englischen Kronkolonien", die Straits Settlements, die Südsee und Amerika mit seiner unermesslichen Fülle, die Vereinigten Staaten sowohl wie Mexiko, Peru und Ecuador, Bolivien und Chile, Brasilien und Argentinien — jeder Name, der anklingt, lässt dem Kundigen ein Bild erstehen von Hamburger Firmen, die unlöslich mit der Wirtschaftsgeschichte des betreffenden Landes verbunden sind, die meist als Pioniere den Handel mit dem alten Kontinent erschlossen haben und dann bei immer breiterer Ausgestaltung führend blieben als die eigentlichen Aristokraten vom alten Kaufmannsblut.

Eine solche historische Betrachtungsweise der Ausbreitung des Hamburger Handels stellt einen bisher noch nicht erfüllten Wunsch der Hamburger Kaufmannschaft dar und würde hier auch bei nur grober Umrissskizze weit über den gegebenen Rahmen hinausgehen. Auch eine Einzeldarstellung der verschiedenen Warenzweige kann hier nicht gegeben werden, weil die notwendige Beschränkung zu willkürlichem Herausgreifen führen müsste. So weit zusammenfassende Zahlenreihen eine Vorstellung vermitteln können, sei hier der Versuch gemacht durch eine Zusammenstellung für 30 Import-Artikel, in denen der Hamburger Markt ausschlaggebende Bedeutung hatte:

Tabelle Seite 76 Einfuhr 1913 Ausfuhr 1913

Dass diese Übersicht nur einen verhältnismäßig geringen Bruchteil der Ein- und Ausfuhrmengen und vorwiegend die hochwertigen Güter umfasst, lehrt ein Blick auf die Gesamt Ziffern der Ein- und Ausfuhr seewärts, die sich für 1913, wie folgt stellen;

Gesamteinfuhr seewärts 165.484 4.716.186
Gesamtausfuhr seewärts 89.095 3.864.914

Bedeutung und Umfang des Hamburger Gesamthandels werden aber durch die Einfuhr- und Ausfuhrziffern des Hamburger Hafens nicht annähernd erfasst. Der Schwerpunkt des Handels lag und liegt zum Teil heute noch in seinen überseeischen, eigenen Niederlassungen, seinen zahlreichen dortigen Verbindungen. Was für diese außerhalb Deutschlands gekauft, von ihnen für Hamburger Rechnung nach nichtdeutschen Häfen direkt verladen wurde, ging in die Tausende von Millionen Mark jährlich.

Engherzig-nationalistische Politik war nie die Sache des Hamburger Kaufmanns; seine Zweighäuser in Süd- und Ostasien, in Südamerika und Afrika wurden zu ebenso wichtigen Bindegliedern zwischen diesen Gebieten und den außerdeutschen Handels- und Industriemächten, wie sie es für das deutsche Vaterland waren. Die teilweise Vernichtung dieser Organisation wird sich auch für unsere Feinde empfindlich fühlbar machen; die englische, französische, amerikanische Industrie- und Handelswelt wird noch, erkennen, dass die Ausmerzung des hanseatischen Handels ein Schnitt ins eigene Fleisch war, und die Überzeugung wird sich Bahn brechen, dass der kühne Unternehmungsgeist, die Erfahrung und die Anpassungsfähigkeit des großzügigen hanseatischen Kaufmanns nicht dauernd aus dem Getriebe der Weltwirtschaft ausgeschaltet werden darf ohne Schaden für die Gesamtheit!

Dank den nach allen Ländern der Erde gesponnenen Fäden verfügt die Hamburger Kaufmannschaft über eine Kenntnis der fremden Länder und Völker, wie man sie nirgendwo sonst in Deutschland antreffen wird. Keine Gegend der Erde von einiger weltwirtschaftlicher Bedeutung ist so entlegen, dass man nicht an der Hamburger Börse, diesem einzigartigen, für jedermann zugänglichen Brennpunkt des wirtschaftlichen Lebens der Hansestadt, einen Mann treffen könnte, der sie aus eigener Erfahrung kennt oder wenigstens in Beziehungen zu ihr steht. Ist es doch gute Althamburger Tradition, dass jeder Sohn eines Kaufmannshauses mindestens einige Jahre seiner Ausbildung im Auslande zubringt, um fremde Sprachen und Sitten, ausländische Wirtschaftsverhältnisse gründlich kennen zu lernen. Zahlreiche aus diesem Brauch entstandene Familienbande tragen zur starken Festigung der geschäftlichen Beziehungen nach dem Auslande bei und fördern die Errichtung überseeischer Niederlassungen, die Schaffung neuer Absatzkanäle, die Beteiligung an ausländischen Firmen, die Finanzierung eigener und fremder Unternehmungen.

Die stolze Blüte des Deutschen Reiches, die uns den Neid und Hass der großen Handelsmächte zuzog und eine der am meisten hervortretenden Ursachen der furchtbaren Katastrophe des Weltkrieges ist, begann von dem Zeitpunkt ab, als es gelang, die wachsenden Volksmassen in der Heimat festzuhalten durch Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu einzig dastehender Intensität mit Hilfe ausländischer Dünge- und Futtermittel und durch Beschaffung der fehlenden Nahrungsmittel und Rohstoffe aus dem Auslande, dem unsere glänzend entwickelte Industrie hochwertige Fabrikate in überreichlicher Menge als Zahlung bieten konnte. Die vermittelnde Rolle bei dem riesenhaften Tauschgeschäft fiel vornehmlich dem hanseatischen Kaufmanne und Reeder zu. Hamburger Häuser boten den Salpeter Chiles, die Kopra der Südsee und Ceylons, das Öl und die Früchte der afrikanischen Ölpalme, die Leinsaat, den Weizen und Mais Argentiniens, den Reis Siams und Indiens, das Getreide und Schmalz der Vereinigten Staaten, den Kakao Afrikas und Amerikas; Hamburger Dampfer brachten den Kaffee Brasiliens, die herrlichen Früchte und Weine des Südens, die Gewürze der Tropen, den Tabak Amerikas, Indiens, des Balkans heran. Für die Industrie beschaffte der Hamburger Handel Häute und Gerbstoffe, Erze und Metalle, Wolle und Baumwolle, Hanf und Jute, Harze und Wachs, Kautschuk und Guttapercha: immer erfolgreich bestrebt, direkte Handelswege zwischen dem Produzenten und Deutschland herzustellen und der deutschen Wirtschaft die Zwischengewinne fremder Händler zu ersparen. Tief im Urwald tauschten hanseatische Faktoreien die Sammelprodukte der Eingeborenen ein; direkt von der Plantage oder Farm oder auf den überseeischen Märkten machten hamburgische Handelsagenten ihre Einkäufe. In rastlosem Unternehmungsgeist wurden neue oder in Deutschland noch nicht eingeführte Rohstoffe herangeschafft, jenseits des Ozeans Plantagen, Farmen und Bergwerke angelegt, fremde Unternehmungen finanziert, Agenten und Expeditionen zur Erkundung neuer Produktions- und Handelsmöglichkeiten entsandt.

Auf der anderen Seite lenkte Hamburgs Handel die Erzeugnisse deutschen Gewerbefleißes und deutscher Intelligenz bis zu den entlegensten Märkten der Welt, überall der deutschen Ware zu Ansehen und Beliebtheit verhelfend. Mit nie rastender Emsigkeit und Gründlichkeit wurden die Bedürfnisse fremder Völker erkundet und für ihre Befriedigung unter schmiegsamer Anpassung an die Landessitten und Zahlungsgewohnheiten gesorgt. Unschätzbare Dienste leistete der Hamburger Handel dabei der deutschen Industrie, die nicht nur ständig auf kürzestem Wege unterrichtet wurde, für welche Produkte Nachfrage herrschte, sondern auch in welcher Qualität und Aufmachung diese die größte Aussicht auf guten Absatz hatten. Den guten Ruf, den die deutsche Ware als Qualitätsware errang, verdankt sie neben der Industrie vornehmlich auch dem Handel, dessen hanseatische Vertreter stets sorgsam darüber wachten, dass nicht minderwertige Lieferungen das Vertrauen des Auslandes täuschten. Nichts vermag den Ruf des Hamburger Kaufmanns besser zu beleuchten als die Tatsache, dass ein großer Teil des Exporthandels sich auf Grund schriftlicher oder telegraphischer Offerten abwickelte, indem der fremde Überseeer auf das solide Geschäftsgebahren seines Hamburger Freundes rechnete und diesem die Sorge überließ, auf die Lieferung einwandfreier Ware zu achten; und dass dem Hamburger Importeur in großem Umfange Waren aus Übersee in Konsignation zugingen, da sein ausländischer Geschäftsfreund wusste, dass er auf die Ehrenhaftigkeit des Hamburgers felsenfest bauen konnte. Von Hamburg ging dieser Ruf auf den gesamten deutschen Handel und die deutsche Industrie über. „Deutsch" wurde gleichbedeutend mit „gut" und ,,preiswert".

Um die Leistung recht zu würdigen, die der Hamburger Handel erbracht hat, muss der verspätete Eintritt Deutschlands in die Weltwirtschaft in Betracht gezogen werden. Bis zur Schaffung des Deutschen Reichs war Hamburg auf sich selbst gestellt. Was andere Nationen mit dem Rückhalt an einer straffen Zentralgewalt schaffen konnten, musste der räumlich eng umgrenzte Stadtstaat an der Niederelbe aus eigener Kraft vollbringen; und kein schlechter Ruhm ist es für Hamburg, dass sein dreigetürmtes Wappen und seiner Reedereien Kontorflaggen überall mit den Nationalflaggen großer Reiche erfolgreich in Wettbewerb traten. Auch als die schwarzweiß-rote Flagge am Heck seiner Dampfer wehte, als Bismarck, dem das dankbare Hamburg auf hafenbeherrschender Höhe das schönste Denkmal Deutschlands gesetzt hat, das Reich gegründet, musste Hamburg aus eigener Kraft Riesenleistungen erbringen. Nicht so sehr an die materiellen Aufgaben des Strom- und Hafenbaus, der Schaffung und Erhaltung aller dem Kaufmann dienenden Institute und Einrichtungen wird hier gedacht, als an die Aufgabe, das durch seine geschichtliche Entwicklung vorwiegend binnenländisch orientierte Deutschland zum Überseevolk zu erziehen, ihm die für die Weltwirtschaft unerlässliche Einstellung zu vermitteln und die Hingabe an die neuen, von aller Kirchturmpolitik meilenweit abliegenden Anforderungen zu erreichen.

Hamburg hat die Aufgabe erfüllt, in Welt und Heimat gleich hellen Klang hatte sein Name.

* * *

Doch es ist nicht die Zeit, weiter die Blicke rückwärts schweifen zu lassen. Das was einst war, kann Hamburg getrost dem Urteil der Geschichte überlassen, es wird Bestand haben. Es wird aber auch Bestand haben in allen seinen früheren Arbeitsgebieten. Mag
blind wütender Hass die Niederlassungen Hamburger Häuser in aller Welt von Grund auf zerstört, die ehemals freundschaftlichen Beziehungen mit ekler Verleumdung vergiftet haben — wenn die Psychose des Krieges ausgeglichener Ruhe gewichen sein wird, dann wird auch wieder gerechtes Urteil werden den Leistungen Hamburgs in der Welt.

Wir hier in Hamburg haben uns viel mit dem Versailler Vertrag beschäftigt. Die Besten unserer Kaufmannschaft haben in Paris und Berlin ihren Sachverstand und ihre weltweite Erfahrung zur Verfügung gestellt, um in immer neuen Vorstellungen Abänderung des unheilvollen Dokuments zu erreichen. Vergebens — blinder Hass, kleinliche Parteipolitik, leicht zu überrumpelnde Weltfremdheit haben dies Dokument der Schmach entstehen lassen. Und mit nicht zu übertreffender Gründlichkeit ward all den Gebieten weit in die Zukunft wirkende Vernichtung zugefügt, auf denen Hamburg reiche Arbeit geleistet und Erfolge geerntet. Aber schon bricht sich auch unter den Alliierten immer mehr die Erkenntnis Bahn, dass der Versailler Vertrag praktisch unausführbar ist und auch nicht durchgeführt werden sollte, weil er gegen das eigene Interesse der Alliierten verstößt. Selbst französische Wirtschafter verschließen sich nicht der Einsicht, dass aus einem gänzlich vernichteten Schuldner nichts herauszupressen ist, dass die Zahlungsfähigkeit des Gläubigers selbst von der Zahlungsfähigkeit seines Schuldners abhängt. England und Amerika aber können als kluge Kaufleute die uralte Wahrheit nicht dauernd außer Ansatz lassen, dass, wenn man verkaufen will, — und die Länder ersticken schon jetzt in Rohstoffen, die sie allein nicht verarbeiten und auch nicht verbrauchen können, —man einen Käufer haben muss, der zahlen kann; Zahlungen werden letzten Endes aber nur durch Ware geleistet.

Die Erfahrung wird auch in Kürze zeigen, dass der deutsche Kaufmann in der überseeischen Weltwirtschaft gar nicht entbehrt werden kann. Frankreichs Jugend ist stets nur ungern und in geringer Zahl außer Landes gegangen und selbst England mit seiner größeren und weniger vom Kriege verringerten Bevölkerung dürfte nicht im Stande sein, allein durch seine Volkskraft die riesigen Weltteile, die, wie z. B. Afrika, der Erschließung noch harren, zu meistern. Kühle, sachliche Überlegung wird es dazu führen, sich wieder die Mitarbeiter zu sichern, die beste Leistungen zu vollbringen in der Lage sind.

Norman Angell (The peace treaty und the economic chaos of Europe, London 1919) hat eine prägnante Zusammenfassung der Einwirkungen des Friedensvertrages auf die Produktionsmöglichkeiten Deutschlands gegeben, die hier ihren Platz finden mag, weil sie wie in Holzschnittmanier mit großen Linien die Einengung deutscher Wirtschaft kennzeichnet, die in Hamburg als dem großen Verkehrszentrum besonders spürsam werden muss:

1. Er raubt Deutschland mehr als drei Viertel der Eisenerze, von denen seine Industrie abhing.

2. Infolge von Übertragung der Kohlenfelder und der Forderung großer Lieferungen bleibt Deutschland kaum genügend Kohle für den Hausbrand und praktisch nichts für seine Industrien.

3. Er beraubt das Land seiner hauptsächlichen Zinkvorkommen.

4. Er beraubt Deutschland wichtiger Kalifundstätten im Elsass.

5. Er beraubt Deutschland großer, landwirtschaftlich nutzbarer Flächen, die früher einen Überschuss an Nahrungsmitteln ergaben.

6. Er verlangt die Abgabe von 140.000 Milchkühen*), trotzdem für Deutschlands Kinder und Mütter es an der allernotwendigsten Milch fehlt.

*) Die Zahl ist inzwischen noch beträchtlich erhöht.

7. Er beraubt Deutschland all seiner überseeischen Kolonien, die zukunftsreiche Quellen der Rohstoffbeschaffung waren,

8. Er beraubt Deutschland der gemeinsam mit anderen Nationen gehabten Nutzungsrechte in Marokko und anderen Gebieten.

9. Er beraubt Deutschland seiner Niederlassungen in China.

10. Er beraubt Deutschland großer Mengen des rollenden Bestandes seiner Eisenbahnen.

11. Er beraubt Deutschland all seiner großen seegehenden Schiffe und kann es zwingen, während mehrerer Jahre seine Schiffsbauerzeugnisse den Alliierten auszuliefern.

12. Er stellt seine hauptsächlichsten Wasserstraßen und seinen Verkehr unter die Kontrolle der Alliierten.

13. Er versperrt den unmittelbaren Verkehr zwischen Deutschland und Russland, da das Memelgebiet zu diesem Zwecke von den Alliierten annektiert wurde.

14. Es unterstellt einzelne der bisher wichtigsten deutschen Industrien (z. B. synthetische Farben und Chemikalien, Steinkohlenteer-Derivate) Ansprüchen der Alliierten, die ihnen in großem Umfange eine Kontrolle des deutschen Handels in diesen Dingen ermöglichen werden.

15. Er liquidiert alle deutschen Handelsunternehmungen in feindlichen Ländern und den deutschen Kolonien und unterstellt Deutschlands auswärtigen Handel in ausgedehntem Maße der Kontrolle der Alliierten.

16. Nachdem er das Vorstehende vollbracht hat, bürdet er Deutschland eine Entschädigung auf, welche lediglich bezahlt werden könnte durch eine mit höchstem Wirkungsgrad arbeitende nationale Industrie und einen Außen- und Exporthandel, der sehr viel größer sein müsste als der, den das Land besaß, ehe es die aufgeführten Verluste erlitten hatte.

17. Nachdem er vorläufige Zahlungen in angegebener Höhe erlangt hat, verschiebt er die endgültige Feststellung von Deutschlands Schuld bis Mai 1921.

18. Er unterlässt endlich, irgendwelche positive und bestimmte Vorsorge zu treffen für die unerlässlichen Elemente der deutschen Industrie: Zulassung unter anständigen Bedingungen (on fair terms) zum Lebensmittel-, Rohstoff- und Frachtenmarkt, und Schutz gegen feindliche Zollunterscheidungsmaßnahmen von Seiten benachbarter Staaten — Elemente, durch die allein irgend welche große Zahlungen ermöglicht werden können. Aber stärker als die Bestimmungen des Gewaltfriedens sind die wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die über der Menschen Willen stehen. Die moderne Kultur ist gekennzeichnet durch eine innige Verflechtung der einzelnen Tätigkeitsgebiete. Treffend führt das Norman Angell aus an folgendem scharf kennzeichnenden Beispiel:

„Was vorgeht, ist etwa das Folgende: Damit eine deutsche Chemikalienfirma Drogen in China verkaufen kann, werden die von der Fabrik beschäftigten Arbeiter mit russischem Weizen ernährt, der mit einer englischen Mähmaschine geerntet wurde, während die für diese beschäftigten Arbeiter ihr Brotkorn in Kanada gekauft haben."

In diesem Ineinandergreifen der Räder darf und kann deutsche Arbeit nicht fehlen. Die Erkenntnis wird sich durchsetzen. Nicht ein Zufall ist darin zu erblicken, dass der sogenannte „Friedensvertrag", den Harding, der neugewählte Präsident der Vereinigten Staaten, als den „größten Fehler aller Zeiten" bezeichnet hat, in der Kaufmannschaft aller Länder so herzlich wenig Leser findet, während das von hohem moralischem Mut und großer geistiger Klarheit getragene Buch von John Maynard Keynes (The economic consequences of the peace, London 1919) in allen Kultursprachen die Herzen geöffnet hat für neue fruchtbare Gedanken wahrer Völker-Arbeitsgemeinschaften. Auf diese Selbstbesinnung der Nationen, die kommen muss, wenn Europa nicht dem Chaos verfallen soll, wartet Hamburg und wahrt seine Kraft, um seine naturgegebenen Funktionen im Weltverkehr und -Handel wieder zu übernehmen : aber es wartet nicht tatenlos und verzagt!

Die Kaufmannschaft ist sich bewusst, dass weite Gebiete der Welt, die ihr früher offenstanden, durch Hass und Verleumdung verschlossen sind; die meisten früheren Verbindungen sind abgerissen, viele auf immer zerstört. Die Länder Übersee haben sich während des Krieges finanziell und industriell ungeahnt entwickelt und unabhängig gemacht. Verlademöglichkeiten gewährt fast nur noch fremde Flagge, die Industrie hat sich während des Krieges vielfach ganz selbständig gemacht und strebt in Verkennung der Tatsachen und Möglichkeiten direkte Beziehungen Übersee an, die ihr nur Enttäuschung bringen können. Streiks und Unruhen im zerrissenen Vaterland, ungeheuerliche, nie gekannte Valuta-Schwankungen, Steuern und Abgaben von ungeahnten Höhen, werfen jede Berechnung über den Haufen. Gesetze und Verordnungen ohne Zahl, oft sinn- und zweckwidrig, meistens durch die Entwicklungen überholt, bevor sie zur Ausführung kommen, lähmen den freien, ehrlichen Handel und treffen doch nicht die Auswüchse des Schiebertums. Wie soll Hamburg da den Mut behalten, wieder neu anzufangen mit dem Aufbau? Und dennoch, das ist die Stimmung in Hamburg, und dennoch wird sein Handel seine Bedeutung behalten. Wir Kaufleute sind uns bewusst, dass nicht einfach die alten Wege wieder beschritten werden können. Wie in den alten Hanse-Zeiten werden nicht nur englische merchant adventurers, sondern auch amerikanische, japanische und neutrale Firmen das Geschäft in Hamburg an sich zu reißen streben. Der Hamburger Kaufmann wird vielfach zum Kommissionär von Fremden, Vermittler für Industrie und Kommunen werden. Durch die vernichtenden Bestimmungen des Friedensvertrages werden Antwerpen, Rotterdam und Kopenhagen, in gewissem Umfange auch Köln und Danzig zu einer starken Konkurrenz für Hamburg werden. Langsam nur wird der Eigenhandel, die Schifffahrt unter eigener deutscher Flagge wieder erstehen. Schwer droht die unabwendbare Welt-Handelskrise. Aber Alles wird der Hamburger Handel überwinden, wenn er dem treu bleibt, was ihn groß gemacht hat, und wenn er versteht, aus der gärenden Zeit des Umsturzes die Lehren zu ziehen, die ihn befähigen, auch unter ganz veränderten Verhältnissen zu erstarken und wieder aufzublühen. Wesen erfolgreicher hanseatischer Kaufmannschaft waren vorbildlich schnelle Anpassungsfähigkeit, Wirklichkeitssinn, Phantasie und Schöpfungskraft neben Mut, Beharrlichkeit, nie rastendem Fleiß, unbedingter Ehrlichkeit, die das einmal gegebene Wort unter allen Umständen hält, den kaufmännischen Ehrbegriff an der Hamburger Börse stets hoch gehalten hat. Da empfindet es der Hamburger Kaufmann doppelt schwer, dass ihm durch willkürliche Maßnahmen der Fabrikanten, unvorherzusehende Vorschriften der Regierung die Erfüllung seines Wortes unmöglich gemacht wird, sein guter Ruf leidet.

Vorbildlich war auch überwiegend das gute Verhältnis zwischen Chefs und Mitarbeitern, denen gemeinsam Stolz und Ziel das Blühen und Wachsen der Firma war. Mag dies patriarchalische Verhältnis, besonders für Großbetriebe, auch dahin sein und anderen Formen Platz machen, der gute Geist muss und wird wieder die Oberhand gewinnen, damit allen Beteiligten die gemeinsame Arbeit wieder Freude, Befriedigung und Verdienst bringt.

Aber aus Krieg, Übergangszeit und Umsturz muss der Handel die Lehre ziehen, dass der Einzelne gegenüber den herrschenden Gewalten und Gedanken machtlos ist, dass, sosehr es dem kaufmännischen Individualismus widerstreben mag, nur Zusammenschließen zu machtvollen Verbänden auch dem Handel die Stoßkraft geben kann, um im Kampfe gegen alle jetzt auftauchenden handelsfeindlichen Ideen zu bestehen. Diese zu bekämpfen, sie zum mindesten in erträgliche Bahnen zu lenken, dazu genügt es nicht, so und so viele volkswirtschaftlich gebildete Syndiker anzustellen. Nein, selbst muss der Kaufmann seine Interessen im Reichstage, im Wirtschaftsrat, in den Kommissionsberatungen vertreten. Darum muss in ganz anderem Umfange wie bisher der Großkaufmann auch parlamentarisch geschult werden, er muss wie in England es als Ehrenpflicht empfinden, für seine Berufs-Genossen einzutreten, nicht nur wie er es seit Jahrhunderten gewohnt war im Senat und Bürgerschaft seiner Vaterstadt, sondern im weiteren Betätigungsfeld des gesamten Vaterlandes. Darauf muss der Hamburger Kaufmann der Zukunft von Anfang an hingewiesen und erzogen werden. Wer sich den veränderten Verhältnissen aber nicht mehr anzupassen vermag, der wird dem Nachwuchs, der Jugend, Platz machen müssen. Auf ihr beruht unsere Hoffnung, unser Vertrauen. Möge sie sich dessen stets bewusst sein, dass dauernder Erfolg nur der Lohn nie rastender Tätigkeit ist, durch Spekulation und Konjunktur mühelos erworbenes Geld keinen Bestand hat und nur zu Krisen wie 1799 und 1857 führt. Möge sie in Goethes Sinne neu erwerben, was sie von ihren Vätern ererbt. Dann wird Hamburgs Handel wieder blühen und seine alte Flagge wieder stolz und frei in der Welt über Hamburger Welthäusern flattern.