Der Anteil der Juden an der arabischen Medizin

Nach der Vollendung des Talmuds folgte im Orient eine Zeit politischer Wirren. Das oströmische Kaiserreich hatte unter Justinianus I. seine letzte Glanzperiode beendet, als diesem Herrscher im Jahre 565 der schwache Justin II. gefolgt war, und, obwohl Kaiser Heraklius die vordringenden Asiaten, welche sich bereits in Ägypten, Syrien und Kleinasien festgesetzt hatten, noch einmal besiegte und zurücktrieb (627 bei Ninive), so geriet dennoch das morsche und sittenlose Reich immer tiefer in unabwendbaren Verfall. Und wie auf politischem Gebiete, so auf religiösem Gebiete — Entartung und Rückschritt! Weil, wie Dittmar sagt, das Christentum der Byzantiner selbst ausgeartet und darum nicht imstande war, die anderen morgenländischen Völker aus ihrer geistigen Erstarrung zu reißen, war der Boden für einen neuen Propheten, der den unglücklichen, unzufriedenen Völkern das Heil verhieß, geebnet. Abul Kasern Mohamed, geboren 571, wurde der Gründer des Islams, und mit der neuen Religion begann ein neues Reich im Osten aufzublühen, Arabien, dessen Herrscher nach Mohameds Tode als Khalifen d. h. Stellvertreter (nämlich des Propheten) die Geschicke des Landes lenkten und das Land selbst zu einer blühenden Pflegestätte der Wissenschaft machten. Die Zeitspanne, welche zwischen der talmudischen Epoche und dem Beginne des Glanzes Arabiens liegt, also etwa von der Mitte des fünften bis zur Mitte des siebenten Jahrhunderts, konnte unmöglich geeignet sein, die Wissenschaft, also auch die Medizin, zu fördern, die bis dahin im Orient gepflegt ward; im Abendlande fand sie keine Zufluchtsstätte, denn auch hier gärte es, auch hier wurde altes vernichtet und neues geschaffen. Und die jüdische Medizin insbesondere litt durch Glaubensverfolgungen; schon 404 und 419 hatte Honorius Ausnahmegesetze gegen die Juden erlassen, 415 inscenierte Bischof Cyrillus in Alexandrien eine Judenhetze, 493 schloss Theodosius die Juden von Ämtern und Würden aus, 520 suchte König Kobad von Persien die Juden zur Annahme der persischen Staatsreligion zu zwingen, und, als im Jahre 609 die Juden den Perserkönig im Kampfe gegen Byzanz unterstützt hatten, rächten sich die Christen durch Gefangennahme und Hinrichtung von zweitausend Juden. Alles dies sind Umstände, welche die jüdische Medizin mit aller Wissenschaft im Orient zwei Jahrhunderte verfallen lies. Wenn aber die Wissenschaft dahinsiecht, dann sprosst die Afterwissenschaft zu üppigem Leben auf. So wurde auch die Medizin von der Höhe der Wissenschaft zur reinen Empirie hinabgezogen und umgab sich mit Mystik. Die Kabalah wurde, um Carmolys Bild zu brauchen, inmitten dieser Finsternis die Königin der Wissenschaften. Diese Lehre war ein Gemisch von Pythagoräertum und Piatos Lehren mit Zoroasters Theosophie und jüdischer Theologie, wurde aber schließlich so reich an eigenen Ideen, dass ihr Ursprung sich mehr und mehr verwischte. Von Gott, lehrte die Kabalah, gingen zehn Engel aus, die eine erste Welt erschufen. Außer dieser gab es drei Welten, die aus nichts entstanden waren. Unter einander sollten diese vier Welten so zusammenhängen, dass, was auf einer Welt niederer Ordnung geschah, bereits in jener höherer Ordnung sich ereignet hatte. Daraus folgte für die kabalistischen Ärzte, dass, wer eine Krankheit auf unserer Welt heilen wollte, sich in Beziehung zu den Welten höherer Ordnung setzen musste — denn, ehe hier etwas zur Heilung Zweckdienliches eintreten konnte, musste eben dasselbe bereits dort geschehen sein! Natürlich schützten die Kabalisten vor, dass nur ihnen, den Kennern der Kabalah, der vermittelnde Verkehr mit der höheren Welt gegeben sei; ja, es mag wohl einer den andern nicht würdig genug gehalten haben r mit den überirdischen Wesen zu verkehren. Jedenfalls dünkte den kabalistischen Ärzten der Verkehr mit dem Himmel wesentlicher, als irdisches Wissen, und es erhellt daraus, dass eben von einer Medizinischen Wissenschaft keine Rede mehr war.

Da begannen endlich, wie ich erwähnte, die arabischen Khalifen Macht und Ruhm zu gewinnen und schufen einen neuen, herrlichen Kulturstaat. „Sollte das heilige Feuer der Wissenschaft nicht ganz verglimmen“, sagt Hyrtl treffend, „musste es von einem andern Fleck der Erde Nahrung erhalten. Sie zu bringen, waren die Araber berufen, welche von einem rohen, unbedeutenden und fast unbekannten Beduinenvolk sich durch die Macht religiöser Begeisterung nicht bloß in kurzer Zeit zu Eroberern der halben damals bekannten Welt emporschwangen, sondern auch eine Kulturstufe erreichten, welche sie weit über die Völker des Abendlandes erhob. In den von ihnen eroberten Ländern, in Syrien, Palästina und Ägypten, wurden sie mit den griechischen Geisteswerken bekannt. Ihre angeborene Achtung vor der Wissenschaft, besonders vor der Medizin, bestimmte sie, durch Übersetzungen sich dieselbe anzueignen. Ihre edlen und aufgeklärten Herrscher, zahlreicher, als sie je in einem christlichen Staate gefunden wurden, waren Freunde der Wissenschaften und Gönner der Gelehrten. Sie förderten die geistige Ausbildung ihres begabten und entwicklungsfähigen Volkes mit aller Macht, obgleich nur in jenen Gebieten des Wissens, welche, wie Naturlehre, Geschichte, Mathematik, Astronomie und Medizin, mit den Satzungen des Koran nie in Konflikt geraten konnten. Barbaren, welche am Zerstören wilde Freude hatten, wie die Hunnen, Goten und Vandalen, waren die Araber nie. Die Alexandrinische Bibliothek haben sie nicht in Gänze verbrannt, wie allgemein gesagt wird. Die Medizinischen und naturhistorischen Handschriften schieden sie aus und vernichteten blos die dem Koran widerstreitenden religiösen und philosophischen Werke 2).“ War es nicht natürlich, dass die Juden, die Reste des ältesten Kulturvolkes, im Arabien jener Zeit eine neue Heimat erblickten, dass sie dort mit neuem Eifer sich der jungen Wissenschaft, deren Verehrung ihr Erbteil von den Ahnen war, und ganz besonders der Medizin, für welche die Vorfahren seit ältester Zeit ein besonderes Interesse bewiesen hatten, ergaben?


2) Hyrtl, Das Arabische und Hebräische in der Anatomie, Wien 1879; Einleitung.

In der Tat, sobald im achten und neunten Jahrhunderte zu Bagdad, zu Kufa und zu Basra Hochschulen der Wissenschaft eröffnet waren, sehen wir die Juden lebhaften und rühmlichen Anteil an ihrer Entwicklung und an ihrem Glänze nehmen. Schon unter dem zweiten Khalifen nach Mohamed, Omar, welcher 634 zur Regierung kam, hatte sich als Arzt Abu Hafsa Jezid berühmt gemacht, und, als die Ommaijaden mit Moawijah I. zur Herrschaft gelangten, wurde ein Jude, Maser Djewaih Ebn Djaldjal aus Basra, dessen Leibarzt. Er war es ganz besonders, der seinen Herrn anspornte, die fremdsprachigen Werke übersetzen zu lassen, und den Löwenanteil an diesen Übersetzungen, die vorwiegend griechische Werke naturwissenschaftlichen Inhalts betrafen, in das Arabische trug Maser Djewaihs Schüler, Khalid, ein Enkel des Herrschers Moawijah, davon, während er selbst 683 die Pandekten eines alexandrinischen Arztes Ahron in das Syrische übersetzt hat, die nicht auf unsere Zeit überkommen sind. Doch andere Araber citieren diese Pandekten, und wir wissen, dass z. B. Pocken, Magenentzündung, Ikterus, Hernien, Epilepsie, die Kennzeichen des Todes darin besprochen werden. Zur selben Zeit errichteten jüdische Ärzte in Gemeinschaft mit den christlichen Nestorianern eine medizinische Hochschule zu Djondisabour in Khouzistan, zu der zahlreiche Schüler strömten. In einem Hospital neben dieser Lehranstalt empfingen die Studenten klinischen Unterricht.

Die Nachfolger Moawijahs hatten größere Freude an kriegerischen Taten, als an friedlichen Werken, und erst, als die grausamen und habsüchtigen Herrscher entthront waren und das Reich in die Hände der Abbassiden gefallen war, begann die eigentliche Blüte Arabiens. Unter dem zweiten Abbassiden, Abu Giaffar Almanzor, der durch ärztliche Kunst von einer schweren Krankheit gerettet worden war, fanden Astronomie, Medizin und Philosophie in Bagdad, das Almanzor zur Feier des nach blutigen Kriegen zurückgekehrten Friedens gegründet hatte, eine liebevolle Pflegestätte; man übersetzte und studierte Aristoteles, Galen und Ptolemäus. Aus der Hochschule von Bagdad ging Isaak ben Amran hervor, der Leibarzt des Emirs Zyadet-Allah von Afrika wurde, dort aber auf den hartnäckigsten Widerstand des christlichen Leibarztes stieß. Iaaak ben Amran, der ein Buch über Behandlung der Vergiftungen schrieb, starb 799.

Der glanzvollste Herrscher der Abbassiden, der selbst mit dem Abendlande (Karl dem Großen) diplomatischen Verkehr unterhielt und Gesandtschaften austauschte, war Almanzors Nachfolger, Harun al Raschid. Er gründete die Hochschule von Bagdad als Zweig der alten Stammschule von Djondisabour, und, wie diese von Juden mitbegründet war, zog er auch an die Tochteranstalt von Bagdad neben christlichen Ärzten jüdische. Er besoldete diese Lehrer und trug ihnen auf, die Kandidaten. welche die Praxis aufzunehmen gedachten, zu prüfen. Unter den jüdischen Lehrern der Medizin an dieser Hochschule von Bagdad wird Josua ben Nun als hochberühmt genannt zum Beginn des neunten Jahrhunderts ; er ist beteiligt an den besten Übersetzungen dieser Epoche und machte durch sie seinen Namen in der ganzen wissenschaftlichen Welt von damals bekannt. Sein Unterricht war sehr begehrt, und die Zahl seiner Schüler war eine große; unter diesen war vielleicht der gefeierte Arzt Abu Jussuf Jakob ben Isaak Kendi auch ein Israelit. Josuas Zeitgenosse war Sahel, Zein al Taberi zubenannt, ein genialer Kopf, nicht nur in Medizin, sondern auch in Arithmetik, Geometrie und Astronomie wohl bewandert. Er übersetzte nicht nur Medizinische und astronomische Bücher aus dem Hebräischen in das Syrische und in das Arabische, sondern schrieb auch Zusätze zu seinen Übersetzungen. Er soll auch astronomische Instrumente erfunden haben: ja, man erzählt, er habe auf freiem Platze unterrichten müssen, weil sein Lehrraum die Schüler nicht alle aufnehmen konnte, — auf einem Platze, der nach ihm Sahelplatz genannt worden sei. Jedenfalls gehörte Meschallah zu seinen Schülern, welcher als Astronom sich noch im vierzehnten Jahrhunderte selbst in Europa eines berühmten Namens erfreute.

Bereits unter dem Sczepter Mamouns lebte Saheis Sohn als angesehener Arzt, Aboul Hassan, welcher später zum Islam übertrat und Leibarzt der Khalifen Mostasem und Montawakkel wurde. Mamoun war der Gründer der Schulen von Basra und Samarkand; unter ihm wurden die Werke des Aristoteles und zum Teil die Piatos übersetzt, und unter ihm breitete sich die jüdisch-arabische Wissenschaft weiter aus nach Alexandria, wo noch einmal die Zeiten der Ptolemäer wiederkehrten, nach Fez und Marokko, nach Sizilien und der Provence, vor allem aber nach Spanien, wo bald die Schulen von Cordova, das 756 der letzte Sprössling der Ommaijaden als arabisches Emirat gegründet hatte, von Sevilla, Toledo, Saragossa und Granada den Ruhm und die wissenschaftliehen Überlieferungen der Schulen von Djondisabour, Bagdad, Basra u. s. w. fortpflanzten, so dass in kurzer Zeit auf spanischem Boden 60 große Bibliotheken vorhanden waren. Aber der Brennpunkt der Medizinischen Wissenschaft war noch Arabien selbst, und die jüdischen Ärzte standen in so hohem Ruhme, dass sich unter dem Khalifen Montawakkel der Neid gegen sie regte. Daher befahl der Khalif im Jahre 853, dass die jüdischen Studenten der Medizin nur in syrischer oder hebräischer Sprache, nicht aber in arabischer unterrichtet würden. In diese Zeit fällt auch die Blüte der jüdisch-Medizinischen Hochschule von Kairouan auf afrikanischem Boden; sie entsandte drei Jahrhunderte lang glänzende Vertreter der Wissenschaft. Ihre Hauptbedeutung hatte sie freilich für die jüdische Theologie; doch wurde die Medizin durchaus nicht vernachlässigt. Zeugnis dafür ist ihr Schüler Isaak ben Amran, der jüngere, vielleicht ein Enkel des oben erwähnten Isaak ben Amran, der ja von Bagdad in die Hauptstadt der afrikanischen Berberei gekommen war. Er war Leibarzt des letzten Herrschers von Afrika aus dem Hause der Aglabiten, des Emirs Zijadeth Allah III. Man rühmte seine Heilerfolge, und die wissenschaftliche Welt schätzte seine Bücher; namentlich seine Medizinischen Briefe an den Fürsten Said ben Naufel und an den Minister Abbas werden von späteren arabischen und jüdischen Ärzten gern zitiert. Zahlreiche Schüler sammelten sich um den jüngeren Isaak ben Amran; der bedeutendste von allen ist der etwa 832 in Ägypten geborene Isaak ben Soliman, noch bekannter als Isaak el Israili, unter welchem Namen ihn noch in der Gegenwart der Altmeister Hyrtl 3) mit Achtung erwähnt und ihn „den gelehrten Sohn Israels“ nennt. Anfänglich scheint er sich vorzüglich als Augenarzt bewährt zu haben; später lebte er in Marokko als Leibarzt des Sultans Abu Mohamed el Mahdi und starb als hundertjähriger Greis, der wegen seiner Gelehrsamkeit gleich wie wegen seines unbefleckten Charakters und seiner Uneigennützigkeit allgemein verehrt worden war. Man erzählt, er sei unverheiratet geblieben und habe, als man ihn nach der Ursache gefragt, geantwortet: „Ich habe vier Bücher geschrieben, durch welche mein Andenken besser, als durch Nachkommen, erhalten bleiben wird.“ Und Israili behielt Recht — denn seine Gesamtwerke wurden noch nach sechshundert Jahren gedruckt als Opera Isaaci Judaei, Leyden 1515. Unter diesen Büchern steht obenan die Abhandlung: über Fieber und die Schrift über einfache Heilmittel und Diätetik, um welcher willen ihn Sprengel 4), der bedeutende Medizinische Historiker, den besten diätetischen Schriftsteller unter den Arabern nennt. Der letzteren Schrift schließt sich die über Nähr- und Heilmittel an, deren hebräische Übersetzung (Israili selbst hat arabisch geschrieben) als Sefer hamesaadim bekannt ist. Weitere Abhandlungen behandeln die Lehre vom Urin, dessen hebräische Übersetzung sich im Manuskript erhalten hat, die Lehre von den Elementen, die Melancholie, den Theriak, die Wassersucht u. s. w. ; auch eine Medizinische Propädeutik, „Einführung in die Heilkunde“, nennt ihn als Verfasser. Der oben erwähnte lateinische Übersetzer nennt Israili medicorum monarca. Unter den Schülern dieses hervorragenden Mannes erwähne ich Dunasch ben Tarnim, der ihm in seiner Leibarztstelle folgte und ihn etwa dreißig Jahre überlebte. Die Behauptung der Araber, er sei zum Islam übergetreten, ist unerwiesen. Jedenfalls stand er mit berühmten jüdischen Zeitgenossen in regem Verkehr und schrieb außer Medizinischen Abhandlungen auch eine hebräische Grammatik.

3) Hyrtl, 1. c. pag. 127.

4) Geschichte der Arzneikunde. 2. Band.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte