Die Zeit bis zur Vollendung des Talmuds

In den ersten Jahrhunderten der heutigen Zeitrechnung fand die Heilkunde unter den Juden trotz des Falls Jerusalems durch das Heer des Kaisers Titus im Jahre 70 und der seit damals datierenden tatsächlichen „Zerstreuung der Kinder Israels in alle Enden der Welt“ treue Pfleger. Unmittelbar nach diesem bedeutsamen Ereignis glänzten unter den Israeliten als Ärzte Akiba und Ismael, welche bei Erkrankung eines Körperteils ihr Augenmerk auf den ganzen Körper richteten, weil sie meinten, die Zerstörung eines Teils müsse die Vernichtung des Ganzen bedingen, ähnlich, wie der Einsturz einer Mauer das ganze Gebäude zerstöre. Celsus, der berühmte römische Arzt und Schriftsteller, welcher 45 nach Chr. Geb. starb, hatte bereits der jüdischen Ärzte Erwähnung getan und führt in der Liste seiner Medikamente, im fünften Bande seines Werks, zwei von jüdischen Ärzten gebrauchte Medikamente an.

Im dritten Jahrhundert zeichneten sich unter den jüdischen Ärzten Hanina und die beiden unzertrennlichen Freunde Samuel und Raw aus.


Hanina, der um das Jahr 200 lebte, wird vom Talmud als einer der bedeutendsten Ärzte seiner Zeit erwähnt. Welche edle Auffassung er von seinem Berufe hatte, geht daraus hervor, dass er die Palme als Symbol der echten Heilkunde bezeichnete; einen Palmenzweig zeigte auch sein Petschaft.

Bekannt unter dem Namen Jarchinai , d. h. Astronom wurde durch seine bedeutenden Kenntnisse in der Sternenwelt der Arzt Samuel, der anfangs in Palästina, später in Mesopotamien seinem Berufe lebte. Hier machte er seinen Wohnsitz Hardith durch seine wunderbaren Heilerfolge weit berühmt. Er galt als guter Geburtshelfer und als geschickter Augenarzt. Unter seinem Namen wurde ein Heilmittel, mit dem er den berühmten Rabbi Jehuda geheilt hatte, viel verwendet. (Samuëls Kollyrium). Seine Medizinischen Grundsätze werden von den Talmudisten mehrfach angeführt.

Samuëls Zeitgenosse war Raw, der besonders durch den Umstand interessant ist, dass er sich mit der damals verpönten Anatomie beschäftigte. Er wendete, wie der Talmud erzählt, große Summen Geldes an, um Leichen anzukaufen und an ihnen anatomische Studien zu machen. Wie große Missachtung ihm diese Beschäftigung eintrug, wird durch die Erzählung gekennzeichnet, dass man nach seinem Tode (243) sich der Erde seines Grabhügels als sympathetischen Heilmittels gegen das Fieber bediente, sein Grab also entweihte und zerstörte.

Unter den zahlreichen jüdischen Ärzten des vierten Jahrhunderts ragt Abba Oumna hervor. Man rühmte nicht nur seine Erfahrung in der Heilkunde, sondern er war auch ein Muster von Menschenfreundlichkeit und Frömmigkeit. Ihm galt es gleich , ob er arme oder reiche Kranke behandelte: gegen jeden hatte er dasselbe Wohlwollen. Es wird erzählt, dass er Arme nicht nur unentgeltlich behandelte, sondern sie sogar beschenkte, besonders zur Zeit der Rekonvalescenz; „kauft Euch“ pflegte er zu sagen, wenn er den armen Genesenden Geld gab, „dafür Fleisch und Brot — das sind die besten Heilmittel, die Euch jetzt noch notwendig sind!“ Wer ihm aber klingenden Lohn entrichten wollte, musste das Geld in eine Büchse, die im Vorraum seines Hauses stand, hineinlegen.

Dem Ende dieser Epoche gehört Rabbi Gamliel III., der letzte Sprössling des bekannten Gelehrten Hillel, an, der bis in die Mitte des fünften Jahrhunderts lebte. Er soll ein ausgezeichnetes Mittel gegen Milzkrankheiten erfunden haben; wenigstens berichtet sein christlicher Zeitgenosse Marcellus Empiricus, der Leibarzt des Kaisers Theodosius, in seinem Buche „De medicamentis empiricis“ „ad spien em remedium singulare, quod de experimentis Gamlielus patriarchus proxime ostendit.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der jüdischen Ärzte