Die talmudische Medizin

Der Talmud ist eine Realencyclopädie, wie wir modern sagen würden, ein Sammelwerk der verschiedensten Lehrmeinungen aus sämtlichen Wissensgebieten. Schon am Ende des zweiten Jahrhunderts hatte Rabbi Jehuda die bis auf ihn mündlich überlieferten Äußerungen über gottesdienstliche, zeremonielle und rechtliche Verhältnisse schriftlich gesammelt; diese Sammlung ist die Mischnah (Lehre). Später wurden von anderen Zusätze an diese angefügt, und endlich kam es zu einem neuen Werke, das die Mischnah erläuterte und vervollständigte, sämtliche Fragen des Lebens in sich einzubegreifen strebte, demnach „Rechts- und Gesetzesfolgerungen, Vorbeugungsmittel zur Erhaltung der mosaischen Lehren, Einrichtungen und Sitten, Besprechungen über einzelne Gesetzesbestimmungen und Widersprüche in den Entscheidungen, sowie Erzählungen, Sprüche, Bemerkungen über Philosophie, Medizin, Naturkunde, Geographie“ zu seinem Inhalt hat. Diese beiden Werke, Mischnah und Gemara, wie das spätere Werk heißt, bilden vereinigt den Talmud. „Er ist gleichsam das Protokoll dessen, was die Rabbiner im Kreise ihrer Bekannten und Freunde gesagt und geübt, und dessen, was sie in der Hochschule gelehrt und getan haben“. (Hecht, Israëls Geschichte). Die Vollendung dieses Riesenwerkes fällt in die Mitte des fünften Jahrhunderts.

Der Talmud beschäftigt sich, wie ich vorausschicke, zunächst mit allgemeinen Fragen, welche die Heilkunde unter den Juden anging. Die Frage, ob es einem Juden erlaubt sei, gegen eine Krankheit, die doch, von Gott gesendet sei, menschliche Hilfe herbeizuziehen, wird bejaht, Die Frage, ob es gestattet sei, bei der Befolgung ärztlicher Vorschriften den Sabbath zu entweihen, wird diskutiert, und es werden in dieser Hinsicht lebensgefährliche und ungefährliche d. h. nicht mit Lebensgefahr verbundene Krankheiten unterschieden. Wo auch nur ein Zweifel über die Prognose, wie wir heute sagen würden, obwaltet, da soll Lebensgefahr angenommen werden, und, um diese abzuwenden, ist es nicht allein erlaubt, es ist sogar geboten, alle notwendige Arbeit ohne jede Rücksicht auf die Heiligung des Sabbaths zu verrichten, Es wird geradezu als Sünde bezeichnet, Bedenken dabei zu hegen oder die Bemühung um den Kranken Nichtjuden um des Sabbaths willen zu überlassen. War aber jede Lebensgefahr auszuschließen, so sollte die den Sabbath entweihende Arbeit Nichtjuden übertragen werden, während jede Arbeit, die am Sabbath nicht verboten war, für jeden Kranken dem Juden selbst oblag. Aber auch über den Zustand der damaligen Heilkunde und die vorherrschenden Ansichten in derselben finden wir im Talmud einen reichen Quell.


Ärzte, die im Talmud mit Namen genannt werden, sind die bereits erwähnten Hanina, Samuël, Raw und Gamliel III. Außer diesen werden noch einige andere genannt (Ben Achijah, der Essäer Benjamin, Kahana u. s. w.).

Die Anatomie und die Physiologie waren bekanntlich im ganzen Altertum die Stiefkinder der medizinischen Wissenschaften, weil die Zergliederung menschlicher Leichen verboten war; hat doch selbst Galen seine anatomischen Kenntnisse aus der Zergliederung von Affenleichen geschöpft! Kein Wunder also, dass die anatomischen Kenntnisse der älteren jüdischen Ärzte. deren Glaubenslehre sogar die Berührung eines toten Menschen untersagte, sehr dürftige waren. Am besten kannten die talmudischen Ärzte, wie vorher schon die Levitenärzte, die weiblichen Genitalien, weil die Beurteilung ihres Zustandes eben zur Erfüllung gewisser religiöser Vorschriften nötig war; doch waren auch diese Kenntnisse oberflächlich. Während z. B. schon der Arzt Samuel mit Recht behauptete, dass ein vorsichtig ausgeübter Beischlaf das Hymen nicht unbedingt verletzen müsse, glaubte man, dass der Uterus mit dem Darmkanal direkten Zusammenhang habe. Bekannt war den Talmudisten der Ursprung des Rückenmarks am Foramen magnum und sein Ende als Cauda equina. Die Wand des Oesophagus zerlegten sie in zwei Häute, den Lungen schrieben sie eine doppelte Umhüllung zu, und das Nierenfett ließen sie in einer besonderen Haut eingeschlossen sein.

Die Entwicklung des Fötus lassen die Talmudisten mit der Bildung des Kopfes beginnen, in der sechsten Woche sollen sich zugleich mit dem Munde, der Nase und den Augen die Genitalien bilden, erst in der siebenten die Extremitäten. Sein Geschlecht sei nach 3 — 3 1/2 Monaten zu erkennen, und zu dieser Zeit sollen auch die ersten Haare entstehen. Die weißen Teile (Knochen, Sehnen, Gehirn, Sklera bulbi) leiten die Talmudisten vom männlichen Samen ab, die roten aber (Haut, Muskeln, Haare und auch die Pupille) vom weiblichen. Die Dauer der Entwicklung, also die Zeit der Schwangerschaft, schätzten sie auf 270 — 273 Tage, demnach ungefähr richtig: auch geben sie an, das Kindchen läge zusammengefaltet im Uterus, wie eine Schriftrolle, die Händchen an den Schläfen, und es schwimme im Fruchtwasser, wie die Nuss im Wasser. Sie wissen, dass missgestaltete Früchte geboren werden und leiten deren Entstehung vom Umgang mit Dämonen oder Tieren ab: sie kennen so das Fehlen von Extremitäten, die Hypospadie, die Existenz des Hermaphroditismus. Welches Geschlecht gezeugt werde, sollte davon abhängen, wessen Samen beim Coitus zuerst in die Gebärmutter gelange.

Krankheiten wurden meist allgemein nach dem befallenen Organe benannt (Herzkrankheit, Darmkrankheit u. s. w.), zuweilen nach hervorstechenden Symptomen (Gelbsucht, Wassersucht u. s. w.) Von chirurgischen Krankheiten werden erwähnt: Femurluxation, Contusion des Schädels, Verletzungen des Rückenmarks und der Trachea, Rippenbrüche (diese galten als sehr gefährlich!). Man hatte Perforationen der Lunge oder der Speiseröhre oder des Magens oder des Gedärms beobachtet: man hatte Polypen des Mundes und Polypen der Nase, welche als Strafe für begangene Sünden angesehen wurden, bemerkt. Die Entstehung der Krankheiten wurde mannigfach erwogen. In erster Linie galten sie als Schickungen Gottes, oder es machte sich auch die Vorstellung vom Einflüsse der Dämonen geltend. Doch wird auch auf die Abhängigkeit einer Krankheit von der Konstitution oder auf ihre Entstehung durch äußere Schädlichkeiten, insbesondere tierische Gifte (pflanzliche und mineralische scheinen unbekannt gewesen zu sein), hingewiesen. Die faktischen ätiologischen Kenntnisse sind sehr gering; Gelbsucht führte man richtig auf Gallenretention zurück, während man die Wassersucht, die man in Anasarka und in Ascites trennte, auf mangelnde Urinentleerung zurückführte. Samuel sagte, die Ursache aller Krankheiten liege in der wechselnden Beschaffenheit der Luft, Hanina aber, in dem „Wechsel der Temperatur. Die Diagnose aber war natürlich eine rein empirische und , wie schon angedeutet, eine sehr ungenaue. Für die Prognose waren kritische Zeichen von Wichtigkeit; als solche galten Schweiß, Niesen, Pollutionen, Leibesöffnung und glückverheißende Träume. Den häufigsten Ausgang der meisten Krankheiten lehrte die Erfahrung abschätzen. Was endlich die Therapie anlangt, so wird man leicht begreifen, dass sich darin ein guter Teil Aber- und Wunderglauben breit machte; dazu zählte auch ein scheinbar sehr modernes Mittel, das Handauflegen, oder, wie unsre Bauern heute sagen, die magnetische Hand; Rabbi Jehuda soll z. B. auf diese Weise von einem langjährigen Zahnleiden befreit worden sein. Amulete von sehr komplizierter Zusammensetzung wurden z. B. gegen bestimmte Fiebererkrankungen verordnet. Wasser diente besonders zu Augenumschlägen, Wein wurde vielfach verwendet. Milch, und zwar frischgemolkene Ziegenmilch, galt als Heilmittel gegen Dyspnoe. Wie noch in den deutschen Arzneibüchern des Mittelalters 1), spielten im Talmud auch tierische Produkte eine Rolle als Heilmittel. Der von einem tollen Hunde Gebissene sollte das Netz desselben Hundes verzehren; ein 40 Tage alter Urin wurde in kleiner Menge gegen Genuss unreinen Wassers, in größerer gegen Skorpionenbisse empfohlen; der Gelbsüchtige sollte sich mit Heuschreckenbrühe waschen und dann in ein Bad gehen oder die Brühe von einem gekochten Ziegenkopfe trinken. Das vom Pannus ergriffene Auge wurde mit dem Blute des Auerhahns eingerieben, das an grauem Star erkrankte mit dem Blute der Fledermaus. Von pflanzlichen Produkten dienten Seifenwurz (Saponaria officinalis) gegen Granulations Wucherungen in Wunden, dieselbe in Verbindung mit persischen Datteln und Wachs gegen Gelbsucht; Olivenöl wurde gegen Rachenentzündung verordnet, Pfefferkörner in Wein dienten zur Heilung von Magenbeschwerden, Knoblauch zur Vermehrung des männlichen Samens und zur Abtötung von Eingeweidewürmern. Mohnsaft wird nur ein einziges Mal als gefährliches Mittel erwähnt; öfter aber als Heilmittel gegen Gift und gegen Zauber ein opiumhaltiger, siebzig Bestandteile zählender Theriak, der ja auch Galen bekannt gewesen ist. Aus dem Mineralreiche nützte Tonerde in Verbindung mit Crocus und Gummi gegen Hypermenstruation.

1) vgl. meine Arbeit: Ein Arzneibuch von 1678, Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 22/23.

Von Operationen endlich, deren im Talmud gedacht wird, sind außer der rituellen Circumcision der Aderlass, der gegen Plethora und Halsbräune verordnet wurde, und die Sectio caesarea, welche an toten Schwangeren zur Rettung der Frucht, wie auch bei den alten Griechen und den Indern, unternommen wurde, hervorzuheben. Berichtet wird auch von der Einrichtung von Frakturen und Luxationen, von der Spaltung einer den Mastdarm verschließenden Haut, von der Anwendung des Kreuzschnittes zur Eröffnung des Karbunkels und sogar von einem Einschnitt in die Bauchhaut zur Entfernung des übermäßig unter ihr abgelagerten Fetts. Operiert wurde mit beinernen Werkzeugen, während man Eisen für gefährlich hielt — ob die damaligen Wundärzte wohl schlechte Erfahrungen mit verrosteten Instrumenten gemacht hatten?

Ich schließe diesen kurzen Überblick über die talmudische Medizin mit dem Hinweis, wie hoch der Wert der Wissenschaft in diesem viel verkannten und wenig gekannten Werke geschätzt wurde. „Die Beschäftigung in der Wissenschaft ist mehr, als das Opfern“, heißt es an einer Stelle, und „Wissenschaft ist mehr, als Priestertum und Königswürde“ an einer anderen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte