Judenpredigt

Wie flüssig Goethe das Judendeutsch zu handhaben verstand, zeigt eine Judenpredigt, die in einer Handschrift enthalten ist, die man in Leipzig fand, und die „vielleicht erst seiner dortigen Studienzeit“ angehört (J. A. Band 22, Seite 279-280). Ob es eine Spottdichtung ist, mit der Goethe jüdische Predigten, die er gehöre hat, übertreibend nachäfft, oder ob es Niederschrift einer wirklich gehaltenen Predigt eines Juden ist, ist wohl nicht mehr festzustellen. Der innere Eindruck mag für das erstere sprechen.

„Sagen de Goyen, wer hätten kä König, kä Käser, kä Zepter, kä Kron’; do will ich äch aber beweise, dass geschrieben stäht: dass wo habend äh König, äh Käser, äh Zepter, äh Kron’. Aber wo haben wir denn unsern Käser? Das will ich äch och sage. Do drüben über de grose grause rote Meer. Und do wäre dreimall hunnerttausend Johr vergange sei, do werd’ äh groser Mann, mit Stiefle und Spore grad’ aus, sporenstrechs gegange komme übers grose grause rote Meer, und werd in der Hand habe äh Horn, und was denn vor äh Horn? Aeh Düt-Horn. Und wenn der werd ins Horn düte, do wären alle Jüdlich, die in hunnerttausend Johr gepöckert sind, die wären alle gegange komme ans grose grause rote Meer. No’, was sogt ehr dozu? Un was äh gros Wonner sei werd, das will ich äch och sage: Er werd geritte komme of äh grose schneeweise Schimmel; un was äh Wonner, wenn dreimal hunnert un neununneunzig tausend Jüdlich wäre of den Schimmel sitze, do wären se alle Platz habe, un wenn äh enziger Goye sich werd ach drof setze wolle, do werd äh kenen Platz finne. No, was sogt ehr dozu? Aber was noch ver äh groser Wonner sei werd, das wil1 ich äch och sage: Un wenn de Jüdlich alle wäre of de Schimmer sitze, do werd der Schimmel kertzegerode sein grose, grose Wätel ausstrecke, do wären de Goye denken: kennen wer nich of de Schimmel, setze wer uns of de Wätel. Un denn wäre sich alle of de Wätel nuf hocke. Un wenn se alle draf setzen, und der grose schneeweise Schimmel werd gegange komme dorchs grause rote Meer zorick, do werdd äh des Wätel falle lasse, und de Goye werde alle ronder falle ins grose grause rote Meer. No, was sogt ehr dozu?“


Mag diese Predigt ein Goethescher Scherz oder einer wirklich gehörten Predigt nachgebildet sein, immer lässt auch sie erkennen, dass der Verfasser am Judentum zweierlei deutlich erkannt hat: ihren Willen, ein eigenes Volk, nicht nur eine eigene Religionsgemeinde zu bleiben, und ihren Hass oder besser ihre Rachsucht gegen die Wirtsvölker, in deren Bereiche sie wohnen. Diese Erkenntnisse sind schon dem jungen Goethe deutlich gewesen, und auch der alte, hat sie bis ans Ende des Lebens in einer gänzlich geänderten Welt festgehalten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Goethe und die Juden