Jugendeindrücke

Goethes Kenntnis vom Judentum geht bis in seine Kindheit zurück. Aus der Frankfurter Judengemeinde gewann er seine ersten Eindrücke über Lebensart, Sprache und Wert dieses Volkstums. Es ist ihm von da her eine unverlierbare Erkenntnis geblieben, dass es trotz der deutschen Sprache eben doch ein eigenes, von uns Deutschen sich scharf abhebendes Volkstum ist. Wir drucken zunächst ab, was er im Vierten Buch von Dichtung und Wahrheit, also etwa als Fünfundsechzigjähriger, über die Eindrücke sagt, die er etwa als Zehn- bis Vierzehnjähriger in der Frankfurter „Judenstadt“ gewann. (J. A. 22, 175-176.)

“Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand, der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in früheren Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange, bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler, etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds „Chronik“ grässlich abgebildet gesehen, düster vor dem jungen Gemüt. Und ob man gleich in der neueren Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schandgemälde, welches unter dem Brückenturm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, außerordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmutwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden.


Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch und mochten es, wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Laubhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einfluss, die mich entweder hinführten oder empfahlen.“


Goethes Beziehungen zur Frankfurter Judenheit müssen danach ziemlich vertraute und rege gewesen sein. Das Beiwohnen bei einer Beschneidung ist sonst jedem Andersgläubigen strengstens verboten. Sein Gefühl war ein merkwürdiges Gemisch von Achtung, Ehrfurcht, Grauen und Spott. Er sieht in ihnen die Nachfahren der heiligen Männer der Biblischen Geschichte, achtet die Treue zur von den Vätern überkommenen völkischen Sitte, die Freundlichkeit, Tätigkeit, Gefälligkeit, mit der sie dem fremden Christenknaben entgegenkamen, aber verspottet ihr Schachern, ihre Enge, ihren Schmutz ihre unerfreuliche Sprache. Leise klingen die alten Volkserzählungen von Grausamkeiten der Juden gegen die Christenkinder noch nach. Im ganzen betrachtet er sie neugierig, wie er eben auf alles Außergewöhnliche aus war, aber mit dem deutlichen Gefühl, dass sie etwas Anderes, ihm Fremdartiges sind. Die humane Erwägung, dass auch sie Menschen seien, spielt nur obenhin auch mit hinein.

Eine andere Stelle aus Dichtung und Wahrheit zeigte dass er in seiner Kindheit den Juden durchaus auch mit Ehrfurcht zu betrachten verstand. In dem Kindermärchen „Der neue Paris“ heißt es von dem Torhüter im Feengarten: „. . . ein Mann, dessen Kleidung etwas Langes, Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehrwürdiger Bart umwölkte sein Kinn, daher ich ihn für einen Juden zu halten geneigt war“. Es müssen ihm in der Judenstadt also auch solche Gestalten begegnet sein. (J. A. 22, 59.)

An anderer Stelle wieder zeigt sich, wie er sich über die eigenartige Sprache, das Judendeutsch, lustig zu machen wusste. Er erzählt da von seinen Sprachstudien, wie er, um sich die Langeweile der Grammatik und der Übungsbücher etwas zu verkürzen, ein Briefspiel erdichtete von sieben jungen Leuten, die sich gegenseitig ihre Erlebnisse schrieben: in Hochdeutsch, Frauenzimmerdeutsch, Latein und Griechisch, Englisch, Französisch, Italienisch; „der Jüngste, eine Art von Nestquakelchen, hatte, da ihm die übrigen Sprachen abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt und brachte durch seine schrecklichen Chiffern die übrigen in Verzweiflung und die Eltern über den guten Einfall zum Lachen“. (J. A. 22, 144.)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Goethe und die Juden